Wir beraten

Kommt der Messias? Wieder? Und wenn ja: Welcher?   

Detlef Hecking zur neutestamentlichen Lesung am 1. Adventssonntag: 1 Thess 3,12–4,2, SKZ 46/2012

 Bild: Paulus. Mosaik aus dem 5. Jh. im Oratorium St. Andrea im erzbischöflichen Museum Ravenna

Mosaik aus dem 5. Jahrhundert, im Oratorium St. Andrea im erzbischöflichen Museum in Ravenna
Mosaik aus dem 5. Jahrhundert, im Oratorium St. Andrea im erzbischöflichen Museum in Ravenna

Die Texte des 1. Adventssonntags im neuen Kirchenjahr C haben Störpotenzial: Auf heilsverheissende, prophetische Worte aus Jeremia (33,14–16), die der liturgische Kontext auf Christus hin auslegt, folgt eine Lesung aus 1 Thess, in der Paulus der Gemeinde Wünsche für den Zeitpunkt der «Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen seinen Heiligen» ans Herz legt. Das Evangelium aus Lk 21 schliesst daran mit apokalyptischen Bildern und Verhaltensratschlägen an, die angesichts des erwarteten, für Lukas (bzw. den lk Jesus) offenbar gleichermassen bedrohlichen wie hoffnungsvollen Kommen des «Menschensohnes » Zuversicht stiften wollen. Starke Worte und Bilder – nichts für einen gemütlichen Nachmittag beim Schein der ersten Adventskerze. Wie an jedem 1. Advent lenkt die Liturgie den Blick nicht auf das erste Kommen des Messias, sondern auf die Parusie. Diese Spannung gilt es so fruchtbar zu machen, dass daraus – vielleicht, hoffentlich! – neue Aufbrüche in Leben und Glauben möglich werden. Denn wer glaubt heute noch wirklich daran, dass der Christus einmal (wieder-)kommen wird – jedenfalls so konkret, wie es in den neutestamentlichen Bildern beschrieben ist? Und wer ausser fundamentalistisch-biblizistischen Gruppen vermag angesichts der Klimaerwärmung mit realen Katastrophen wie dem Sturm «Sandy » fiktiven Weltuntergangs-Szenarien noch «apokalyptisches», also ent-hüllendes Hoffnungspotenzial abzuringen?

1 Thess 3,12–4,2 im frühjüdischen Kontext

Es mag unklug sein, gleich die erste Auslegung des neuen Lesejahrs mit einer Abweichung vom üblichen Aufbau dieser Kommentare zu beginnen, der zunächst die ersttestamentlich- frühjüdischen Kontexte der Lesung zu erhellen versucht. Im vorliegenden Fall hat das gewichtige Gründe: Ein Kernelement der Lesung aus 1 Thess, die Erwartung der Wiederkunft des Messias (V. 13), hat(te) erstaunliche Parallelen in einer besonderen Variante nicht des antiken, sondern des gegenwärtigen Judentums. In der orthodoxen jüdischen Chabad-Bewegung hat sich in den 1980er-/90er- Jahren eine messianische Ausprägung jüdischen Glaubens entwickelt. Rabbi Menachem Mendel Schneerson (1902–1994), der die Bewegung als siebter «Lubavitcher Rebbe» seit 1950 leitete, betonte diese Aspekte wesentlich stärker als seine Vorgänger. Mit der Zeit entwickelte sich im Chabad ein messianischer Eifer in Gebet und praktischer Nächstenliebe, der seit der Bewegung um Sabbatai Zvi im 17. Jahrhundert nicht mehr dagewesen war. Spätestens nach einer flammenden Predigt des charismatischen «Rebbe» zum Ende des Pessachfestes am 11. April 1991 («Ich habe alles getan, was ich kann. Ich übergebe es euch. Tut alles, was ihr könnt, um den gerechten Erlöser herbeizubringen, sofort! Ich habe meinen Teil getan. Von nun an liegt alles in eurer Hand»1) waren erhebliche Teile seiner Anhängerschaft davon überzeugt, dass Schneerson selbst der herbeigeflehte Messias sei, ohne sich jedoch als solcher zu offenbaren. An Orten mit starker Chabad-Präsenz waren Plakate mit roter, aufgehender Sonne auf gelbem Grund und der hebräischen Aufschrift «Bereitet euch vor auf das Kommen des Messias» allgegenwärtig, wie ich während meines Studienjahres in Jerusalem miterleben konnte.2 Am 2 . März 1992 erlitt Schneerson jedoch einen Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung und Verlust der Sprechfähigkeit, bis er am 12. Juni 1994 verstarb. In der Folge kam es im Chabad zu Auseinandersetzungen um Messianismus, die – allen Unterschieden zum Trotz – ein interessantes Licht auf die jesusmessianische Bewegung nach der Kreuzigung Jesu werfen. Unter anderem bildete sich im Chabad eine Gruppe von Messianisten, die davon ausging, dass der «Rebbe» bei Gott lebt und wiederkommen wird. Diese Ansicht wurde jedoch nicht nur von der Chabad- Führung abgelehnt, sondern veranlasste am 1. Juni 1996 auch den «Rabbinical Council of America», eine Vereinigung orthodoxer Rabbiner, zu einer Stellungnahme, wonach «es im Judentum keinen Platz gibt und nie gegeben hat für den Glauben, dass der Messias, Sohn Davids, seine messianische Sendung nur beginnen wird, um Tod, Begräbnis und Auferstehung zu erfahren, bevor er sie vollendet».3 Selbst Kritiker der fundamentalistischen Ausrichtung des Chabad bescheinigen der Bewegung jedoch einen horizonterweiternden Umgang mit dem Messianismus: Schneerson betonte u. a. die universale Bedeutung des Messias und relativierte damit die traditionelle Abgrenzung zwischen Israel und den «Völkern ».4 Auch dies hat Ähnlichkeiten zur Entwicklung der jesus-messianischen Bewegung, die bekanntlich die Universalität jüdisch-messianischen Glaubens und die «Heidenmission» ins Zentrum rückte (z. B. Mt 28,19).

Heute mit Paulus im Gespräch

Schon Paulus und die Evangelisten lenken die Frage nach dem (Wieder-)Kommen des Messias weg vom Forschen nach «Zeichen der Zeit» hin zur inneren Ausrichtung auf den Christus und eine dementsprechende Lebenspraxis (vgl. neben unserem Lesungstext auch 1 Thess 5,1–11). Darüber hinaus haben Parusie-Hoffnungen das Potenzial, gegenwärtige Entwicklungen in Welt, Glauben und Kirche grund-legend und grund-stürzend in Frage zu stellen und daran zu erinnern, dass das Kommen des Messias bereits beim ersten Mal für Teile der religiösen Führungsgruppen überaus anstössig war. Deshalb hat die Parusie seit langem mehr die Literatur beflügelt als die Theologie, Dostojewskis «Grossinquisitor » ist nur das berühmteste Beispiel dafür. Kürzlich ist unter dem Pseudonym «Antoine Derride SJ» eine literarisch, philosophisch und theologisch gleichermassen kunstvollanregende wie auch satirisch-verstörende Parusie-Variante mit Berner Lokalkolorit veröffentlicht worden.5 Der wiedergekommene Christus, eine Art Performance-Künstler Mitte Fünfzig, besucht einen alternden Jesuiten im Berner «aki», «der es vorgezogen hat, aufzuhören, auf den Messias zu warten. Er wartet auf den Tod».6 Der Jesuit entdeckt in der Begegnung mit dem Fremden seine jüdischen Wurzeln wieder – und Jesus selbst vertraut dem Jesuiten unter Gelächter (und dem Siegel des Beichtgeheimnisses) an, worin er sich bei seinem ersten Kommen geirrt habe … Unvergessen ist mir bei der Frage nach der Parusie ein Bonmot, das Schalom Ben-Chorin uns, einer ökumenischen Gruppe Theologiestudierender, 1992 in einer Vorlesung an der Jerusalemer Dormitio-Abtei 1992 mitgab. Er, Ben-Chorin, glaube – trotz Hochachtung für seinen «Bruder Jesus» – zwar nicht daran, dass dieser der Messias gewesen sei [«Der Glaube Jesu (an den Gott Israels) verbindet uns. Der Glaube an Jesus (als Messias) trennt uns»]. Doch falls sich am Ende der Zeit herausstellen sollte, dass der Messias, auf den er, Ben-Chorin, noch hoffe, identisch sei mit Jesus von Nazareth, der bereits einmal gekommen sei – nun, den werde er auch anerkennen …

 

1 www.chabad.org/therebbe/timeline.asp?AID=62185

2 Manche säkularen Juden reagierten auf eigene Weise: Mehrere Läden in Westjerusalem führten damals T-Shirts mit identischem Motiv, aber dem spöttisch-ironischen hebräischen Aufdruck: «Ich bin gekommen» …

3 www.rabbis.org/news/article.cfm?id=101128

4 Vgl. Nathan Peter Levinson: Der Messias von Brooklyn, in: Ders.: Der Messias. Stuttgart 1994, 118 –130, 125 f.

5 Antoine Derride SJ: Messiah. Eine Dekonstruktion christlicher Theologie. Wien 2008.

6 Ebd., 83.