Wir beraten

«... so hast du deinen Bruder zurückgewonnen»   

Franz Annen zum Evangelium am 23. Sonntag im Jahreskreis, Mt 18,15–20, SKZ 33-34/2011

Die zu besprechende Perikope wird oft mit Titeln wie «Gemeinderegel», «Kirchenordnung» oder gar «Kirchenzucht» versehen. Das geht an der zentralen Absicht des Kapitels Mt 18 vorbei. Dessen Fokus ist nicht so sehr die Ordnung in der Kirche als vielmehr die Verantwortung für die Kleinen und Schwachen, die Verführbaren und Verirrten. Dazu gehören auch die Sünder. Ihnen zu vergeben und sie für die Gemeinschaft zurückzugewinnen, ist das Anliegen.

«…was in den Schriften geschrieben steht»

Die «Correctio fraterna» ist nicht eine Erfindung des christlichen Mönchtums. Schon das AT fordert im Rahmen seiner Anweisungen für soziales Verhalten und in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,17–18: «Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen. Weise deinen Stammesgenossen zurecht, so wirst du seinetwegen keine Schuld auf dich laden (…). Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Diese Aufforderung, den Nächsten auf sein Fehlverhalten hin anzusprechen, «hat im Judentum eine lange Auslegungstradition, deren Quintessenz ist, dass die offene Vermahnung des israelitischen Bruders ein Ausdruck der Nächstenliebe und der Solidarität innerhalb des Gottesvolkes ist».1 In der Gemeinschaft von Qumran gab es offenbar ein geregeltes dreistufiges Disziplinarverfahren gegen sündige Gemeindeglieder, das jenem in Mt 18,15–17 ähnlich ist: Auf eine Aussprache unter vier Augen sollte ein Gespräch mit Zeugen und erst dann eine Anklage vor der Versammlung folgen (1QS V,25–VI,1; CD IX,2–4). Einen Ausschluss aus dem Volk Gottes als letzte Konsequenz für den uneinsichtigen Sünder konnte es in Israel allerdings nicht geben. So ordnet das Testament des Gad (2. Jh.  n.  Chr.) für diesen Fall an: «Ist er jedoch unverschämt und beharrt er auf der Bosheit, dann vergib ihm auch so von Herzen und überlass Gott die Vergeltung» (TestGad VI,7).

Anders in der Regelung von Mt 18,15–17! Hier geht es um ein Verfahren, das den Ausschluss von renitenten Sündern vorsieht. Mt schiebt sie in ein Jesuswort aus der Logienquelle ein (vgl. 18,15 und 18,21–22 mit Lk 17,3), das zur Vergebung, und zwar zur grenzenlosen Vergebung (!), mahnt. Dass der matthäische Einschub selbst ein Wort Jesu sein könnte, ist äusserst unwahrscheinlich. Im noch kaum strukturierten vorösterlichen Jüngerkreis ist das geforderte Vorgehen nicht denkbar. Vor allem aber passt die Bestimmung «… dann sei er für euch wie ein Heide oder Zöllner» (18,17) nicht in den Mund Jesu, dessen freundschaftlicher Umgang mit Zöllnern und Sündern historisch nicht zu bezweifeln ist und von vielen als skandalös angesehen wurde (Mt 11,19). Die Zöllner und Sünder waren für Jesus nicht die Prototypen von Ausgeschlossenen, die man meiden soll, sondern Menschen, denen er sich zuwandte und zu denen er sich gesandt wusste (Mk 2,17). Die Regelung bei Mt zeugt vielmehr von der beginnenden strukturellen Regulierung in einer Ortskirche, «die sich noch als Teil Israels versteht, sich noch nicht der Heidenmission zugewandt hat und für die ‹Heiden und Zöllner› der Inbegriff von Menschen ist, mit denen man keine Gemeinschaft hat».2

Mit Matthäus im Gespräch

Für den Evangelisten Mt muss dieser Text ziemlich sperrig gewesen sein. Er ist es ja, der in seinem Sondergut das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30.36–43) überliefert. Dieses wehrt sich dagegen, das «Unkraut» jetzt schon auszureissen. Erst am Ende der Welt werden die Engel des Menschensohnes die Scheidung zwischen Unkraut und Weizen vornehmen. Wer das Wachsen des Reiches Gottes so sieht, kann kaum für das Eliminieren der Sünder aus der Gemeinschaft der jungen Kirche plädieren.

Für Mt ist die Kirche eine Gemeinschaft von Brüdern (und Schwestern), die sich um den Lehrer Jesus sammelt (Mt 23,8; auch 12,49–50). Durch Predigt und Taufe der Apostel wurden Menschen aus allen Völkern zu Jüngern, denen der Auferstandene zusagt, immer bei ihnen zu sein (Mt 28,19–20). Für diese Gemeinschaft gilt das als literarische Einheit konzipierte Lehrstück von Mt 18: In ihr gilt das Kleinsein (wie ein Kind) als Ideal (18,1–5). Mit strengen Worten wird vor der Verführung dieser Kleinen gewarnt (18,6–11). Fürsorge für jedes einzelne Verirrte wird angemahnt (18,12–14). In diesen Zusammenhang gehört die Verantwortung für den sündigen Bruder/die sündige Schwester (18,15–20). Es geht darum, ihn/sie zurückzugewinnen wie das verlorene Schaf in 18,12–14. Der Mt bekannten Kirchenordnung entsprechend, wird zwar als letzte Konsequenz, wenn alles Ermahnen nicht zum Ziel führt, der Ausschluss aus der Gemeinschaft vorgesehen, und zwar durch die Gemeinschaft selbst, nicht durch ihre Vorsteher allein! Die Gemeinschaft darf sich dabei der Autorität «des Himmels» (18,18) sicher sein. Aber: Der Hinweis auf die Gemeinschaft, in der Jesus selbst gegenwärtig ist, und auf das gemeinsame Gebet, dem Erhörung zugesagt wird (18,19–20), steht nicht von ungefähr an dieser Stelle: Der (schwierige) Umgang mit dem/der Sünder/in in der Gemeinschaft soll vom bittenden Gebet begleitet sein und so geschehen, wie es sich für eine Gemeinschaft gehört, deren Mitte Jesus selbst ist, der ein «Freund der Zöllner und Sünder» (Mt 11,19) war. Dass nicht Ausschluss, sondern Vergebung das Ziel ist, unterstreicht der Rest des Kapitels 18 sehr deutlich, der die Verpflichtung zur unbegrenzten (!) Vergebung einschärft (18,21–22–35).

Mt 18 geht es also um den Umgang miteinander in der Gemeinschaft der Jünger bzw. in der «Ortskirche». Dabei gilt dem «gefährdeten Jünger, mit dem fürsorglich umgegangen werden muss»,3 das besondere Augenmerk. So übernimmt Mt zwar die Regelung von 18,15–17 aus seiner Tradition, der er sich verpflichtet fühlt. Aber er setzt sie in einen Kontext, der ganz andere Akzente setzt. Der Ausschluss des Sünders erscheint darin als ultima ratio, die mit allen Mitteln zu vermeiden ist. Mt ist kein Purist, der eine reine Kirche herstellen will (Mt 13,24–43!). Er ist aber Realist genug, um ernst zu nehmen, dass die Sünde Einzelner für die Jüngergemeinschaft zu einer Belastung werden kann, mit der sie verantwortungsvoll umzugehen hat. In diesen Fällen muss alles versucht werden, Umkehr zu erreichen und so den Bruder/die Schwester zurückzugewinnen. Wo das trotz allen Bemühens (und Betens!) nicht möglich ist, gibt es die Verpflichtung zum fairen Umgang (vgl. 18,15–17) mit dem/der Betroffenen; aber dann kann der «Schnitt» unumgänglich sein. Es bleibt aber die Hoffnung und das Gebet darum, dass es doch noch zur Umkehr kommt; dann hat die Gemeinschaft die im «Himmel» garantierte Kompetenz, nicht nur zu «binden», sondern auch zu «lösen», d. h. zu vergeben.

Der Ausschluss der Sünder, die «Exkommunikation», hat in der katholischen Kirche bis in die heutige Zeit eine sehr ambivalente, z. T. unheilvolle Wirkungsgeschichte. Sie sollte die Klarheit des kirchlichen Zeugnisses wahren und diente der Klärung in Lehrstreitigkeiten, wollte die «Kleinen» vor Ansteckung durch «faule Äpfel» bewahren (vgl. aber Mt 13,24–43), wurde aber oft genug ungerecht und lieblos angewandt, wurde sogar als Instrument politischer und innerkirchlicher Macht missbraucht. Wenn Mt 18 immer als Leitfaden für den nur im äussersten Fall anzuwendenden Ausschluss gedient hätte, wäre manches Unrecht in der Kirche nicht geschehen.