Wir beraten

Die Utopie auf dem Berg   

Peter Zürn zum Evangelium am 2. Fastensonntag: Mk 9,2–10, SKZ 7-8/2012

 

Vier Frauen reden auf einem Berg miteinander: Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Hadewijch und Etty Hillesum. Sie treffen sich im Museum Rietberg in Zürich im Rahmen der dortigen Mystik-Ausstellung.1 Von einem vergleichbaren Gespräch über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg, erzählt Mk 9,2–10.

Mit Markus im Gespräch

Auf einem nicht lokalisierten Berg reden Jesus, Mose und Elija miteinander. Er ist ein ou-topos, ein Noch-Nicht-Ort, eine Utopie. Achten wir auf den Gesprächsrahmen. Voraus geht eine Zeitangabe: «Sechs Tage danach» (9,2). Wonach? Nach dem Satz Jesu: «Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie gesehen haben, dass das Reich Gottes in seiner ganzen Macht gekommen ist» (9,1). Er spricht zu den Jüngerinnen und Jüngern und einer ganzen Volksmenge (8,34). Im Evangelium lesen das Menschen, die das Gegenteil davon erlebt haben: Nicht das Reich Gottes ist gekommen, sondern die Katastrophe von Krieg und Bürgerkrieg. Zehntausende haben Tod und Versklavung erlitten. Wer hat das Reich Gottes in all seiner Macht gesehen?

Am Ende wird gefragt «was das denn sei, von den Toten auferstehen» (9,10). Auch das dürfte eine Frage der Lesenden sein, die den Osterruf gehört haben: «Er ist auferstanden.» Was soll denn die Auferstehung eines Einzelnen angesichts so vieler Tode? Wie können wir nach Jerusalem, nach Ausschwitz, nach Srebrenica, nach Ruanda, nach dem Massensterben am Horn von Afrika von Auferstehung und dem Gott des Lebens sprechen?

Fragen, die der Klärung bedürfen. Das heutige Evangelium ist die Geschichte einer Klärung. Jesus wählt Petrus, Jakobus und Johannes aus. Sie sind im Kreis der Jüngerinnen und Jünger, die im Markusevangelium von dem geprägt sind, was die Exegese «Jüngerunverständnis» nennt, wohl die drei, die sich am schwersten damit tun, Jesus und seinen Weg mit Gott zu verstehen. Mit ihnen gehen wir Leserinnen und Leser auf den Berg. Uns allen soll etwas klar werden. Vor unseren Augen wird Jesus verwandelt. Es wandelt sich das Bild, das wir von ihm haben.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Wir sehen Jesus mit Mose und Elija sprechen. «Mose» und «Elija» sind in der Bibel mehrfach aufeinander bezogen:

           1. Sie verkörpern die Schrift. Mose steht für die Tora, die fünf Bücher der Weisung, die Grundlage jüdischen Glaubens und Handelns. Elija steht für die Prophetinnen und Propheten, die diese Tora immer wieder in Erinnerung rufen und auf neue Situationen hin lebendig machen. Mose und Elija, das Gesetz und die Propheten, das ist zur Zeit Jesu die ganze Heilige Schrift (der dritte Teil des jüdischen Kanons, die Schriften, wurde erst im Lauf des ersten Jahrhunderts abgeschlossen). Jesus steht also mit der Schrift im Gespräch. Wer Jesus ist und welchen Weg er geht, klärt sich im Gespräch mit Mose und den Propheten, mit der Schrift. Wer von Jesus spricht und dabei nicht an diesem Gespräch teilhat, hat nicht richtig verstanden.

           2. Am Ende der prophetischen Schriften, in Mal 3,22–24, kommen Mose und Elija in eschatologischer Perspektive zusammen. Das Gedenken der Tora des Mose und das Kommen des Elija bereiten Israel auf den Tag Gottes vor. Dtn 18,15 klingt an: die Verheissung, dass Gott einen Propheten wie Mose aus der Mitte Israels aufstehen lässt.

           3. Mose und Elija auf dem Berg stehen für zwei Begegnungen mit Gott am Gottesberg, der einmal Sinai und einmal Horeb genannt wird.2 Am Sinai offenbart Gott dem befreiten Volk Israel die Tora und schliesst einen Bund mit ihm (Ex 19 ff.). Elija klagt am Horeb, dass die Israeliten den Bund verlassen und die Freiheit verspielt haben. «Ich allein bin übrig geblieben, und nun trachten sie auch mir nach dem Leben» (1 Kön 19,10). Die Beziehung zu Gott und die Beziehungen innerhalb des Volkes sind zerbrochen. Deswegen ist Gott nicht mehr im Sturm, im Erdbeben und im Feuer, in dem er sich auf dem Sinai gezeigt hat. Gottes Stimme ist nur noch ein «verschwebendes Schweigen» (Buber). Sinai und Horeb stehen für die geglückte und die gescheiterte Beziehung zwischen Israel und seinem Gott, für die erfüllte und die zerbrochene Heilsgeschichte. In Mk 9,2–10 ist beides präsent. Nach dem Untergang Jerusalems und des Tempels ist die Rede vom Gott der Schrift, vom Reich Gottes und von der Auferstehung der Toten nur noch eine hauchdünne Stimme. Aber mit Mose ist die Frage nach dem Bund und der Heilsgeschichte gegenwärtig. Wie kann es weitergehen?

Mk 9,7 weist an: «Das ist mein geliebter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören.» Die Jünger und die Lesenden sollen sich in der biblischen Aufgabe des Hörens üben. Sie sind gerufen zu hören wie das Volk Israel: «Höre Israel, Adonaj ist unser Gott, Er ist Einer» (Dtn 6,4). Das Glaubensbekenntnis des Volkes ist oftmals das letzte Bekenntnis jüdischer Menschen in der Todesstunde. Es ist das Bekenntnis zu dem Einen Gott, der im Leben und im Tod und über den Tod hinaus da ist. Die Stimme, die vom «geliebten Sohn» spricht (wie in Mk 1,11), verweist auf den Gottesknecht in Jes 42,1 und den König in Ps 2,7 und in beiden stellvertretend auf das Volk Israel.3 So klärt sich das Bild Jesu: Er wird in seiner Verbundenheit mit Israel sichtbar, als der, der den Weg seines Volks mitgeht, auch bis in den Tod hinein, im Vertrauen auf den einen Gott des Lebens vor und nach dem Tod, der sich und seinen Söhnen und Töchtern treu bleibt. Etty Hillesum und er hätten sich viel zu sagen.4

Mk ringt um die Beziehung zwischen Israel und seinem Gott. Und um die Beziehungen innerhalb des Gottesvolkes. Er ringt um die Beziehung derer, die an Jesus als den Messias und Sohn Gottes glauben, zu den anderen Jüdinnen und Juden, die diesen Glauben nicht teilen. Und um den gemeinsamen Glauben an den Gott des Lebens, den die Schrift bezeugt, auch nach der Katastrophe.5 Mk entwirft einen Ort, an dem sie miteinander reden können. «Es ist gut, dass wir hier sind», sagt Petrus über diesen Ort. Klingt hier das «siehe, es war gut» aus der Schöpfungsgeschichte an? «Hier» heisst es schon in 9,1: «Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie gesehen haben, dass das Reich Gottes in Macht gekommen ist.» Wo christliche und jüdische Menschen miteinander in der Schrift lesen und über ihren Glauben und ihre Zweifel, ihr Leben, die Brüche darin und ihre Hoffnung sprechen, ist Ort des Reiches Gottes. Noch ist es eine Utopie. Aber es war auch lange eine Utopie, dass vier Frauen öffentlich über ihre Gotteserfahrungen reden und Tausende auf sie hören.