Wir beraten

Trennung, Wiederheirat und die Nachfolge von Ehepaaren   

Detlef Hecking zum Evangelium am 27. Sonntag im Jahreskreis: Mk 10,1–12, SKZ 38/2012

 

Es ist ein Text mit enormem biblischem, pastoralem und kirchenpolitischem Sprengstoff, der hier zur Auslegung ansteht. Wie viele getrennt lebende, geschiedene, in neuen Partnerschaften oder Ehen lebende Frauen und Männer werden an diesem Sonntag wohl (noch) römischkatholische Gottesdienste in der Schweiz mitfeiern, und wie werden sie auf das Evangelium reagieren? Wie viele von ihnen werden versuchen, an der Kommunion teilzunehmen? Die bekannten kirchenrechtlichen Normen sind kürzlich wieder nachdrücklich betont worden. Die lehramtlichen Verlautbarungen zur Frage nehmen für sich in Anspruch, in voller Übereinstimmung mit der Verkündigung Jesu zu stehen, so etwa Joseph Kard. Ratzinger in einem Schreiben der Glaubenskongregation von 1994. Anlass dieses Schreibens an die Bischöfe über den Kommunionempfang von wiederverheirateten Geschiedenen war ein auch heute noch lesenswerter gemeinsamer Hirtenbrief der Bischöfe Karl Lehmann (Mainz), Walter Kasper (Rottenburg-Stuttgart) und Oskar Saier (Freiburg i. B r.), in dem ein neuer Zugang zu diesen Fragen angeregt wurde. Die Antwort der Glaubenskongregation wurde in breiten Kreisen und von namhaften Fachleuten grundlegend kritisiert – der Graben zwischen einem bereits seit Jahrzehnten bestehenden, breit abgestützten Forschungskonsens und den lehramtlichen Stellungnahmen ist tief. Wenn hier nicht einfach altbekannte Positionen wiederholt werden sollen, lohnt es sich, neuere Zugänge zu den bekannten Bibeltexten zu Gehör zu bringen, gerade auch in der Predigt in der Gemeinde.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Unser Text ist anfällig für antijüdische Lesarten, die «die» Pharisäer sowie jüdische Schriftauslegung in fragwürdigen Kontrast zur Verkündigung Jesu setzen. Zunächst interpretiert schon der Evangelist die Frage der Pharisäer als Fangfrage (V. 2). Dies weist im literarischen Kontext des Mk auf die «Galiläischen Streitgespräche » (2,1–3,6) zwischen Jesus und Angehörigen der religiös-politischen Führungsschichten zurück sowie auf die «Jerusalemer Streitgespräche» (11 f.) voraus und passt auch zur sonstigen, oft kritischen Markus-Darstellung der Pharisäer. Von 10,2–12 her und auch historisch gesehen ist das aber keineswegs zwingend: Warum sollten Pharisäer nicht ernsthaft und unpolemisch an der Meinung Jesu interessiert sein – ähnlich wie es das gelingende Gespräch mit dem Schriftgelehrten in Mk 12,28–34 erzählt? Die Frage der Pharisäer überrascht: Die Scheidungsmöglichkeit war im Frühjudentum unstrittig. Diskutiert wurde allerdings – häufig in Anlehnung an einen in Dtn 24,1–4 geschilderten Spezialfall, da die Tora kein eigentliches, umfassendes Eherecht kennt –, wie der Mann der Frau den Scheidebrief (Get) übergeben musste und unter welchen Umständen er ihr die Ketubah, das von der Frau in die Ehe eingebrachte und im Ehevertrag dokumentierte Vermögen, auszahlen musste. Zudem enthält die Frage der Pharisäer keine der typischen Redewendungen, die in der rabbinischen Diskussion für den aktiven Scheidungswunsch des Mannes verwendet werden, sondern das unspezifischere Verb apolýo. Luzia Sutter-Rehmann übersetzt deshalb aufgrund umfangreicher Studien des Wortgebrauchs in biblischen und ausserbiblischen Schriften: «… ob es einem Mann erlaubt sei, die Frau gehen zu lassen». Das wirft die Frage auf, wer hier eigentlich gehen will bzw. die Trennung veranlasst – der Mann oder die Frau? Im Unterschied zu älteren Auslegungen ist heute nämlich bekannt, dass nach jüdischer Eherechtspraxis nicht nur der Mann, sondern auch die Frau die Scheidung erfolgreich einfordern und in Einzelfällen sogar einen Get ausstellen konnte. Jesus verortet die ganze Diskussion in seiner Antwort an die Pharisäer jedoch nicht im Ehe- bzw. Scheidungsrecht, sondern in der Schöpfungstheologie, genauer: Er erinnert an die in der Schöpfung grundgelegte, gegenseitige existentielle Bezogenheit von Mann und Frau aufeinander (Gen 1,27 und 2,24 in Mk 10,6–8). Damit stellt Jesus – trotz seines Hinweises auf die «Hartherzigkeit» (sklerokardía) als Grund für die Scheidungserlaubnis der Tora – nicht das frühjüdische Scheidungsrecht in Frage, sondern macht deutlich, dass er die Ehe nicht aus der Perspektive einer möglichen Scheidung, sondern auf der Grundlage gottgewollter, verbindlicher, dauerhafter Aufeinander-Bezogenheit von Frau und Mann versteht. Bereits hier ergäben sich zahlreiche biblisch fundierte Ansatzpunkte für eine Neubeurteilung umstrittener Aspekte des katholischen Eherechts. D ie folgende Fortsetzung des Gesprächs findet im kleineren Kreis der Nachfolgegemeinschaft «im Haus» statt (V. 10–12), wie auch sonst im Mk besondere Jüngerinnenund Jüngergespräche nicht in der Öffentlichkeit geführt werden (z. B . 4,10.34; 8,31–33; 9,30 ff. u. ö.). Das verweist die knappen und kirchenrechtlich so überaus folgenreichen Sätze auch inhaltlich in den engeren Bereich der Nachfolgegemeinschaft mit ihren konkreten Lebensrealitäten. Hier hat wiederum Luzia Sutter-Rehmann eine interessante Beobachtung eingebracht. Die ganze Szene ist in einer textkritisch und geografisch komplexen Wendung in 10,1 (von der Leseordnung ausgelassen) im Grenzbereich zwischen Galiläa und Judäa lokalisiert, auf dem Weg Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger von Galiläa nach Jerusalem. Nun wird aber in der – zugegebenermassen späteren – Mischna (mKet 13,10 f.) diskutiert, dass ein Mann einerseits seine Ehefrau nicht zwingen konnte, mit ihm aus demjenigen Bezirk Palästinas, in dem die Ehe geschlossen wurde, in einen anderen Bezirk umzuziehen (die eherechtlich relevanten Bezirke und Grenzen sind Judäa, Galiläa und das Ostjordanland – also genau die Gebiete, die von der Wanderung Jesu berührt und deren Grenzen in Mk 10,1 überschritten werden). Andererseits durfte wegen des religiösen Sonderstatus’ der Stadt auch niemand am Umzug nach Jerusalem gehindert werden. Wenn also eine Frau (oder ein Mann) gegen den Willen des/der anderen nach Jerusalem ziehen wollte, konnte das zum legitimen Scheidungsgrund werden. Luzia Sutter-Rehmann interpretiert die auf beide Geschlechter gleichermassen bezogenen Ehebruchsklauseln in Mk 10,10–12 deshalb so: Wenn eine Frau oder ein Mann mit Jesus über die Bezirksgrenze hinaus nach Jerusalem ziehen und so persönliche Nachfolge leben will, soll weder der zurückbleibende, verlassene noch der wegziehende Ehepartner hartherzig auf seinem Scheidungsrecht bestehen. Stattdessen sollen sich beide die Rückkehr an einen gemeinsamen Lebensort und in die Ehegemeinschaft offenhalten. Zugleich sollen sich die (vorübergehend?) getrennt lebenden Ehepartner nicht als geschieden ansehen. Sie sind auch und gerade in der eng zusammenlebenden «Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten» (E. Schüssler-Fiorenza) nicht frei für neue Ehen, sondern sollen an der schöpfungsbedingt intimen Bindung aneinander festhalten.

Mit Markus im Gespräch

Die hier knapp zusammengefassten Thesen Sutter- Rehmanns sind natürlich nicht unumstritten. Doch sie werfen ein überaus bereicherndes Licht auf die Frage, wie Mk 10,1–12 auch gelesen werden kann, wenn man nicht von antijüdischen Voreingenommenheiten ausgeht und den geografischen, sozial- und rechtshistorischen Kontext der Stelle einbezieht. So gelesen, wird das vordergründig unmissverständliche Jesuswort zur Einladung, schwierige Ehezeiten und unterschiedliche Lebensentwürfe im Lichte der Tora und der Jesusnachfolge partnerschaftlich anzugehen. Dass die jesuanischen Aussagen zur Ehescheidung, soweit sie historisch zuverlässig rekonstruierbar sind, im Übrigen bereits in den frühesten jesus-messianischen Gemeinden kontextuell verstanden, je neu interpretiert (und auch partiell relativiert) wurden, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die bekannten Parallelen (Mt 5,31 f.; 19,1–9; 1 Kor 7) und ihre je unterschiedliche Ausgestaltung der Unauflöslichkeit der Ehe – inklusive der je anders gesetzten Grenzen dessen, was von Ehepartnern zu tragen erwartet wird.

 

Literatur:

Theodor Schneider (Hrsg.): Geschieden, wiederverheiratet, abgewiesen? Antworten der Theologie. Freiburg 1995; Luzia Sutter-Rehmann: Konflikte zwischen ihm und ihr. Sozialgeschichtliche und exegetische Untersuchungen der Nachfolgeproblematik von Ehepaaren. Gütersloh 2002.