Wir beraten

Zukunftsmusik   

Peter Zürn zur Lesung am 3. Adventssonntag: Phil 4,4–7, SKZ 48/2012

 

In der heutigen Lesung hören wir einen adventlichen Text aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi. Er spricht von erwartungsvoller Freude. Er lässt Zukunftsmusik erklingen, deren Grundmelodie schon eingeübt werden kann.

Paulus im jüdischen Kontext

«Freut euch!» ruft Paulus mehrmals emphatisch, genau wie der Prophet Zefanja in der alttestamentlichen Lesung. Zefanjas Frohbotschaft deutet das babylonische Exil als Gericht über die Mächtigen des Volkes Israel. Sie sind von Gott abgefallen, indem sie die Armen ausgebeutet und das Recht gebeugt haben. Aus den Armen aber wird das neue Israel hervorgehen. «Die von Israel übrig bleiben, werden kein Unrecht mehr tun» (Zef 3,13). Dieses neue, solidarische Volk Gottes soll jubeln. In seiner Mitte wirkt Gott. Es ist schon erfahrbar, seine Vollendung «an jenem Tag» (Zef 3,11.16), dem Tag Gottes, steht noch aus. Die Armen, aus denen das neue Volk Israel hervorgeht, sind nicht nur die, die bei der Deportation der Oberschicht nach Babylon zurückgeblieben sind. Auch «am anderen Ufer der Ströme Kuschs», also unter den Exilierten in Babylon, sieht Gott Menschen, «die zu mir beten» (Zef 3,10). Das neue Israel lebt an verschiedenen Orten und geht unterschiedliche Wege. Gott wird sie «an jenem Tag» sammeln und zusammenbringen. Auch die Gemeinde in Philippi, an die Paulus schreibt, ist eine solidarische Gemeinschaft von Verschiedenen. In ihr ist das messianische Experiment des erneuerten Volkes Israel aus jüdischen und nichtjüdischen Menschen, von Menschen aus Israel und aus den Völkern, gelungen. Die Gemeinde lebt «im Messias» (4,7) – das ist Grund der Freude. Die zwei Verse, die dem Lesungstext vorausgehen, zeigen, dass Paulus hier nicht zur ganzen Gemeinde spricht, sondern einen kleinen Brief an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfügt, die sich mit ihm zusammen für die gute Botschaft engagiert haben (4,3). Euodia und Syntyche werden genannt, zwei Frauen, den Namen nach vielleicht Sklavinnen oder Freigelassene. Die Namen Euodia, «auf gutem Weg», «gut geleitet» und Syntyche, «mit Glück, durch Zufall», könnten kennzeichnende Namen von Sklavinnen sein. Auch Clemens ist als Beinamen von Freigelassenen bezeugt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Paulus in Philippi, diejenigen, die sich in der Gemeinde besonders engagieren und Verantwortung tragen, stammen aus der Schicht der Sklavinnen und Sklaven, die in einer Stadt des römischen Imperiums dieser Zeit die grosse Mehrheit der Menschen ausmachen, dabei aber rechtlos und der Macht ihrer Herren unterworfen sind. Die Armen in der Zeit des Paulus erleben «im Messias» wie es ist, wenn Menschen «kein Unrecht mehr tun». Sie erfahren eine solidarische Gemeinschaft, das neue Israel, von dem Zefanja spricht. Und haben deshalb allen Grund zur Freude. Ihre aus dem Griechischen und Lateinischen stammenden Namen lassen vermuten, dass sie nicht jüdischer Herkunft sind, sondern Menschen «aus den Völkern». Anders ist es vielleicht bei der vierten Person, die Paulus nennt, Syzygos. Das ist kein Name, sondern eine Beschreibung und bedeutet «zusammen im Joch». In der rabbinischen Tradition ist vom Joch der Tora die Rede. In den Sprüchen der Väter, Aboth 3,5, heisst es: «Wer das Joch der Tora auf sich nimmt, von dem entfernt man das Joch der Herrschaft und das Joch des irdischen Weges.»1 Wer Tora tut, ist befreit, lässt sich nicht von den herrschenden Verhältnissen und den täglichen Sorgen niederdrücken. Paulus hat das Joch der Tora getragen. In Phil 3,5 nennt er sich «pharisäisch in meiner Toraauffassung ». In der Gemeinde von Philippi hat er einen Jochgenossen, einen weiteren um die Auslegung der Tora ringenden Juden. Ihn bittet Paulus, der Euodia und der Syntyche beizustehen. Die (ehemaligen) Sklavinnen, die Frauen aus den Völkern, brauchen Unterstützung in ihrer neuen Rolle als Verantwortliche in der jüdisch-messianischen Gemeinde. Sie zu unterstützen, bedeutet das Joch der Tora zu tragen, heisst die Tora so auszulegen, dass sie ihre befreiende Kraft entfalten kann. In Phil 4,2–4 spricht Paulus seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Mut zu, bittet sie um gegenseitige Unterstützung und schafft Raum für die Freude über all das, was miteinander und «im Herrn» möglich geworden ist. In den Versen 5–7 geht es um ihre Beziehung zu anderen Menschen in der Gemeinde und darüber hinaus und um ihre Gottesbeziehung. «Euer Wohlwollen werde allen Menschen bekannt», wünscht Paulus. Wohlwollen, griechisch epieikes, auch mit Güte, Milde, wohlwollende Zuwendung übersetzbar, wird in der Umwelt des Paulus den Herrschenden zugesprochen oder vielmehr von ihnen als Selbstbild verbreitet. In der Gemeinde von Philippi ist sie den Beherrschten, den (ehemaligen) Sklavinnen und Sklaven zu eigen. Sie praktizieren, was die Herren für sich beanspruchen. Das sollen alle erkennen, denn hier wird sichtbar, dass Menschen nicht mehr über Menschen herrschen, dass wahrhaftige Menschlichkeit begonnen hat oder – in den Worten des Paulus: – dass «der Herr nahe» ist. Das Gebet, die Gottesbeziehung dieser wohlwollenden Menschen soll nicht von Sorgen bestimmt sein, denn wer Tora tut und sich so den Menschen wohlwollend zuwendet, wird frei vom Joch des irdischen Weges. Paulus richtet vielmehr die Gebete auf Gottes Frieden aus, «der höher ist als alle Vernunft» (Phil 4,7). In Philippi, dem Rom im Kleinen, der kaisertreuen Militärkolonie, ist das eine klare Abgrenzung. Es geht nicht um die Pax Romana, nicht um den augusteischen Frieden, nicht um den vom Herrscher in Rom gemachten Zustand, der für Millionen von Menschen Sklaverei und Ausbeutung bedeutete. Es geht um Gottes Frieden, der über alle Vorstellungen von Frieden hinausreicht, weil er noch nie umfassend erfahren wurde. Das ist «Zukunftsmusik, deren Grundmelodie aber schon jetzt einzuüben ist. Im Messias, in der Ekklesia, die sein Leib ist».2

Heute mit Paulus im Gespräch

Der Friede Gottes ist auch heute noch Zukunftsmusik für uns. Er meint ja mehr als die Abwesenheit von Krieg, wobei wir weltweit gesehen auch davon unendlich weit entfernt sind. Im biblischen Sinn bedeutet Friede, Schalom, die Fülle des Lebens. Und meint dabei, wie die Rabbinerin Elisa Klapheck formuliert, «nicht einen alle Menschen verschmelzenden ‹Frieden›, sondern eine ‹Fülle›, in der die unterschiedlichen Heilsgeschichten der Menschen (…) zu einer vollen Geltung kommen».3 Unterschiedliche Heilsgeschichten zur vollen Geltung kommen lassen – in der Begegnung zwischen jüdischen und christlichen Menschen, in der gegenseitigen Unterstützung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Kirche, in der wohlwollenden Zuwendung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu Menschen. Da gibt es schon viel Grund zur Freude und da gibt es noch sehr viel hoffnungsvolle Erwartung auf die Erfüllung «an jenem Tag».