Wir bringen die Bibel ins Gespräch

«10 Jahre Bibelpastoral in der Schweiz» – Rückblick und Ausblick von Dieter Bauer und Detlef Hecking   

SKZ 37/2012

Dieter Bauer: Als ich vor zehn Jahren in die Schweiz kam und die Leitung der Bibelpastoralen Arbeitsstelle (BPA) des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks (SKB) übernahm, war mir diese neue Aufgabe nicht ganz fremd. Bereits im Auslandsstudium an der Theologischen Hochschule Chur hatte ich einen ersten Einblick in die spezielle Situation der Kirche in der Schweiz erhalten. Und als ich dann 1981 beim Katholischen Bibelwerk Stuttgart begann, war der Kontakt mit den Schweizer Kolleginnen und Kollegen selbstverständlich und stets bereichernd.

Kompetenzzentrum für Bibelarbeit

Vor allem durfte ich feststellen, dass die 1973 als eine Frucht des Konzils gegründete BPA eine Vorreiterrolle im deutschsprachigen Raum einnahm, was die Entwicklung von Methoden der Bibelarbeit anging. Dazu gehörte auch die Selbstverständlichkeit, mit der diese Bibelarbeit ökumenisch konzipiert und angeboten wurde. Als ich 2002 meine Stelle antrat, stand das «Jahr der Bibel 2003» in der Schweiz an. Was mir als Frucht dieses «Jahres der Bibel» vor allem in Erinnerung bleibt, ist das unglaublich grosse Echo, welches die Bibel in den katholischen Pfarreien fand. Fast schien es, als hätten alle nur darauf gewartet. Und es gab kaum eine Pfarrei in der Schweiz, die nicht auf dieses «Jahr der Bibel» eingestiegen wäre. 2003/2004 konnten wir auch nochmals einen Jahreskurs «Biblische Kurs- und Bildungsarbeit leiten» durchführen. Dieser gemeinsam vom SKB und der Hochschule Luzern zertifizierte Kurs qualifizierte die Absolventinnen und Absolventen, eigene biblische Kurs- und Bildungsangebote in den Pfarreien durchzuführen.

Neue Herausforderungen

Was allerdings zu Beginn des neuen Jahrhunderts zunehmend sicht- und spürbar wurde, war, dass es in vielerlei Hinsicht nicht so weitergehen konnte wie bisher. Finanziell gingen die «fetten Jahre» für die Kirche dem Ende entgegen, was vor allem die überregional arbeitenden Fachstellen zu spüren bekamen. Auch die BPA musste in diesen zehn Jahren zunehmend ums Überleben kämpfen. Doch auch inhaltlich hatte sich in der Bibelarbeit vieles verändert. Die klassischen «Bildungsangebote» – Vorträge, biblische Seminare, Bibelabende – waren längst nicht mehr so gefragt wie in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Konzil. Und das lag nicht etwa daran, dass die damalige «Aufklärungsarbeit» inzwischen geleistet war. Im Hinblick auf die biblischen Grundkenntnisse der Gläubigen, denen ich in diesen 30 Jahren meiner Tätigkeit begegnet bin, gab es keinerlei Fortschritt. Und bis heute begegne ich der empörten Reaktion: «Warum hat man uns das nicht schon früher gesagt?» Hier ist nicht der Ort, um über Schuld und Versagen unserer kirchlichen Bildungsanstrengungen zu spekulieren. Und wer in meiner Position die schon klassische Karte einer «Amtskirche» ausspielen wollte, welche die Gläubigen eben immer noch lieber in Unwissenheit hält, müsste sich schon an die eigene Nase fassen und feststellen, dass auch die durchaus beeindruckende Arbeit der Bibelwerke seit dem Konzil an diesem Umstand nichts ändern konnte. Was also tun?

Drei Dinge braucht es

Im Team der BPA und vor allem im Gespräch mit den vielen biblisch Engagierten im SKB wurden für uns sehr bald drei Dinge klar: – Das Erste, was wir in Zukunft noch stärker beherzigen wollten, war: «Bei uns selber anfangen.» Was so einfach klingt, ist durchaus nicht so selbstverständlich. Gerade in der Kirche sind wir nur allzu oft versucht, bei anderen etwas bewegen zu wollen, ohne unsere eigenen Defizite zu sehen (vgl. Mt 7,3). Wie will ich z. B. biblisch predigen, wenn ich selber nicht ganz und gar aus der Schrift lebe? – Das Zweite klingt genau so einfach und selbstverständlich und ist es genausowenig: «Aus den Quellen leben.» Das mag für einen Bibliker selbstverständlich klingen. Und doch bleibt es auch mir als einem Menschen, der sich seit über dreissig Jahren täglich mit der biblischen Botschaft auseinandersetzt, nicht erspart, mich immer wieder selber meiner Wurzeln des Glaubens zu vergewissern. Und mir selber ehrlich Rechenschaft darüber abzulegen, was mich wirklich trägt – und was nicht (mehr). – Und das Dritte: «Verbündete suchen.» Nachfolge Jesu, und um die geht es ja letztlich in unserer Kirche, ist eine Gemeinschaftsangelegenheit. Also brauche ich Freundinnen und Freunde auf diesem Weg. Für mich persönlich hiess das: wirklich mit allen in dieser Kirche reden, Vertrauen herstellen und einander auf Augenhöhe begegnen. Was sich auf diese Art und Weise erreichen liess, hat auch mich selbst immer wieder erstaunt.

Biblische Beseelung der gesamten Pastoral

Herausgekommen bei diesen Überlegungen ist nun ein «Projekt zur biblischen Beseelung der Pastoral». Wir sind überzeugt davon, dass es Zukunft hat, wenn wir gemeinsam: … nach unseren Wurzeln graben; … mit anderen zu den gemeinsamen Quellen gehen; … unser aller tägliches Tun mit den biblischen Menschen und Texten ins Gespräch bringen. Bereits das Pilotprojekt in Therwil/Biel-Benken1 hat gezeigt, dass von einer oft beklagten «Verdunstung des Glaubens» keine Rede sein kann. Es gibt in unseren Gemeinden eine grosse Sehnsucht nach Gesprächspartnerinnen und -partnern auf der gemeinsamen Suche nach dem Lebenssinn. Der Schatz der Heiligen Schriften ist noch längst nicht gehoben. Und wir sind überzeugt davon, dass Menschen, die ermächtigt werden, in diesen Raum des Glaubens einzutreten, nicht nur sich selbst und ihre Umgebung, sondern auch Kirche und Gesellschaft verändern können – hin zu einer menschenwürdigeren Welt.

 

Ausblick

Detlef Hecking: Als neuer Stellenleiter, der seit 1. August nicht nur Dieter Bauers Nachfolger ist, sondern kurzzeitig auch schon sein Vorgänger war,2 möchte ich im Folgenden drei Aspekte skizzieren, die mir – über das bereits Gesagte hinaus – an der Bibel am Herzen liegen und die ich in die weitere Arbeit der BPA einbringen möchte.

Die Bibel – ein Erfahrungsraum des Lebens und Glaubens

Wie kostbar ist es, wenn Menschen nicht nur ihre Lebenserfahrungen, sondern sogar ihre Hoffnungen, ihren Glauben nicht verschweigen und miteinander teilen! Anders formuliert: Wann haben Sie zum letzten Mal von tiefen, persönlich berührenden Erlebnissen erzählt (oder jemand anderem dabei zugehört), von Ihrer Sehnsucht, dieser eine Tag hätte Ihnen besser gelingen mögen oder jene beglückende Erfahrung wollten Sie noch so oft wie möglich machen? In der Bibel begegnen uns solche Erzählungen auf jeder Seite. Manchmal merken wir das nicht so leicht, weil wir nicht mit so viel prallem, konkretem Leben in den biblischen Schriften rechnen. Je konkreter wir uns aber mit unseren eigenen Erfahrungen von Liebe und Hass, Kampf und Versöhnung, Gelingen und Scheitern auf die biblischen Erzählungen einlassen, je genauer und «erfahrungsgesättigter » wir die Texte also lesen, desto lebendiger werden die biblischen Texte auch uns selber «lesen», unser Leben prägen und ihm Ausrichtung verleihen. Und dabei geht es beileibe nicht nur um innere Prozesse oder Gefühle. Liebe bedeutet in der Bibel auch Liebe zur Welt, zu den Menschen und Gottes Gerechtigkeit, und Hass bedeutet zugleich auch Widerstand gegen Unrecht, Gewalt, Marginalisierung, Armut. Eine ungeheure Stärke der Bibel ist, dass sie tiefe Gefühle und extreme Verhaltensweisen nicht verschweigt, sondern beim Namen nennt und uns so zur Auseinandersetzung damit herausfordert. Das kann erleuchtend, mitunter aber auch verstörend sein. Lehrreich ist es auf alle Fälle. Denn es hilft uns, aufrichtig mit uns selber, unseren Mitmenschen und mit Gott umzugehen. In «guten Zeiten» kann uns das zu wahren Höhenflügen anleiten. Und in «schlechten Zeiten» können uns biblische Bilder und Geschichten dabei helfen, unsere Mitmenschen, unseren Glauben und auch Gott nicht kleiner und schlechter zu machen, als sie sind. Dann sind die biblischen Texte so etwas wie ein zu gross geratener Mantel, den wir zwar im Moment nicht ausfüllen, der uns aber trotzdem wärmt, bis wir wieder besser auf eigenen Füssen stehen und einen Schritt in unserem Leben weitergehen können.

Die Bibel – ein vielstimmiges Gespräch

Kurt Marti, der grosse Berner Dichter und Theologe, hat die Bibel treffend als «Hundert-Stimmen- Strom» und «geselligstes [Buch] der Weltliteratur» bezeichnet. «Dissonanzen? Jede Menge. Widersprüche? Noch und noch.»3 Wer in der Bibel Uniformität und Eindeutigkeit vermutet, kann sich vor seinem/ ihrem inneren Auge die Höhepunkte mystisch-theologischer Produktivität aus den Jahren 800 bis 2012 n. Chr. vorbeiziehen lassen. So unterschiedlich die Fragen, Hoffnungen und Nöte sowie die ökonomischen, sozialen und historischen Kontexte theologisch reflektierten Glaubens in diesem Zeitraum waren, so vielfältig waren sie es auch in der langen Entstehungszeit biblischer Schriften des Ersten und des Neuen Testaments zwischen, grob gerechnet, 1000 v. Chr. und 125 n. Chr. Und ebenso vielstimmig und vielschichtig sind damit auch die jeweiligen Antworten. Bruchlose, widerspruchsfreie Entwicklungslinien sind in der theologischen Tradition genauso wie in den biblischen Schriften selbst nur um den Preis gröbster Verallgemeinerungen und Amputationen fruchtbarster Triebe zu haben. Deshalb war die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. gegen Marcion errungene Entscheidung der frühen Kirche zum christlichen, insbesondere neutestamentlichen Kanon ein unüberschätzbarer Meilenstein kirchlicher Identitätsfindung und ein bewusstes Bekenntnis zu theologischer Vielfalt und Pluralität: vier Evangelien, nicht nur eines, und damit auch eine Vielfalt theologischer Entwürfe, Jesus- und Christusbilder, Gemeindemodelle … Wer sich auf dieses Vermächtnis der frühen Kirche und die damit verbundene biblische Vielstimmigkeit wirklich einlässt und nicht seinerseits einen «Kanon im Kanon» bildet, wird nicht nur durch ein ungemein facettenreiches Bild geistgewirkten Lebens und Glaubens, Suchens, Fragens und Findens beschenkt, sondern geht zugleich durch ein «Kommunikationstraining» par excellence. Er/sie kann dabei nämlich lernen, Vielstimmigkeit sogar in existentiellsten Fragen nicht nur zähneknirschend auszuhalten, sondern unterschiedliche Fragen und Antworten des Glaubens in ein konstruktives Gespräch miteinander zu bringen. Was mehr könnten wir uns für unsere Kirche heute wünschen?

Die Bibel – eine Ermutigung zur Selbstkritik

Immer wieder fasziniert mich an der Bibel, wie systematisch biblische Texte ihren jeweiligen Glaubensgemeinschaften einen Spiegel vorhalten und zu einem selbstkritischen Blick motivieren. Nehmen wir beispielsweise die Jünger Jesu im Markusevangelium: Dreimal, so erzählt Markus, kündigt Jesus auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem sein Leiden an. Jedes Mal reagieren seine engsten Jünger auf eine Art, die man bestenfalls als unangemessen bezeichnen kann: Beim ersten Mal macht Petrus Jesus ganz offen schwere Vorwürfe (Mk 8,31–33). Beim zweiten Mal sprechen die Jünger darüber, wer von ihnen der Grösste sei (Mk 9,30–37), und beim dritten Mal bitten Jakobus und Johannes Jesus, er möge ihnen doch bitte die besten Plätze in seinem Reich zusprechen (Mk 10,32–45). Das Leben und die Botschaft Jesu, das scheint Markus damit sagen zu wollen, ist zwar durch äussere Gegner gefährdet. Mindestens ebenso gefährlich ist aber die innere Haltung jener, die sich Jesus besonders nahe fühlen. Ein ähnlich selbstkritischer Blick auf die eigene Glaubensgemeinschaft findet sich auch an zahlreichen Stellen im Ersten Testament. Im berühmten Text von der eschatologischen Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,1–5) z. B. entfaltet der Prophet die Zukunftsvision, dass sich die nichtjüdischen Völker schon begeistert auf den Weg zum Jerusalemer Tempel und seinem Gott gemacht machen und Pflugscharen und Winzermesser aus ihren Waffen herstellen (2,2–4). Erst anschliessend (2,5) folgt die Einladung an Israel, nun auch seinerseits die eigenen Wege zu «gehen im Licht des Ewigen»: Ob Israel wohl nachvollzieht, was «die Völker» bereits vormachen – jedenfalls in der eschatologischen Vision des Propheten? Solche Bereitschaft zu Selbstkritik in biblischen Texten beeindruckt mich tief, denn mir scheint, sie zeuge von starker Identität und Glaubensmut. Und ich frage mich, welches Zeugnis es unserer Kirche heute ausstellt, wenn wir selbstkritische Stimmen nur schwer ertragen, anstatt in achtungsvollem Hören auf die jeweils anderen Anliegen nach gemeinsam verantworteten Lösungen zu suchen.

Werkstattbibel: Starttag am 13. September 2012 in Zürich

Diese und viele weitere Aspekte werden auch in unserem nächsten grösseren Projekt eine Rolle spielen – der Entwicklung von Bibelarbeiten mit Mariavon- Magdala-Texten in Kirchenräumen, das wir in langjährig bewährter ökumenischer Partnerschaft mit wtb Deutschschweizer Projekte Erwachsenenbildung der reformierten Kirchen durchführen.4 In diesem Projekt vertiefen wir unsere Beschäftigung mit Maria von Magdala, der Patronin der Bibelpastoral, und verknüpfen dies mit leibhaftigen Erfahrungen im Kirchenraum, wie wir sie in vielfältigen ganzheitlichen Bibelarbeitsformen, u. a. Bibliodrama, schon länger praktizieren. Interessierte Mitarbeitende sind herzlich willkommen! Allen, die die Bibelpastorale Arbeitsstelle, das Schweizerische Katholische Bibelwerk und unsere Projekte ideell und durch Mitgliedschaft mittragen oder auch durch dringend benötigte finanzielle Solidarität unterstützen, danke ich von Herzen. Ich freue mich auf spannende Begegnungen und fruchtbare Zusammenarbeit.

Detlef Hecking

2023 | 2021 | 2018 | 2017 | 2016 | 2015 | 2014 | 2013 | 2012 | 2011 | 2010 | 2009 | 2008 | 2007 | 2005 | 2004 | 2003