Wir beraten

Begegnung mit dem Pfarreipatron Stephanus im Pfarreirat   

Ein Teilprojekt zur biblischen Beseelung der Pastoral


Vorüberlegungen und Ziele

Im Vorfeld des Projektes war es nicht gelungen, den Pfarreirat als Begleit- oder Spurgruppe für das Gesamtprojekt zu gewinnen. Ein Grund dafür waren grössere personelle Veränderungen im Pfarreirat gewesen. Der neu zusammengesetzte Pfarreirat plante für Herbst 2010 eine eintägige Retraite. Ziele waren das vertiefte Kennenlernen der Mitglieder des Rates und die Auseinandersetzung mit dem Leitbild der Pfarrei als Grundlage der Arbeit im Pfarreirat. Es lang nahe, die Retraite mit dem Projekt «Biblisches umgeSETZT» zu verknüpfen. Peter Zürn entschied sich dafür, den Pfarreipatron Stephanus aus der biblischen Apostelgeschichte zum Thema zu machen. Dies umso mehr, als er – auffallenderweise im bisherigen Verlauf des Projektes keine Rolle gespielt hatte und auch im Leitbild der Pfarrei nicht vorkommt.

Vorgehen und Methoden

In einer ersten Runde wurde gefragt, was der Pfarreipatron und Namensgeber St. Stephan bei den einzelnen Mitgliedern des Pfarreirates auslöst. Die Antworten waren von einer Spannung geprägt: Einerseits löste der Name Stephan bzw. Etienne viel positive Resonanz aus, andererseits verbanden viele mit dem biblischen Stephanus in erster Linie die Geschichte der Steinigung und damit eher Abschreckendes.
Daran anschliessend wurde in den historischen Hintergrund der biblischen Texte um Stephanus eingeführt. Apg 6,1 nennt zwei Gruppen, die im Streit miteinander lagen: Hebräer und Hellenisten. Damit ist eine Auseinandersetzung im Judentum der damaligen Zeit benannt. Für die beiden Gruppen des hebräischen und des hellenistischen Judentums wurden zwei Orte benannt, die das Zentrum der jeweiligen Gruppe bilden, Jerusalem und Alexandria in Ägypten. Für jeden Ort wurde ein Stuhl aufgestellt. Sie wurden folgendermassen charakterisiert:

  • Jerusalem steht für die Konzentration auf die ursprüngliche Sprache der Überlieferung (Hebräisch), für eine eher konservative Haltung, für die Ausrichtung auf ein Zentrum, für die Abgrenzung von anderen Kulturen bzw. den Blick auf das eigene Profil, das Besondere und Unterscheidende;
  • Alexandria steht für die Übersetzung der Überlieferung in die Sprache der Gegenwartskultur (Griechisch), für eine eher moderne Haltung, für die Ausrichtung auf verschiedene Zentren, für die Begegnung mit anderen Kulturen bzw. den Blick auf das Gemeinsame und Verbindende.;

Ein dritter Stuhl wurde aufgestellt und mit Therwil / Biel-Benken benannt. Die Teilnehmenden wurden gefragt, ob sie etwas von den Hebräern und Hellenisten bzw. von Jerusalem und Alexandria in ihrem Pfarreikontext wiedererkennen. Der Wiederkennungswert war sehr rasch sehr hoch. Die Auseinandersetzung zwischen Jerusalem und Alexandria wurde zu einem für die Teilnehmenden aktuellen Konflikt.


Im nächsten Schritt wurde Stephanus nach dem Text von Apg 6 eindeutig dem hellenistischen Lager zugeordnet. Ausserdem wurde gezeigt, dass es sich beim biblischen Stephanus um einen Schriftgelehrten handelt. Er versucht in der Auslegung der Schrift, das Überlieferte mit dem Neuen zu verbinden. Um das genauer zu erkennen, verglich die Gruppe zwei Bibeltexte miteinander: die Nacherzählung der Berufung des Mose am brennenden Dornbusch in der Rede des Stephanus in Apg 7,29-34 mit dem entsprechenden Text von Ex 3,1-10. Dazu wurden die beiden Texte auf einem Arbeitsblatt nebeneinander gestellt. Der genaue Textvergleich erbrachte (unter Anderem) folgende Erkenntnisse und Vermutungen zu ihrem Hintergrund:

  • Stephanus erwähnt die beiden Söhne des Mose, die in Midian geboren wurden, nicht aber die Tätigkeit des Hirten. Ist das der Blick eines eher städtisch geprägten Lebens in der Diaspora, das durch die Geburt von Kindern in der Fremde Zukunft gewinnt?
  • Mose wird durch Stephanus mit viel mehr Emotionen beschrieben als im Exodustext: er wundert sich, er zittert, er wagt nicht hinzusehen. Die Frage nach den Gefühlen ist auch heute ein Zugang zum Auslegen von Bibeltexten, die ja meistens sehr wenig über die Gefühle der Personen im Text verraten (z.B. im (Bibliolog oder Bibliodrama).
  • Die auffälligste Lücke in der Stephanusrede besteht im völligen Fehlen des verheissenen Landes (Ex 3,8). Dem entspricht auch der Unterschied im Auftrag, den Mose erhält. Aus «führe meine Volk aus Ägypten heraus» wird «Geh, ich sende dich nach Ägypten». Stephanus, geprägt vom jüdischen Leben im Hellenismus mit dem Zentrum Alexandria in Ägypten, richtet den Blick in erster Linie auf das befreiende Handeln Gottes in Ägypten (d.h. in der Diaspora).
  • Die wichtigste Erkenntnis: Die Auslegung der Bibel beginnt bereits in der Bibel.

Die Überraschung dieses für die Teilnehmenden neuen Blicks auf Stephanus war sehr gross. Anschliessend an die Textarbeit wurden Erkenntnisse und Impulse für die eigene Arbeit im Pfarreirat gesammelt. Dabei spielte auch das Leitbild der Pfarrei eine wichtige Rolle. Die Bibelauslegung des Stephanus erbrachte wichtige Impulse für das Verständnis einer Pfarrei in der Diaspora, für den im Leitbild formulierten Anspruch, die Vielfalt von Glaubensbiografien in der Gegenwart zu achten, für die grundlegende ökumenische Ausrichtung der Pastoral und für die Verbindung zur biblischen Tradition und ihrer lebendigen Auslegungsgeschichte.

Ein letzter Schritt beschäftigte sich mit einem weiteren Abschnitt der Rede des Stephanus. Am Ende seiner Rede in Apg 7,44-56 benennt er vier unterschiedliche Orte bzw. Formen der Begegnung von Menschen mit Gott: das Bundeszelt (7,44), den Tempel (in 7,47 «Haus» genannt), die Schrift (als «Gesetz» und «Propheten» in 7,52-53) und die Vision, die er in 7,55-56 hat.
Anders als Stephanus, der sich als überzeugter Kritiker der Gottesbegegnung im Tempel zeigt, beschäftigte sich der Pfarreirat unvoreingenommen mit allen vier Orten. Dies geschah in der Kirche St. Stephan vor der Statue des Pfarreipatrons am Hauptaltar. Im Chorraum wurden vier Stühle für die vier orte aufgestellt. Die Teilnehmenden gingen nacheinander zu den Orten und antworteten auf zwei Fragen:

  • Was finde ich an diesem Ort der Gottesbegegnung positiv, kostbar, wertvoll…?
  • Was finde ich hier negativ, gefährlich, schwierig…?

Die gemeinsame Suche erbrachte vielfältige Antworten:
1. Zelt: Leicht auf- und abzubauen, mobil. Veränderbar, kann der Umgebung angepasst werden. Einladend, schön, gemeinschaftsbildend, lässt Luft und Wärme hereinströmen – Bauanleitung kann vergessen gehen, mühsam zu transportieren und immer wieder auf- und abzubauen, je nachdem nicht dicht, zu wenig Schutz, kann schweren Stürmen nicht widerstehen, «Bierzelt», «Zeltmission»

2. Tempel: Stabilität, weithin sichtbar, Erkennungszeichen, Orientierung, Sicherheit, Raum für HandwerkerInnen und KünstlerInnen, ihre Talente zu entfalten, Schutz vor Wetter und Feinden  - Kaum noch zu verändern, Geschmacksache, teuer im Unterhalt, Hierarchien und Distanzen nehmen feste Gestalt an, unterliegt zeitlichen Bedingungen und ist somit nicht für alle Zeiten gültig

3. Schrift/Wort: Immer neu geheimnisvoll, unauslotbar, Nahrungsmittel, Kommunikation, Gespräch  - Kann veralten und unverständlich werden, scheinbare Sicherheit: schwarz auf weiss, fundamentalistische Wortfixierung, Dogma, kann falsch verstanden werden, sollte immer kritisch hinterfragt werden und daher auch im zeitlichen Kontext betrachtet werden, durch Übersetzungen können schwerwiegende Veränderungen und Missverständnisse und falsche Auslegungen eintreten
4. Vision. Weiter Horizont, Offenheit, Hingabe, Freiheit, Individualität, hält jung und lebendig  - Kaum mit-zu-teilen, schafft Hierarchien: Visionäre-Andere, Gefahr des Missbrauchs: ich sehe, was ich will, kann ins Schwärmerische und somit auch ins Sektiererische abgleiten
Zum Schluss nahm der Pfarreirat die Aufgabe mit, zu fragen, wo es diese Orte der Gottesbegegnung in Therwil / Biel-Benken gibt bzw. welche eröffnet oder gestärkt werden sollen.

Die Drachmen

Die Erkenntnis, dass die Auslegung der Bibel bereits in der Bibel selbst beginnt, löst statische Vorstellungen von der Bibel auf (… die Bibel als monolithischer Block). Die Bibel wird als Prozess wahrgenommen. Ein Prozess, der andauert und einlädt.
Die Verschiedenartigkeit der Orte und ihre spannungsreiche Wahrnehmung löst die Bibel aus der Zweidimensionalität und macht sie gleichsam dreidimensional. Räuime damals und heute rücken nahe zusammen und werden füreinander durchlässig, wie es auch beim Platz am Wassertor in Jerusalem/Therwil in der Spurgruppe geschehen ist.

Der Wurm

Regenwürmer sind ideale Bioindikatoren für die ökologische Bewertung von Böden. Das hat ja auch das Forschungsprojekt des FiBL in Therwil gezeigt. Regenwürmer sind aber auch vom Menschen bedroht, insbesondere durch die immer mehr fortschreitende Verdichtung und Bebauung des Bodens. Genauso ergeht es Bibeltexten. Ihre beseelende Wirkung ist bedroht durch Auslegungen, bei denen das «Ergebnis» bereits im Vorfeld feststeht, sei es durch dogmatische Verdichtungen, moralisierende Botschaften oder fundamentalistische Lesarten. Ein offener, spannungsreicher, auch widersprüchlicher und konflikthafter Zu- und Umgang mit der biblischen Tradition, der nicht dogmatisch, moralisch oder fundamentalistisch enggeführt wird, ist ein guter Nährboden für ein lebendiges und beseeltes Gemeindeleben.