Wir beraten

Im Innern des Messias   

Peter Zürn zur Lesung am 2. Advent, Phil 1,4-6.8-11, SKZ 47

Zweimal lädt uns die Leseordnung ein, aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi zu lesen. Heute vom Anfang des Briefes, nächste Woche aus dem Briefschluss. Ich erlaube mir deshalb zwei Beiträge, die aufeinander aufbauen und in das Leben in Philippi einführen.

Phil 1 im jüdischen Kontext

Wenn Paulus nach Philippi schreibt, schreibt er an seine «Lieblingsgemeinde».1 Die Menschen dort hat er «ins Herz geschlossen» (1,7). «Gott sei mein Zeuge», schreibt er, «wie sehr ich mich nach euch allen sehne mit der herzlichen Liebe, die Christus Jesus zu euch hat» (1,8). Wörtlicher übersetzt als in der Einheitsübersetzung lautet die Formulierung in 1,8: «Wie ich euch alle verlange im Innersten des Messias Jesus».2 Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes splagchnoi, das Paulus hier verwendet, ist «Eingeweide». Was sich zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi ereignet, geschieht im Innersten Christi bzw. des Messias. «In Christus» ist ein Leitwort des Paulus. 150-mal kommt es in seinen Briefen vor. In Christus sein, im Messias sein, zum Leib des Messias gehören, das meint das grosse messianische Experiment, dem Paulus sein Leben widmet: die lebendige und solidarische Gemeinschaft aus «Juden und Heiden», aus jüdischen Menschen und Menschen aus den Völkern. «Im Messias» ist das neue (im Sinn von erneuerte) Volk Gottes, das erneuerte Volk Israel, das Israel, zu dem die anderen Völker dazukommen. Dieses Zusammenleben ist alles andere als einfach, die Briefe des Paulus bezeugen die Probleme und Widerstände. In Philippi scheint das messianische Experiment aber gelungen zu sein. Was ist das Besondere an der Gemeinde in Philippi? Dazu ist ein Blick auf die Stadt selbst nötig. Philippi ist eine römische Militärkolonie. Den Namen hat sie vom makedonischen König Philipp, ihre wahre Bedeutung aber als Gründung des römischen Kaisers Augustus. Er siedelt dort Veteranen der Armeen an, mit der er den Kampf um die Macht, um die Alleinherrschaft im Imperium gewonnen hat. Diese Veteranen und neuen Bürger verdanken dem Kaiser alles. Sie prägen den kaisertreuen und militärischen Geist der Stadt. Philippi ist ein Rom im Kleinen.

Ist in einer solchen Stadt jüdisches Leben, Leben nach der Tora Gottes möglich? Die Apostelgeschichte erzählt, wie schwierig es ist. Als Paulus und seine Begleiter in Philippi ankommen, suchen sie nach einer Synagoge, einem jüdischen Gebetshaus. Sie finden keines in der Stadt, erst ausserhalb der Stadtmauern, am Fluss, werden sie fündig und treffen Frauen, die sich zum Gebet versammeln (Apg 16,13). Vielleicht wagten die jüdischen Männer nicht, ihren Glauben in der Öffentlichkeit zu zeigen. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, den Lebensunterhalt in der kaiserlichen Militärkolonie zu sichern. Der Kaiserkult prägte das gesamte öffentliche Leben und war auch der Raum, in dem wirtschaftliche Kontakte geknüpft wurden. Wer nicht mitmachte, war draussen. Juden wurden damals wegen ihrer Beachtung des Sabbats nicht zum Militärdienst eingezogen – in Philippi sicher ein Makel. Die Apostelgeschichte erzählt, wie die Botschaft vom befreienden und heilenden Gott dem «normalen» Leben in Philippi zuwiderläuft und die Interessen der Reichen und Mächtigen stört: Eine Sklavin mit einem Wahrsagegeist, die ihren Herren damit viel Geld einbringt, läuft Paulus nach und ruft: «Diese Menschen sind Diener des höchsten Gottes; sie verkünden euch den Weg des Heils.» Irgendwann wird es Paulus zu viel, und er treibt den Geist im Namen Jesu Christi aus. Die Herren, um ihren Gewinn gebracht, schleppen Paulus und seine Begleiter vor die Stadtbehörden und klagen sie an: «Männer bringen Unruhe in unsere Stadt. Es sind Juden; sie verkünden Sitten und Bräuche, die wir als Römer weder annehmen können noch ausüben dürfen» (Apg 16,16–21). Jüdische Sitten und Bräuche sind unverträglich mit dem herrschenden Leben in Philippi. Kein Wunder, liegt die Synagoge draussen vor der Stadt. Gerade hier gelingt aber trotzdem das Experiment, das Paulus als Leben in Christus, im Inneren des Messias, versteht. Hier wird das neue Volk Gottes möglich. Die Apostelgeschichte blickt ins Innere dieser Gemeinschaft. Frauen spielen in ihr eine wichtige Rolle. Und Gottesfürchtige. So nennt Apg 16,14 die Purpurhändlerin Lydia, die sich in der Synagoge am Fluss einfindet und Paulus und seine Begleiter in ihr Haus aufnimmt. «Gottesfürchtige» hiessen Menschen aus den Völkern, die sich für den Gott Israels und das Leben nach der Tora interessierten und der jüdischen Gemeinde nahestanden, ohne ins Judentum überzutreten – bei Lydia vielleicht aus Rücksicht auf ihre Geschäfte, bei denen sie mit der Oberschicht Philippis in Kontakt sein musste. Menschen wie Lydia waren am Experiment des Paulus besonders interessiert. Sein erneuertes Israel bot ihnen die Chance, sich dem Volk Gottes anzuschliessen und ganz zur jüdisch-messianischen Gemeinde, zum Leib des Messias zu gehören. Und dabei zugleich die Freiheit zu haben, an Festmählern im Rahmen des Kaiserkultes teilzunehmen, um lebensnotwendige Geschäfte abzuschliessen. Das erforderte aber eine Gemeinschaft, die Verschiedenheit zuliess und dabei trotzdem solidarisch miteinander blieb. Es erforderte von den jüdischen Mitgliedern die solidarische Offenheit zu sagen: Lydia ist im Messias, sie ist Teil des Volkes Gottes, auch wenn sie die Reinheitsgebote bei den Essen mit den Heiden nicht einhält. Und es erforderte von den Gottesfürchtigen, die Besonderheit der jüdischen Menschen zu akzeptieren und zu würdigen: als von Gott erwählt und mit Gott untrennbar verbunden, als edlen Ölbaum – um mit einem Bild des Paulus zu sprechen –, in den die neuen Mitglieder des Gottesvolkes eingepropft sind (Brief ins grosse Rom 11,17–19). In Philippi ist das messianische Experiment gelungen. Die Gemeinschaft dort lebte in messianischer, d. h. christlicher Solidarität. Der Druck von aussen, die soziale Lage am Rand der herrschenden Gesellschaft, aber auch die Verwurzelung in lebensfördernden Werten der Tora, verbanden die Gemeinde. Frauen wie Lydia mit ihrem Haus und ihrem gesellschaftlichen Einfluss boten Raum für eine andere Kultur, eine andere Form von Gemeinschaft mitten in der Stadt.

Heute mit Paulus im Gespräch

Haben wir heute Gebetsräume ausserhalb der Mauern der herrschenden Normalität? Am und im Fluss? Eröffnen w ir Räume mitten in den kaisertreuen Kolonien, in denen andere, solidarische Lebensweisen möglich sind? Wie schützen wir diese Räume? Wo leben wir im Innern des Messias, d. h. mit solidarischer Offenheit für Verschiedenheit? Wo trauern wir um das Scheitern des messianischen Experimentes des Paulus und sehnen uns mit ihm danach? Was trägt uns dabei? Vielleicht das heutige Evangelium nach Jesaja: «Was krumm ist, soll gerade werden (…), und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt» (Lk 3,6).