Wir beraten

Gerechtigkeit und Glaube (Brief an die Gemeinde in Rom 1,16-17 und 3,21-31)   

Jüdische und griechische (heidnische) Menschen in einer Gemeinde

aus: WerkstattBibel Band 15 «Mitten im Leben. Die mystische Seite des Apostels Paulus»

Einführung:

Paulus schreibt an eine Gemeinde, die aus «Juden und Griechen» besteht. Das Miteinander der beiden Gruppen ist nicht einfach, für Paulus ist es aber von grosser Bedeutung. Seine Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Gerade die Begriffe «Gerechtigkeit» und «Glaube» sind in der Folge zu Abgrenzungen geworden zwischen Judentum und Christentum. Welche Bedeutung hatten die Ausdrücke für die jüdischen und griechischen Menschen damals in Rom? Was bedeuten sie für uns heute?

Verlaufsplan:

Dauer

Inhalt und Vorgehen

Material

 

Einrichtung im Raum

Stuhlkreis, Text von Röm 1,16-17 in zwei Übersetzungen in zwei Kreisen. Im Zentrum eine Schale mit Erde

grosse, runde Schale mit Erde, A4-Blätter, längs halbiert, beschriftet mit Röm 1,16-17 in zwei verschiedenen Übersetzungen, Leitworte auf andersfarbigem Papier

 30’

Dem Text begegnen

Plenum, Stuhlkreis

Begrüssung und Einführung

Röm 1,16-17 vorlesen

In den Kreis gehen, leise für sich lesen und zurück an den Platz gehen

Verdeckte Blätter umdrehen

Zweite Übersetzung vorlesen

Wieder in den Kreis gehen und neuen Text leise murmelnd lesen

Plenum, Stuhlkreis

Sinn der unterschiedlichen Übersetzungen v.a. der Leitworte erklären

  • Was haben die unterschiedlichen Übersetzungen bei mir ausgelöst?

 

25’

Der Gemeinde begegnen

Plenum, Stuhlkreis

3 Kreise aus Tüchern formen und in Form eines Dreiecks in den Innenraum legen
Blätter aus den umlaufenden Texten zuordnen:
Jüdinnen/Juden  – Griechinnen/Griechen – Rettung/Befreiung
Die Gemeinde in Rom, anhand der drei Orte vorstellen

Gruppenarbeit im Raum I

Gemeinde besuchen, sich für eine der beiden Gemeindegruppen (Jüdinnen und Juden bzw. Griechinnen und Griechen) entscheiden und sich an den entsprechenden Ort stellen
Auftrag an die Gruppen:
– Fühlen Sie sich so weit als möglich in die Menschen aus der Gemeinde in Rom bzw. aus ihrem Umfeld ein, an deren Ort Sie stehen

- Lesen Sie aus dieser Perspektive den Satz aus dem Brief des Paulus, der Sie umgibt: Was löst er aus?

- Schauen Sie auf den dritten Ort (Rettung/Befreiung): Wie ist Ihre Gruppe von der historischen Situation in Rom betroffen?
Klangschale eröffnet und schliesst das Gruppengespräch

 

 

3 verschieden farbige Tücher

 

s. Informationen zum Text

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Klangschale

35’

Gruppenarbeit im Raum II

Mosaik als Kunstform im antiken Rom beschreiben

Aus bunten Papierstücken ein Mosaik legen zur Frage:
Was erhofft ihr euch an Rettung bzw. Befreiung?

Plenum im Raum

Mosaike vorstellen
Fragen zur Gemeinde in Rom klären

rechteckige Papierstücke  in weiss und schwarz

 

 

s. Informationen zum Text

50’

Den Leitworten begegnen

Plenum, Stuhlkreis

4 Blätter mit den Leitworten Gerechtigkeit, Bewährtheit, Glaube, Vertrauen aus dem umlaufenden Text zu einem Quadrat legen

Bibeln und leere Blätter für Notizen bereitlegen

Hinweis auf weiteres Vorgehen

Gruppenarbeit

Gruppen mit ca. 4-5 Personen bilden
Gemeinsam Röm 3,21-31 lesen

Austausch zur Frage:
Was könnten die Leitworte Gerechtigkeit/Bewährtheit und Glaube/Vertrauen aus der Sicht der Gemeinde in Rom bedeuten?

Plenum, Stuhlkreis

Verkleinern des Text- und Stuhlkreises
Austausch zur Frage:

Was bedeuten die Leitworte für uns heute?

 

 

 

 

Bibeln (oder Textblätter mit Röm 3,21-31), leere Blätter, Stifte

 

Räume für Gruppenarbeit

10’

Abschluss

Plenum, Stuhlkreis

Blick auf den Raum als «zentriertes Bild» und die Mitte

Sonnenblumenkerne einpflanzen
Was ist mir heute zum Zentrum der Begegnung mit dem Text geworden?

 

 

 

 

Sonnenblumenkerne

 

Methodischer Kommentar:

Nach Möglichkeit sind verschiedene Räume für Gruppenarbeiten vorhanden.

Einrichtung im Raum

Im Raum werden von aussen nach innen drei Kreise gestaltet:
1. Stuhlkreis, 2. Text von Röm 1,16-17 in der Übersetzung der Zürcher Bibel oder der Einheitsübersetzung (Text 1) und 3. Röm 1,16-17 in der Übersetzung von Gerhard Jankowski mit Anleihen aus der Bibel in gerechter Sprache (Text 2) (zu dieser Übersetzung siehe Informationen zum Text).
Beide Texte sind Wort für Wort auf je einen Papierstreifen (A4 quer, halbiert) geschrieben. Es ist sinnvoll, die beiden Texte auf je andersfarbiges Papier zu drucken.

Die Leitworte (Gerechtigkeit/Glaube im Text 1, Bewährtheit/Vertrauen im Text 2) sind jeweils auf Papier in einer dritten Farbe geschrieben.
Text 1 wird zuerst im Kreis ausgelegt; Text 2 wird direkt daneben, möglichst Wort für Wort parallel, aber noch verdeckt, ausgelegt. Die Schrift zeigt nach innen.
Der Kreis soll so gross sein, dass sich die ganze Gruppe innerhalb der Texte aufhalten kann, aber nicht zu gross, so dass Plenumsgespräche im Stuhlkreis noch gut möglich sind. Die Mitte bildet  eine Schale mit Erde.

Dem Text begegnen

Die Leitung begrüsst und führt mit folgenden Worten ins Thema ein:

«Wir begegnen jetzt einem Text aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom, zwei Versen vom Anfang des Briefes, in denen Paulus ihm wichtige Themen und Worte einführt, darunter die Worte, die uns heute besonders beschäftigen: Gerechtigkeit und Glaube. Sie sind durch die andersfarbigen Blätter hervorgehoben.»

Die Leitung liest Text 1 vor.

Anschliessend gehen die Teilnehmenden in den Kreis und lesen den Text leise für sich. Je nach Gruppengrösse kann es beim Begehen und Lesen des Textes zu Staus und Behinderungen kommen. Wenn die Gruppe allzu gross ist, sollte das organisiert werden z.B. durch eine Einteilung, welche Gruppenhälfte zuerst geht und liest. Allerdings kann die Erfahrung des Durcheinanders auch auf die historische Situation des Briefes hin gedeutet werden. Wir wissen ja nicht, wem der Brief in Rom zuerst bzw. erst später zugänglich war.

Nachdem alle wieder an ihren Plätzen sitzen, werden die Teilnehmenden gebeten, die verdeckten Blätter, die vor ihnen liegen, umzudrehen.
Die Leitung liest auch diesen Text vor.

Wieder gehen alle in den Kreis und lesen den zweiten Text, diesmal aber leise murmelnd. Es entsteht ein Klangteppich der Vielstimmigkeit. Damit wird angedeutet, dass der gleiche Text durchaus vielstimmig erklingt und gehört wird.

Die Leitung erklärt die Bedeutung der unterschiedlichen Übersetzungen v.a. der Leitworte: gerade wenn es das Verständnis einzelner theologischer Begriffe geht, ist es wichtig, dass wir uns nicht allzu sehr von bestimmten Formulierungen und ihrer Wirkungsgeschichte festlegen lassen. Verschiedene Übersetzungen der Leitworte eröffnen dagegen einen Raum für die Annäherung an ihr Verständnis.
Beim anschliessenden Austausch über die Wirkung der verschiedenen Übersetzungen soll es nicht um die Frage gehen, ob eine Übersetzung richtig oder falsch ist, sondern darum, dass um die Leitworte herum ein Raum von Bedeutungen und Verstehensmöglichkeiten entsteht.
Beim Gespräch kann es um alle Teile der Texte, nicht nur um die Leitworte gehen.

Der Gemeinde begegnen

Aus drei verschiedenfarbigen Tüchern formt die Leitung Kreise und legt sie in Form eines gleichseitigen Dreiecks in den Innenraum der Texte. Aus den umlaufenden Texten werden jedem Kreis Blätter zugeordnet und zwar Blätter mit der Aufschrift:
Jüdinnen/Juden  (Kreis 1)  – Griechinnen/Griechen (Kreis 2) – Rettung/Befreiung (Kreis 3)
Anhand dieser drei Orte stellt die Leitung die Gemeinde in Rom und ihre Lebenssituation vor

- am Ort «Rettung/Befreiung» die historische Situation im Rom des 1. Jahrhunderts
– an den beiden anderen Orte die Gruppen in der Gemeinde bzw. im Umfeld der Gemeinde

(s. Gedanken und Informationen zum Text).

Gruppenarbeit im Raum I

Die Teilnehmenden werden eingeladen, die Gemeinde in Rom zu besuchen und sich in einer der beiden Gruppen, aus denen sie besteht, einzufühlen. Sie entscheiden sich für eine der beiden Gruppen (Jüdinnen und Juden oder Griechinnen und Griechen) und stellen sich an den entsprechenden Ort. Es bilden sich zwei Gruppen. Grosse Gruppen können geteilt werden.

Auftrag an die Gruppen:
– Fühlen Sie sich so weit als möglich in die Menschen aus der Gemeinde in Rom bzw. aus ihrem Umfeld ein, an deren Ort Sie stehen.

- Lesen Sie aus ihrer Perspektive den Satz aus dem Brief des Paulus, der Sie umgibt. Was löst er aus?

- Schauen Sie auf den dritten Ort (Rettung/Befreiung): Wie ist Ihre Gruppe von der historischen Situation in Rom betroffen?
Der Klang einer Klangschale eröffnet und schliesst das Gruppengespräch.

Gruppenarbeit im Raum II

Die Leitung gibt einige Hinweise zu Mosaiken als Kunstform im antiken Rom:

Mosaik ist eine schon im Altertum bekannte Technik, bei der durch Zusammenfügen von verschiedenfarbigen und/oder verschieden geformten Teilen (Stein- oder Glasstücken, auch Teilen von Papier oder Stoffen) Muster oder Bilder entstehen. Das Wort Mosaik leitet sich aus dem spätlateinischen Musaicum (opus) (Werk den Musen gewidmet) ab. Im römischen Reich waren Mosaiken besonders weit verbreitet. Viele Fussböden, aber auch manchmal Wände in Wohnbauten einer gehobenen sozialen Schicht waren mit Mosaiken dekoriert. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert waren vor allem schwarz-weisse Mosaike beliebt, wobei geometrische Motive dominieren.


Die Leitung übergibt den Gruppen schwarze und weisse Papierstücke und bittet sie, damit ein Mosaik zu legen. Das Mosaik soll symbolisch etwas von dem ausdrücken, was diese Gruppe in Rom sich an Rettung bzw. Befreiung erhofft.
Der Ort des Mosaiks liegt zwischen dem Ort der Gruppe und dem Ort von Rettung bzw. Befreiung. Wurde eine Gruppe geteilt, entstehen mehrere Mosaike nebeneinander.

Die Papierstücke haben das Format 10,5 x 7,5cm, d.h. A4-Blatt 3x gefaltet und zerschnitten. Jede Gruppe erhält ca. 2x96 Stück (1 A4-Blatt ergibt 8 Stücke).

Plenum im Raum
Die Gruppen stellen ihre Mosaike vor und berichten, was sie sich an Rettung bzw. Befreiung erhoffen. Sie erzählen, was ihnen an den Menschen in der Gemeinde in Rom, mit denen sie sich identifiziert haben, wichtig geworden ist bzw. was ihnen unverständlich und fraglich blieb. Offene Fragen zur Gemeinde in Rom und der historischen Situation werden geklärt 8s. Gedanken und Informationen zum Text).

Den Leitworten begegnen

Die Leitung nimmt 4 Blätter mit den Leitworten Gerechtigkeit, Bewährtheit, Glaube und Vertrauen aus den umlaufenden Texten und legt sie zu einem Quadrat in die Mitte. Das Quadrat erstreckt sich zwischen den 3 Orten und hat die Schale mit der Erde im Zentrum.
Bibeln (Zürcher Bibel oder Einheitsübersetzung, eine pro TeilnehmerIn), leere Blätter und Stifte werden an den Seiten des Quadrates bereit gelegt. Falls nicht genügend Bibeln vorhanden sind, werden Textblätter mit Röm 3,21-31 aus der mit genügend Raum am Rand für Notizen verwendet.
Die Leitung weist daraufhin, dass jetzt die Bedeutung der Leitworte für Paulus und die Gemeinde in Rom anhand einer grösseren Textpassage aus dem Brief an die Gemeinde  erarbeitet werden soll. Textstelle ist Röm 3,21-31.

Gruppenarbeit

Es werden Gruppen mit ca. 4-5 Personen gebildet. Nach Möglichkeit arbeiten die Gruppen in verschiedenen Räumen. Sie nehmen sich pro Person eine Bibel (oder ein Textblatt), sowie Zettel und Stifte mit. Zunächst liest die Gruppe gemeinsam Röm 3,21-31. Der Text nimmt die zentralen Themen von Röm 1,16-17 in einem grösseren Textzusammenhang wieder auf. Danach tauscht sich die Gruppe zur Frage aus:
Was könnten die Leitworte Gerechtigkeit/Bewährtheit und Glaube/Vertrauen aus der Sicht der Gemeinde in Rom bedeuten?
Wer möchte, kann sich wichtige Erkenntnisse notieren. Ein Bericht aus den Gruppen findet nicht statt.

Plenum

Damit das jetzt anschliessende längere Plenumsgespräch im Stuhlkreis für alle gut zu verfolgen ist, bittet die Leitung die Teilnehmenden den Kreis des umlaufenden Textes zu verkleinern, indem sie die Papierstücke so weit als möglich nach innen schieben, so dass dabei der Text weiterhin lesbar bleibt. Die Stühle werden entsprechend nachgerückt.

Das Plenumsgespräch fragt nach der Bedeutung der Leitworte für heute. Erkenntnisse oder offene Fragen aus der Gruppenarbeit können eingebracht werden, es wird aber nicht explizit danach gefragt.

Abschluss

Die Leitung lenkt den Blick auf den Raum, der in der heutigen Bibelarbeit fortlaufend gestaltet wurde: drei Kreise, das Dreieck der Orte der Gemeinde in Rom, die Mosaike, das Quadrat der Leitworte, evtl. noch Bibeln und Arbeitsblätter, in der Mitte die mit Erde gefüllte Schale. Der Raum ist zu einem zentrierten Bild geworden.

Die Bedeutung der Mitte mit der Schale voller Erde ist noch offen. Sie soll auch nicht festgelegt werden. Sie soll weiter wachsen können. Die Teilnehmenden nehmen sich Sonnenblumenkerne und legen diese in die Erde. In jedem dieser Kerne ist die Anlage einer ganzen Pflanze verborgen. In der richtigen Umgebung mit Wasser, Licht und Wärme wird der Same zu einer stattlichen Pflanze heranwachsen.

Wer von den Teilnehmenden möchte, kann benennen, was ihr bzw. ihm heute zum Zentrum der Begegnung mit dem Text geworden ist.

Zum Gesamteindruck der Bibelarbeit

Vielleicht entsteht am Ende der Bibelarbeit der Eindruck eines (nicht immer einfachen) Ringens um das Verständnis des Briefes und seiner zentralen Begriffe. Dieser Eindruck verbindet uns wahrscheinlich mit der Situation und Erfahrung der Gemeinde in Rom. Der Brief des Paulus will etwas bei der Gemeinde bewirken. Dagegen hat sich wahrscheinlich auch Widerstand geregt. Eine Auseinandersetzung kam in Gang. Dabei war das Bemühen des Paulus um eine Gemeinde aus jüdischen und nichtjüdischen (griechischen) Menschen langfristig nicht erfolgreich. So gesehen ist der Brief auch ein Ausdruck einer unerfüllten Hoffnung.

Gedanken und Informationen zum Text:

Gerechtigkeit und Glaube, Bewährtheit und Vertrauen – die Übersetzungen

Die Ausdrücke «Gerechtigkeit» und «Glaube» haben die christliche Tradition sehr stark geprägt. Auch wir persönlich haben unsere Geschichte mit ihnen. Wenn wir ihnen begegnen, begegnen wir ganz bestimmten Vorstellungen von ihrer Bedeutung. Für die Bibelarbeit ist es sinnvoll, sich ein Stück weit von diesen geprägten und vertrauten Vorstellungen zu lösen und sich den Ausdrücken neu anzunähern. Diesem Zweck dient es im ersten Schritt zwei verschiedene Übersetzungen zu verwenden. Die eine (Zürcher Bibel oder Einheitsübersetzung) übersetzt die beiden Ausdrücke vertraut, die andere in neuer, unvertrauter und zum Teil fremder Weise. Zwischen beiden Übersetzungen entsteht ein Freiraum. Die zweite Übersetzung macht darüber hinaus erkennbar, dass die Ausdrücke im Römerbrief selbst griechische Übersetzungen hebräischer Worte sind. Sie basiert auf der Übersetzung von Gerhard Jankowski in dessen Kommentar zum Römerbrief (s. Literatur). Um deutlich zu machen, dass die Gemeinde in Rom, an die Paulus schreibt, aus Frauen und Männern bestand, wird sie mit der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache ergänzt. Diese Übersetzung von Röm 1,16-17 lautet:

Denn ich schäme mich der Guten Botschaft nicht. Denn eine Kraft Gottes ist sie auf Befreiung hin jeder/m Vertrauenden, Jüdinnen und Juden zuerst als auch Griechinnen und Griechen. Denn Gottes Bewährtheit wird in ihr enthüllt aus Vertrauen auf Vertrauen hin, wie geschrieben ist: Die/der Bewährte wird leben aus Vertrauen.

Was wir traditionell mit Gerechtigkeit übersetzen, wird hier Bewährtheit genannt. Dahinter steht das griechische Wort dikaousyné. In der christlichen Tradition war vor allem die lateinische Übersetzung iustitia wirksam. Iustitia stammt aus dem lateinischen bzw. römischen Rechtsdenken. Es wird durch das Bild der Göttin Justitia mit den beiden Waagschalen, die gegeneinander abgewogen werden, symbolisiert. Gerechtigkeit ist ein abstraktes Messen.

Hinter dem Ausdruck im Römerbrief steckt aber ein Ausdruck aus der Bibel, das hebräische  zedaqa. Vermutlich ist die griechische Übersetzung dikaousyné der Versuch, das hebräische Wort sowohl inhaltlich als auch im Klang nachzuahmen. Zedaqa ist wie viele zentrale biblische Ausdrücke, ein Gemeinschafts- oder Beziehungswort. 

Allerdings bringt die griechische Übersetzung dikaousyné auch die griechische Philosophie ins Spiel, insbesondere die Tugendlehre, in der der Begriff eine wichtige Rolle spielt. Hier meint dikaiousyné die verpflichtende Rechtschaffenheit des einzelnen Menschen gegenüber den Göttern und den Menschen. Das kommt der biblischen Bedeutung recht nahe. Nach Martin Buber ist zedaqa in erster Linie ein Ausdruck von Übereinstimmung und Zuverlässigkeit. Wer mit zedaqa handelt (biblische Worte sind dynamische Worte), bringt etwas zur Geltung, schafft Raum, verwirklicht etwas zuverlässig und übereinstimmen: die zedaqa Gottes nämlich, die dem Menschen geschenkt ist und auf die er antwortet.
Martin Buber übersetzt darum das Wortfeld um zedaqa mit dem Wortstamm «wahr»: Bewährung, Bewahrheitung, bewährt… Um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich dabei um ein Beziehungswort handelt, wurde auch die Übersetzung «Gemeinschaftsgerechtigkeit» vorgeschlagen (F.W. Marquardt). Jankowski übersetzt mit Bewährtheit, bewährt, wahr machen.

Die Übersetzung Vertrauen statt  Glaube findet sich bei Jankowski und in der Bibel in gerechter Sprache. Auch hierfür ist die Rückbindung an die hebräische Bibel entscheidend. Dort stammen die entsprechenden Ausdrücke (emet, emuna, amen) aus dem Wortfeld «fest, beständig, zuverlässig, treu sein, vertrauen». Und auch die griechische Übersetzung, die sich im Römerbrief findet, pisteein, steht in dieser Tradition. Das Glossar der Bibel in gerechter Sprache führt als Beleg u.A. Mk 1,15 an: Vertraut dem Evangelium. «Gemeint ist eine Lebenspraxis, die dem kommenden Gottesreich schon in der Gegenwart entspricht. Ein solches Vertrauen ist das Gegenteil von Furcht»[1].

Bei der Verwendung zweier Übersetzungen geht es nicht darum, herauszufinden, welche Übersetzung die richtige oder bessere ist. Die eine richtige Übersetzung gibt es nicht. Es geht darum, allzu sehr gewohnte und nicht reflektierte Verstehensweisen aufzuweichen und Freiraum für einen neuen Zugang zum möglicherweise Gemeinten zu schaffen.

An wen richtet sich der Römerbrief?

In der Anschrift des Briefes (Röm 1,7) richtet Paulus seinen Gruss «an alle, die in Rom sind, Geliebte Gottes, gerufene Heilige».

«Geliebte Gottes» und «berufene Heilige» sind biblische Bezeichnungen für das Volk Israel.
Die Belege für den ersten Ausdruck sind zahlreich und finden sich quer durch alle biblischen  Schriften, u.A. Dtn 4,37; 1 Kön 10,9; Ps 87,2; Wsht 16,26. Vor allem in den prophetischen Schriften finden sich viele Beispiel dafür, u.A. Jer 12,7 (»mein Herzliebling»); Ez 16,8, Mal 1,2.  Gerufene Heilige sind die Menschen im Volk Israel, wenn sie ein Heiliges Volk genannt werden (das griechische Wort  kalein, das Paulus hier verwendet, kann rufen und nennen bedeuten), wie z.B. in Dtn 7,6 und 26,19; Makk 1,25-26, Ps 34,10; Sir 42,17. Rabbi Akiba (geboren um 50) fasst die jüdische Position zusammen: «Geliebte sind die Israeliten, denn sie sind Kinder (Gottes) genannt worden» (Talmudtraktat MAbot 3,15).

Der Brief richtet sich demnach an jüdische Menschen in Rom. Zur Zeit des Paulus gab es eine verhältnismässig starke jüdische Gemeinschaft in Rom. Der heutige Stadtteil Trastevere war ihr Wohngebiet Menschen. Sie waren in verschiedenen Synagogengemeinden organisiert.

Das Schreiben enthält wenig persönliche Anmerkungen. Es lässt kaum Rückschlüsse auf das konkrete Leben in der jüdischen Gemeinde zu. Der Stil ist, obwohl meist in der ersten Person Singular verfasst, eher unpersönlich und akademisch. Daraus lässt sich ableiten, dass Paulus die jüdische Gemeinde in Rom vermutlich nicht allzu gut kannte. Allerdings erzählt die Apostelgeschichte (Apg 18,1-3), dass Paulus in Korinth längere Zeit beim jüdischen Ehepaar Priszilla und Aquila lebt und arbeitet, die «vor kurzem» aus Rom gekommen waren, das sie wegen eines Edikts des Kaisers Claudius gegen die jüdische Gemeinde verlassen mussten.

Paulus geht davon aus, dass der jüdischen Gemeinschaft auch sympathisierende Nichtjuden angehören. Sie nennt Paulus «Griechen». Sie wurden auch als «Gottesfürchtige» bezeichnet und sind im Umfeld der jüdischen Gemeinden in der gesamten Diaspora bekannt. Auch im Neuen Testament ist von ihnen die Rede (Apg 10,2; 17,4, 18,7). In Apg 16,14 wird die Purpurhändlerin Lydia in  Philippi so genannt. Gottesfürchtige waren nichtjüdische Menschen, die von der Art des jüdischen Lebens und Glaubens angezogen wurden (oftmals vom klaren Monotheismus, der Ethik (10 Gebote) und vom Sabbat). Sie konnten unter bestimmten Voraussetzungen an jüdischen Gottesdiensten und Festen teilnehmen. Nach einem Jahr mussten sie sich dem Tauchbad unterziehen und die Männer sich beschneiden lassen. Sie waren dann Proselyten (zu einem weiteren Ritual beim Übertritt ins Judentum s.u.).
Innerhalb der starken und vielfältigen jüdischen  Gemeinschaft in Rom gab es auch Menschen, die vom Glauben an den Messias (Christus) Jesus geprägt waren. Eine eigenständige, von der jüdischen Gemeinde abgetrennte messianische Gemeinschaft scheint Paulus aber nicht zu kennen. Sie ist Teil der grösseren jüdischen Gemeinde.

Paulus spricht sowohl die jüdischen als auch die nichtjüdischen Menschen in der Gemeinde in Rom bzw. ihrem Umfeld an. Er wendet sich an «Juden» und «Griechen» bzw. «Heiden». Der gesamte Römerbrief lässt sich mit Blick auf diese Adressatengruppen in drei Teile aufteilen:

  • Die Kapitel 1-8 wenden sich an Jüdinnen und Juden und argumentiert für die Öffnung des Bundes Gottes auch für die Heiden.
  • Die Kapitel 9-11 wenden sich an die Griechinnen und Griechen und argumentiert für die bleibende Bedeutung des Volkes Israel.
  • Die Kapitel 12-15 ermahnen beide Seiten zum Zusammenleben, bei dem sie sich gegenseitig in ihrer Unterschiedlichkeit respektieren.

Der Brief schliesst mit Grüssen in Kapitel 16.

Paulus argumentiert durchgehend auf der Grundlage der Schrift und in der Form jüdischer Schriftgelehrter. Er setzt voraus, dass die Empfängerinnen und Empfänger die Art seiner Diskussion verstehen und sich ein Stück weit  in der Schrift und im jüdischen Denken und Leben auskennen. Die nichtjüdischen Adressatinnen und Adressaten führt er in ein Lehrhaus jüdisch-biblischen Denkens. Der Abschnitt Röm 1,16-17 z.B. schliesst mit einem Zitat aus dem Propheten Habakuk (2,4).

Jüdinnen und Juden in Rom

Wahrscheinlich gelangten viele jüdische Menschen als kriegsgefangene Sklaven aus Palästina oder der östlichen Diaspora in die Metropole des römischen Reiches. Im Verlauf der Zeit erhielten wohl viele, entweder durch Freigabe durch ihren Besitzer oder Freikauf den Status der Freigelassenen. Aber auch aus ökonomischen Gründen (Handel) dürften viele Jüdinnen und Juden nach Rom gekommen sein. Zur Zeit des Paulus gab es eine verhältnismässig starke jüdische Gemeinschaft in Rom. Sie scheint wohlhabend gewesen zu sein, gehörten doch etwa ein Dutzend Gebetshäuser und Synagogen zu ihrem Besitz. Die jüdischen Menschen verhielten sich mehr oder wenige loyal zur römischen Herrschaft. Darauf deuten die Patronatsnamen der Synagogen, die im Bezug zu einem römischen Imperator (Augustus) oder zu jüdischen, von Rom abhängigen Königen standen (Herodes, Agrippa).
Die starke, loyale jüdische Gemeinschaft erwies sich als nützliches Bindeglied in den Beziehungen zwischen der römischen Herrschaft und dem Königreich und der späteren Provinz Judäa. Durch die Nähe zur Metropole waren sie genauestens über die gültige politische Linie informiert und konnten ihren Einfluss zu Gunsten der gesamten Judenheit einsetzen.

Zudem haben die Juden in Rom sich wohl auch der Gottesfürchtigen bedient. Diese Hinzugekommenen stammten nicht selten aus der Oberschicht und konnten sich dank ihrer Stellung und ihren Ämtern für die jüdische Sache einsetzen. Durch die Proselyten und Proselytinnen wurde die jüdische Gemeinschaft in Rom zu einer wichtigen Grösse für alle Juden im Römischen Reich. Jerusalem blieb aber weiterhin das Zentrum jüdischen Lebens.

Griechinnen und Griechen in Rom.

Paulus bezeichnet alle nichtjüdischen Menschen als «Griechen». Diese Zweiteilung der Welt gab es auch umgekehrt. Menschen griechischer Abstammung besassen im römischen Reich einen ganz besonderen Status. In den Augen der Römer war die griechische Kultur und Sprache allen andern Kulturen und Sprachen des Imperiums überlegen. Die Römer verstanden sich als die Erben des Griechentums. Die Menschen anderer Kulturen wurden abschätzend als Barbaren (Fremde) bezeichnet. Auch die jüdische Bevölkerung gehörte aus diesem Blickwinkel zu den sogenannten Barbaren.

Aus jüdischer Sicht, die Paulus aufnimmt, sind aber nun gerade alle Nichtjuden, egal welcher Herkunft Griechen. Auch die jüdische Zweiteilung der Welt hat eine Tendenz zur Abwertung der anderen, der «griechischen» oder «heidnischen» Seite. Gegen diese Abwertung und Ausgrenzung wendet sich Paulus.

Die Rede von den «Griechen» hat im Rom um das Jahr 50 aber auch eine aktuelle politische Dimension. Nach der Willkürherrschaft von Kaiser Caligula (s.u.) versuchte dessen Nachfolger Claudius das Kaisertum nach dem Vorbild des Augustus zu reformieren und wieder neu zu gestalten. Vor allem durch hochqualifizierte «Freigelassene», ehemalige Sklaven, die fast alle griechischer Abstammung waren, gelang es ihm, das Verwaltungschaos, das sein Vorgänger hinterlassen hatte, zu beseitigen. Als Freigelassene griechischer Herkunft verfolgten diese eine konsequente Hellenisierung des Reiches. Sie gaben der Verwaltung eine neue Ordnung, in dem sie Ämter schufen, wie z. B. die Getreideverteilung, das Justizwesen, die Bürgerrechtsverteilung an Nichtrömer und deren Zulassung zu höheren Ämtern. Unter ihrer Hand entstand in Rom eine neue Eliteschicht, die die Politik des Imperiums bestimmte und gestaltete.  Von den Menschen griechischer Abstammung sympathisierten viele mit dem Judentum und auch mit der messianischen Bewegung des Messias Jesus. Paulus versteht Abraham auch als ihren Vater (Röm 4,17) und nennt sie von Gott Gerufene aus den Völkern (Röm 9,24).

Rettung und Befreiung: Die römischen Verhältnisse

Der Römerbrief zeigt, dass Paulus über die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in Rom Einiges wusste. Zu dieser Annahme geben die bekannten Sätze über den Staat (Röm 13) und die Äusserungen über das gesellschaftliche Leben der Nichtjuden (Röm 1,18-32), Anlass. Vor allem letztere sind als plakative Schilderungen der Zustände in Rom während des Prinzipats der Kaiser Caligula (37-41) und Claudius (41-54) zu lesen. Es wird angenommen, dass der Römerbrief in den letzten Jahren des Claudius oder zu Beginn der Herrscherzeit des Nero (54-68) verfasst wurde.

Das römische Imperium war zu dieser Zeit auf dem Gipfel seiner Macht und sah sich als «Ordner der Welt». Die Friedensordnung, in den Geschichtsbüchern als «Pax romana» bezeichnet, bestand darin, die eroberten Völker unter römischer Obhut zu lenken. Das hiess nichts Anderes, als jene Völker, die sich unterwarfen zu schonen und die aufständischen endgültig zu besiegen. Das Ziel, das einst Alexander dem Grossen und seinen Nachfolgern vorschwebte, nämlich eine Welt zu schaffen, in der es einen Herrscher, eine Sprache, eine Kultur und eine religiöse Grundhaltung gab, schien im «Imperium romanum» erreicht.

Unter Kaiser Caligula kam es allerdings zu Exzessen der Macht. Das ist den Schriften des römischen Geschichtsschreibers Sueton (geboren um 70 n. Chr.) zu entnehmen. Caligula folgte nicht der gemässigt autoritären Herrschaftsform seiner Vorgänger Augustus und Tiberius. Er war ein absoluter Herrscher, dessen Willkür und Despotismus keine Grenzen kannte. Er sah sich als Gott und liess sich auch in einem, von ihm errichteten Tempel als Staatsgott huldigen. Dasselbe plante er im Jerusalemer Tempel und in einer Synagoge in Alexandria.

Diese Pläne mussten die Menschen im Osten des Imperiums in Sorge und Unruhe versetzen. Die Vergottung von Herrschern war ihnen aus der Zeit Alexanders des Grossen und seinen Nachfolgern bekannt, hatte doch genau das in Judäa vor über 200 Jahren zum Makkabäer-Aufstand geführt.

In den jüdischen Gemeinden werden wohl die Machenschaften der Despoten Roms und der obersten Gesellschaftsschicht, die sich nicht nur auf die Metropole beschränkten, zu heftigen Diskussionen Anlass gegeben haben. Gemessen an den Weisungen der Tora war dieses Handeln absolut verabscheuungswürdig. Es war die Bestätigung, dass die nichtjüdische Welt ganz und gar verdorben war (vgl. Röm 1,18-32). Jüdische Menschen mussten die römische Weltordnung als eine Art Wiederholung der Erfahrungen ihrer Vorfahren in Ägypten erlebt haben. Nur war die römische Weltordnung um einiges gigantischer, ein Sklavenhaus im Weltmassstab. Unter diesen Bedingungen war ein wahrhaft befreites Menschsein, wie es die Tora fordert und verheisst, unvorstellbar.

In Israel selbst entstand aus diesem Konflikt der militärische Aufstand gegen die römische Besatzung, der in der katastrophalen Niederlage des Jahres 70 und mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels endete. In der Diaspora neigten die jüdischen Gemeinden eher dazu, sich dem Staat gegenüber loyal zu verhalten und die Lebensmöglichkeiten, die er einräumte (und zu denen auch etliche Privilegien wie das Recht, den Sabbat einzuhalten, gehörten) zu nutzen, sich aber ansonsten so weit es ging, von der nichtjüdischen Umwelt abzugrenzen. Paulus und die Bewegung, aus der später das Christentum erwachen sollte, wollten einen anderen Weg gehen. Aus der Erkenntnis, dass man unter den herrschenden Verhältnissen unmöglich das wahrhafte, befreite Menschsein der Tora leben konnte, dass man also auch als toragläubiger Mensch nur ein sündiger Mensch sein konnte, sah er die Grenzen zwischen Judentum und Heidentum aufgelöst. Er deutete den biblischen Bund Gottes mit Israel als einen, der für alle Menschen offen steht. Die Gerechtigkeit Gottes ist allen geschenkt, die darauf vertrauen. Paulus träumte von einer echten Lebensgemeinschaft zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen, einer Gemeinschaft, in der die jeweiligen Unterschiede respektiert sind und in der die Menschen aus den Völkern bei Israel lernen, wie das Leben im Bund mit Gott und nach der Tora gestaltet werden kann – hin zu einem wahrhaft befreiten Menschsein. Diese neue Gemeinschaft, die messianische Gemeinschaft im Glauben an den Messias Jesus, würde – so die Hoffnung des Paulus – die Welt  verändern. Was hat sich von dieser Hoffnung erfüllt?

Röm 3,21-31

Der Textabschnitt nimmt die Leitworte aus 1,16-17 wieder auf: Gerechtigkeit und Glaube. Auch wenn jetzt nicht mit einer neuen, ungewohnten Übersetzung gearbeitet wird, liegen ja die Blätter mit den Ausdrücken «Bewährtheit» und «Vertrauen» im Innenkreis. Die Gespräche über die Übersetzungsvarianten werden weiterwirken. Auch das Verhältnis von Juden und Heiden/Griechen bzw. Beschnittenen und Unbeschnittenen wird wieder thematisiert (3,27-31). Bei letzterer Formulierung lässt sich der männerzentrierte Blick des Paulus nicht mehr durch die Übersetzung ausweiten. Trotzdem sind wohl auch hier Frauen grundsätzlich mitgemeint.
Im Zentrum des Textes steht die Erlösung bzw. Sühneleistung durch Jesus Christus «mit seinem Blut» (3,24-25). Die deutschen Übersetzungen umschreiben hier in der Regel und verwischen so einen Bezug zum Alten Testament bzw. zum Judentum. Christus wird hier im griechischen Text als hilasterion bezeichnet. Das ist die Übersetzung des hebräischen Wortes kaporet. Das Wort stammt von der Wurzel kfr, bedecken. Kaporet ist die Deckplatte der Bundeslade. Sie spielt im Ritual des Versöhnungstages, des Jom Kippur, eine zentrale Rolle. Lev 16,15-17 beschreibt, wie das Blut eines Ziegenbocks an die Kaporet gespritzt werden soll. Der Bock ist das Sühneopfer für das Volk Israel. Lev 16,29-34 benennt die Folgen: Die Sünden des Volkes werden bedeckt. Israel wird von allen Sünden gereinigt. Sünde ist in der Bibel ein Beziehungswort. Die Beziehung zu Gott ist gestört. Das Bundesverhältnis des Volkes zu Gott wird am Versöhnungstag wieder hergestellt. Paulus ruft hier also das Geschehen am Jom Kippur im Tempel von Jerusalem in Erinnerung. Es hat sich auch in Jesus Christus ereignet.

Das Wort Blut ruft aber im Kontext des Römerbriefes noch einen Zusammenhang auf. Der Verzicht auf den Verzehr von Blut (als Zeichen des Lebens, das Gott gehört), ist ein zentrales Unterscheidungsmerkmal von Juden und Heiden. Nach Lev 17,10ff. müssen Menschen, die zum Judentum übertreten (Proselyten), sich auch des Verzehrs von Blut enthalten. Der Übertritt war erst vollendet durch das Sprengen des Blutes am Versöhnungstag zur Sühne früherer Sünden. Auch das ist für Paulus durch Christus geschehen.

Am Ende des Abschnittes (3,31) betont Paulus, dass durch dieses Geschehen und seine Deutung das Gesetz, die Tora, also auch die Weisungen im Buch Levitikus zum Versöhnungstag, nicht aufgehoben, sondern bestätigt und aufgerichtet werden.

Literatur:

JANKOWSKI, Gerhard, Die grosse Hoffnung. Paulus An die Römer. Eine Auslegung, Berlin 1998.

JANKOWSKI, Gerhard, Brandstifter. Auf den Spuren des Paulus in Rom. Eine Erzählung,  Berlin 2004.

BIBEL IN GERECHTER SPRACHE, Gütersloh 2006.

 



[1] BigS 2354