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Heil(ung) für alle Kranken?   

Franz Annen zum Evangelium am 5. Sonntag im Jahreskreis: Mk 1,29–39, SKZ 3/2012

 

Die zu besprechende Sonntagsperikope bildet zusammen mit dem Evangelium des vergangenen Sonntags (Mk 1,21–28) einen geschlossenen Abschnitt, der oft als «Tag von Kafarnaum» bezeichnet wird. Es handelt sich um den Anfang des Wirkens Jesu im Mk-Evangelium. An einem Sabbat beginnt er zu lehren und als Heiler zu wirken (Mk 1,21–38), bevor er weiterzieht und seine Tätigkeit auf ganz Galiläa ausdehnt (Mk 1,39).

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Mk schrieb sein Evangelium in erster Linie im Blick auf Heidenchristen. So bezieht er sich seltener und weniger ausdrücklich auf das AT als die andern Evangelisten. Dass aber auch seine Version des Evangeliums ganz selbstverständlich auf alttestamentlich-jüdischem Hintergrund geschrieben ist, zeigt schon der Umstand, dass der Anfang des Wirkens Jesu an einem Sabbat und in der Synagoge beginnt.

Doch einem vertieften Blick eröffnen sich grundsätzlichere Bezüge des heilenden Wirkens Jesu in Kafarnaum, wie es in Mk 1,29–39 geschildert wird, zur alttestamentlich-jüdischen Überlieferung. Der Prophet Jesaja verheisst für die messianische Zeit die Heilung aller Krankheiten und Gebrechen, so etwa in Jes 35,4–6: «Gott selbst wird kommen und euch erretten. Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge der Stummen jauchzt auf.»1 Auch im späteren Judentum «ist die Hoffnung verbreitet, dass im neuen Äon oder in der messianischen Zeit Krankheiten und Not verschwinden werden»2. Dabei ist Gott selbst der Arzt Israels, der die Krankheiten beseitigt. Dagegen gibt es keine alttestamentlichen oder andere jüdischen Texte, nach denen der Messias als Heiler auftritt. Mt und Lk hingegen (Mt 11,2–6 par Lk 7,18–23; Lk 4,18–19) beziehen die einschlägigen Jes-Texte ausdrücklich auf das Wirken Jesu. Mk macht das nicht so deutlich, sieht es aber ebenso, wenn er in 7,37 in offensichtlicher Anspielung auf Jes 35,5 schreibt: «Ausser sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.»

Anders als der Messias wird der erwartete endzeitliche Prophet im Judentum mit Heilungswundern in Verbindung gebracht. Die Propheten Elija (1 Kön 17–24; 2 Kön 1–2) und noch mehr Elischa (1 Kön 19; 2 Kön 2–13) sind im AT die grossen Wundertäter (u. a. Heilung von Aussätzigen, Totenerweckungen, wunderbare Brot- und Ölvermehrung). Von Elija, der nach 2 Kön 2,1–14 nicht gestorben, sondern auf feurigem Wagen zum Himmel entrückt wurde, glaubten viele, dass er in der Endzeit wiederkomme (Mal 3,23–24; Sir 48,18). Die Evangelien berichten, dass Johannes der Täufer (Mt 11,14; Lk 1,17), aber auch Jesus selbst (Mk 8,28 par Mt 16,14; Lk 9,19) von einem Teil der Menschen als wiedergekommener Elija angesehen wurde. Einzelne Wunder Jesu (vgl. besonders Lk 7,11–17) wurden in deutlicher Anspielung auf Elijah erzählt.

Es besteht kein Zweifel, dass die frühen Christen die Wundertätigkeit Jesu als Erfüllung der endzeitlichen Erwartungen sahen, die sich mit den prophetischen Verheissungen für die messianische Zeit, aber auch mit dem wiederkehrenden Elija verbanden. Auch Mk steht in dieser Tradition, obwohl er es nicht so ausdrücklich wie Mt und Lk sagt. Auf diesem Hintergrund gestaltet er den Anfang des Wirkens Jesu am «Tag von Kafarnaum» als eindrückliche Demonstration der heilenden Macht Jesu. Er heilt einen Besessenen (1,21–28) und die Schwiegermutter des Simon (1,29–31). Der anschliessende Sammelbericht (1,32–34) steigert diese Heilungsmacht über die zwei Einzelfälle hinaus: Man bringt «alle Kranken und Besessenen» (1,32); «die ganze Stadt» (1,33) versammelt sich vor der Haustüre. Und er heilt «viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus» (1,34). Doch Jesus beschränkt sich nicht auf Kafarnaum, sondern will auch anderswohin gehen «in die benachbarten Dörfer» (1,38). Schliesslich zieht er «durch ganz Galiläa» (1,39), predigt und heilt Besessene. Ein späterer Sammelbericht (3,7–12) steigert die heilende Tätigkeit Jesus nochmals eindrücklich: «Auch aus Judäa, aus Jerusalem und Idumäa, aus dem Gebiet jenseits des Jordan und aus der Gegend von Tyrus und Sidon kamen Scharen von Menschen zu ihm, als sie von dem hörten, was er tat … Denn er heilte viele, so dass alle, die ein Leiden hatten, sich an ihn herandrängten, um ihn zu berühren …»

Kein Zweifel: In Jesus ist die heilende Macht Gottes präsent. Er ist der grosse Heiler, um den sich die Menschen drängen, die von Krankheiten und Leiden geplagt werden. Und viele erfahren tatsächlich Heilung. Jesus ist der Heiland der Kranken. Das ist die Botschaft des «Tages von Kafarnaum» bei Mk.

Mit Markus im Gespräch

Was machen wir mit dieser Botschaft? Warum hat sich das verheissene Heil bisher nicht durchgesetzt? Warum gibt es auch heute so viele Kranke, die sich umsonst um Heilung an Jesus wenden? Übrigens: Auch Mk sagt nicht, dass Jesus alle Kranken geheilt habe. «Alle» (1,32.37) Kranken und Leidenden drängten sich zu ihm und er heilte «viele» (1,34; 3,10).

Ein Aspekt, der im Mk-Text sehr wichtig ist und den wir bisher nicht beachtet haben, kann uns in diesen Fragen weiterhelfen: Jesu Umgang mit den Besessenen bzw. den Dämonen. Mk erzählt gerne davon, dass Jesus Besessene heilte (1,21–29; 5,1–20; 7,24–30; 9,14-29) und betont diesen Aspekt seines Wirkens in seinen zusammenfassenden Sammelberichten (1,32–34; 3,7–12). Das sog. «Beelzebulgespräch» (3,22–29) stellt heraus, dass Exorzismen ausdrücklicher als die andern Wundertaten den grundsätzlichen Sieg Jesu über die Mächte des Bösen und damit die Ankunft des Reiches Gottes zeigen. Ausserdem geben sie Mk die Möglichkeit, vom Anfang des Wirkens Jesu an auf das noch verborgene Geheimnis seiner Persönlichkeit hinzuweisen. Die Dämonen wissen auf Grund ihres «höheren» Wissens darum (1,24.34) und schreien es heraus: «Du bist der Sohn Gottes» (3,11; vgl. auch 1,24; 5,7). Interessanterweise gebietet Jesus ihnen jedes Mal, darüber zu schweigen. Dieses Schweigegebot bekommen später auch die Jünger (8,30), wie sie anfangen, Jesus zu verstehen (8,29: «Du bist der Messias!»). Die Lösung dieses «Messiasgeheimnisses», wie die Exegese diesen Zug des Mk-Evangeliums nennt, ergibt sich aus Mk 9,9, wo Jesus beim Abstieg vom Berg der Verklärung den drei Jüngern verbietet, davon zu erzählen, «bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei». Für Mk erschliesst sich das Geheimnis Jesu und auch seine Sendung als Heilbringer erst von Kreuz und Auferstehung her. Die Heilungen von Kranken und Besessenen sind Zeichen dafür, die für sich allein missverständlich sind. Jesus ist nicht einfach ein besonders mächtiger Krankenheiler, sondern der Künder und Bringer des Reiches Gottes, des Heils in Fülle, das weit über körperliche Heilung hinausgeht.

Das mag für Kranke und Leidende, die bei ihm Heilung suchen, zunächst eine Enttäuschung sein. Einige mögen zwar wie die «vielen», die Jesus heilte, selber zum Zeichen werden und auch körperliche Heilung erfahren. Aber die meisten werden in seiner Nachfolge durch Tod und Auferstehung hindurch zum Heil gelangen, das er schenkt. Aber dieses Heil ist dann auch mehr als körperliche Heilung. Es ist Leben in der Fülle des Reiches Gottes.