Wir beraten

Für jedes Volk ein Zeichen – nicht ein Zeichen für alle Völker   

Katharina Schmocker zur Lesung in der Heiligen Nacht: Tit 2,11–14, SKZ 39/2012

 

Die Heilige Nacht, wie sie das Lukasevangelium schildert, ist geprägt von Erscheinungen: Ein Kind bricht aus dem schützenden Leib der Mutter in die lebensgefährliche Wirklichkeit; Licht zerreisst die bergende Dunkelheit der Nacht; Engel erscheinen den Hirten auf dem Feld und versetzen sie in Angst und Schrecken; ein neuer Stern geht auf am Himmel und veranlasst drei Weise aus verschiedenen Regionen, spontan aufzubrechen zu einer langen, beschwerlichen Reise ins Ungewisse. Obwohl die in einer Nacht gebündelt auftretenden Ereignisse für die Betroffenen durchaus ambivalent sind, wurden sie zum Beginn der guten Botschaft, des Euangelions, denn sie waren und sind für die Menschen, die sie wahrnehmen, von Bedeutung. M ittlerweile werden am Tag des Heiligen Abends hastig die letzten Weihnachtseinkäufe getätigt, obwohl die «Weihnachtszeit » lange vor dem ersten Advent in den Geschäften und auf den Strassen durch Warenangebot, Lichterketten und anderen Krimskrams in Erscheinung tritt und die Geschenke noch weit ins neue Jahr umgetauscht werden können. Die «Weihnachtszeit » wurde von der einen bedeutungsvollen Nacht auf Monate ausgedehnt – und jeglichen heiligen Sinnes entleert.

Tit 2,11–14 im jüdischen Kontext

Obwohl sich der Verfasser des Briefes an Titus offenbar schwertut mit den Glaubensgeschwistern, die dem Judentum entstammen (vgl. Tit 1,10), schreiben seine theologischen Ansichten – gut paulinisch – durchaus jüdisches Glaubensgut weiter. Das «Erscheinen » Gottes, in welcher Variante auch immer, wird in der Regel in Zusammenhang mit Heil und Rettung oder doch mit deren Verheissung erfahren und wird daher als Gnade in einer Zeit der Bedrängnis erlebt. So erhält z. B. Jakob Gottes Zusage von Rettung und Segen, der sich auf «alle Geschlechter der Erde» ausdehnen wird (Gen 28,14), während er sich auf der Flucht vor Esau befindet. Folgerichtig geht er nach der Versöhnung mit Esau an den Ort dieser Offenbarung zurück. «Jakob baute dort einen Altar und nannte die Stätte ‹Gott von Bet- El›; denn auf der Flucht vor seinem Bruder hatte Gott sich ihm dort offenbart» (Gen 35,7). Dass Gott auch machtvoll eingreift, um frevlerischem Tun vorzugreifen, zeigt z. B. die Verhinderung des geplanten Tempelraubes durch Heliodor (2 Makk 3,23– 30), der in deren Folge hilf- und sprachlos aus dem Tempel getragen wurde. «Die Juden aber priesen den Herrn, der an seinem Ort so herrlich seine Macht gezeigt hatte; und das Heiligtum, das eben noch voll war von Angst und Verwirrung, war erfüllt von Freude und Jubel, denn der allmächtige Herr hatte sich offenbart.» Seit Gott Israel aus Ägypten geführt hat, wird sein Eingreifen in die Geschichte auch als Indiz für die Auserwählung Israels gewertet. «Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören» (Ex 19,5 f.). Die zitierte Stelle lässt erahnen, dass mit der Auserwählung weniger eine besondere Auszeichnung als vielmehr eine besondere Verpflichtung verbunden ist. Sie impliziert keineswegs eine Ausgrenzung aller anderen, denn weiterhin gehört die ganze Erde Gott, sondern eine Gnade, die angenommen werden darf im Bewusstsein: «Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei Dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient» (Ps 130,3). Die Erwählung setzt voraus, dass Gottes Volk auf Gott hört und seine Weisungen befolgt. Denn das Volk Gottes, ob durch Erwählung wie Israel oder durch «Herausrufen» (Ekklesia) wie die christliche Kirche, ist das für die Völker wahrnehmbare Siegel dieses Gottes. Wenn es also gegen die Weisungen Gottes handelt, trifft es der von Paulus zitierte Vorwurf: «Euretwegen wird unter den Heiden der Name Gottes gelästert» (Röm 2,24).

Mit dem Verfasser des Titusbriefes im Gespräch

Der Vorbehalt des Paulus spiegelt sich im besprochenen Text aus dem Brief an Titus, der durch die Verfasserangabe bewusst ins paulinische Gedankengut eingebunden wurde. Denn die Gnade (charis) Gottes wird gepriesen als erschienen, «um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben» (Tit 3,11 f.). Das Erscheinen der doxa Gottes hingegen wird weiterhin erhofft. Dabei ist zu beachten, dass doxa zunächst Meinung bedeutet, einerseits die eigene Vorstellung oder Erwartung, aber auch die Meinung, in welcher man bei anderen steht. N ur wenn diese positiv ist, kommt der Begriff zur Bedeutung Ruhm, Glanz und Herrlichkeit. Unter den Völkern wird der Glanz und Ruhm Gottes daher erst erkannt, wenn sein Volk eine gute Meinung über ihn zu vermitteln vermag. Anders als Paulus, der die Erwählung Israels nicht in Frage stellt, sich der Ambivalenz durch die damit verbundene Verantwortung jedoch bewusst bleibt, scheint sein «Schüler» dem Irrtum einer mit der Auserwählung oder hier richtiger Berufung verbundenen Auszeichnung zu erliegen. Jedenfalls tradiert er ausdrücklich massive Vorurteile und Antijudaismen weiter: «Denn es gibt viele Ungehorsame, Schwätzer und Schwindler, besonders unter denen, die aus dem Judentum stammen. (…) Einer von ihnen hat als ihr eigener Prophet gesagt: Kreter sind Lügner und faule Bäuche, gefährliche Tiere. Dieses Zeugnis ist wahr» (Tit 1,10.12 f.). Solange nun, wie es sich durch die ganze Geschichte der Menschheit wiederholt, jede Religion, Kultur, Generation und Rasse bzw. deren Angehörige sich nur dann so richtig Gott zugehörig, von Gott erwählt fühlen können, wenn sie alle anderen verunglimpfen und herabsetzen, so lange kann die doxa Gottes nicht ungetrübt erstrahlen. Erst wenn die Zusicherung: «Denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten» (Tit 3,11) von denen, die sie festhalten, auch geglaubt wird und nicht als Botschaft von bereits Geretteten an noch zu Rettende verkündigt wird, kann Gottes Glanz in alle Welt erstrahlen. Dann kann die Heilige Nacht in ihrer Bedeutung für die christliche Gemeinschaft ein weiteres gnadenreiches Zeichen der Gegenwart Gottes sein, im Reigen mit all den anderen Zeichen, die Gott den Menschen aller Welt geschenkt hat. Wenn es uns gelingt, im Bewusstsein, dass unser Erkennen Stückwerk ist, die Zeichen von der Zuwendung Gottes an seine Menschen zusammenzutragen, statt sie gegeneinander auszuspielen, wird sich vielleicht eines Tages der Glanz, das Strahlen Gottes gegen den blinkenden, blendenden Firlefanz der Weihnachts- und Schaufensterbeleuchtungen durchsetzen.