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Sorge um das Erbe   

Winfried Bader zum Evangelium am 6. Sonntag der Osterzeit: Joh 14,15–21 SKZ 20/2011

Am Ende des Lebens stellt sich die Frage: Was wird bleiben und weiterwirken? Wenn jemand eine Firma oder eine Organisation aufgebaut hat, wird er sich überlegen, welche Regelungen zu treffen sind, um den Fortbestand zu sichern.

«… was in den Schriften steht»

Jesus macht sich am Ende seines Lebens auch Gedanken um die Fortführung seines Werks. Johannes hat diese Überlegungen Jesu in den Abschiedsreden zusammengestellt. Daraus ist der vorliegende Textabschnitt Joh 15,15–21 entnommen.

Auffälligerweise kommt die Phrase «Meine Gebote halten» gleich zweimal vor. Es scheint ein wichtiger Gedanke zu sein. Griechisch steht tärein, was neben «bewahren» auch «bewachen, aufbewahren, behüten» bedeutet. Es geht also um ein Vermächtnis. Die Phrase steht am Anfang (Joh 14,15) und am Ende (Joh 14,21) des Textabschnitts, also an herausragender Stelle, was die Wichtigkeit unterstreicht. «Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten» (Joh 14,15). Das Halten der Gebote, das Bewahren der Worte, das Behüten der Weisungen sind also die sichtbaren Auswirkungen der Liebe zu Jesus. Darin wird sichtbar, wer es ist, der Jesus liebt (Joh 14,21). Die Gegenbewegungen kommen dann von Gott: Er liebt seinerseits diese Menschen, die die Gebote halten (Joh 14,21).

Jesus nimmt damit Gedanken aus der Tora auf. «Ihr sollt so an alle meine Gebote denken und sie halten; dann werdet ihr eurem Gott heilig sein. Ich bin YHWH, der euch aus Ägypten herausgeführt hat, um für euch Gott zu sein» (Num 15,40–41). Das Halten der Gebote ergibt eine besondere Beziehung zu Gott («heilig sein»); es ist aber seinerseits schon eine Antwort auf die Heilstat Gottes («aus Ägypten herausgeführt»).

An anderer Stelle der Tora ist das Halten der Gebote das Erbe zur Weiterführung des Lebenswerks von Mose in der zukünftigen Zeit nach der Jordanüberquerung. «Du sollst auf die Stimme YHWHs, deines Gottes, hören und seine Gebote und Gesetze halten, auf die ich dich heute verpflichte» (Dtn 27,10). Und auch diese Weisung für die Zukunft, nach dem Tod des Mose hat bereits in der Gegenwart eine Begründung: «Denn heute, an diesem Tag, bist du das Volk YHWHs, deines Gottes geworden» (Dtn 27,9). Josua, der Nachfolger des Mose, gibt drei Stämmen bei seinem Abschied von ihnen neben einem Segen auch ein Vermächtnis mit auf den Weg: «Achtet aber genau darauf, das Gebot und das Gesetz zu erfüllen, das euch Mose, der Knecht YHWHs, gegeben hat: YHWH, euren Gott, zu lieben, auf allen seinen Wegen zu gehen, seine Gebote zu halten, euch ihm anzuschliessen und ihm … zu dienen» (Jos 22,5). Hier ist der Inhalt des Haltens der Gebote die Liebe zu Gott. So wie es in der Weisheitsliteratur auf eine Kurzform gebracht wird: «Liebe ist Halten der Gebote; Erfüllen der Gebote sichert Unvergänglichkeit, und Unvergänglichkeit bringt in Gottes Nähe» (Weish 6,18–19).

Jesus wird von Johannes mit dieser Rahmung seines Vermächtnisses ganz in der Tradition von Mose und Josua gestellt. Er steht in der Tradition der Tora und der weisheitlichen Schriften. Dadurch verstehen ihn seine Hörer/Hörerinnen. Es geht um Beziehung und Liebe zu Gott.

Jesus macht sich nun konkret Gedanken um die Zeit ohne ihn. Zunächst redet er von einem Beistand. Mit dem Begriff «Paraklet» (Joh 14,16), wörtlich dem (von uns) Angerufenen, schöpft Jesus nicht aus biblischen Quellen. Das Wort kommt in der Bibel nur bei Johannes in den Abschiedsreden und dem 1. Johannesbrief insgesamt fünf Mal vor. Der Begriff nimmt Bezug auf nicht biblische Schriften des apokalyptischen Judentums. Hier treten Patriarchen, Propheten und Lehrer, Engel und Geister als Fürsprecher und Fürbitter der Frommen vor Gott auf. Sie handeln als Zeugen und Ankläger im Rechtsstreit zwischen Gott und Welt, im Kampf der Wahrheit mit der Lüge, des Lichts mit der Finsternis. Diese Fürsprecher sind aber auch Helfer, Wegweiser und Mittler der göttlichen Wahrheit für die ihnen Anvertrauten. Johannes nimmt diese apokalyptische Gedankenwelt auf, spielt an auf den endzeitlichen Kampf zwischen Gut und Böse und lässt durch Jesus diesen guten Helfer ansagen. Er ist gut, denn es ist der «Geist der Wahrheit» (Joh 14,17). Wahrheit ist aber kein abstraktes Für-wahr-und-richtig-Halten. Die Wahrheit eines Menschen ist seine Treue und Aufrichtigkeit, die er dem anderen erweist, indem er dessen Erwartungen erfüllt. Es geht darum, Wahrheit nicht nur zu denken, sondern Wahrheit zu tun. So ist auch der «wahre Gott» in den biblischen Schriften derjenige, welcher seine Barmherzigkeit erweist. «YHWH ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue» (Ex 36,6).

Der Paraklet, der Geist der Wahrheit, ist als Beistand notwendig, da nach dem Weggang Jesu die Menschen «Waisen» sind. Waisen sind Kinder ohne Vater. Jesus sieht sich offensichtlich selbst als Vater der Menschen, denn sonst wären sie ja ohne ihn nicht verwaist, d. h. vaterlos. Allerdings kann der Geist der Wahrheit diese Lücke nicht füllen, denn Jesu sagt: «Ich komme wieder zu euch» (Joh 14,18). Da ist der im Hebräischen feminine Geist (ruach) und der im Griechischen sächliche Geist ta pneuma (Neutrum) nicht in der Lage, diese Vaterrolle für die Waisenkinder zu übernehmen. Für sie sorgt Gott: «Du schaffst den Verwaisten und Bedrückten ihr Recht» (Ps 10,18). Jetzt übernimmt diese Rolle Jesus selbst. Er übernimmt eine Funktion wie Gott. So ist auch die Formulierung des «anderen Beistand» (Joh 14,16) verständlich. Es ist ein anderer, denn Jesus selbst ist auch Beistand. «Wir haben einen Beistand (Paraklet) beim Vater: Jesus Christus, den Gerechten» (1 Joh 2,1).

Wie lange wird diese Zeit dauern, bis Jesus wiederkommt? Das beschäftigte die Menschen um Johannes. Er deutet es an: «Nur noch kurze Zeit» (Joh 14,19). Jesus greift prophetische Terminologie auf, wo die kurze Zeit nur noch ist, bis das Heil in die Welt einbricht. «Nur noch kurze Zeit, dann wird mein grimmiger Zorn sie völlig vernichten» (Jes 10,25). Assur ist gemeint, und diese Befreiungstat zugleich ein Rückblick auf die Erfahrung der Befreiung im Exodus. Ähnlich auch bei Jeremia, wo Babel innert kurzer Zeit der Untergang angesagt wird (Jer 51,33). Diese kurze Zeit ist also die Distanz bis zum endgültigen Heil. War das die Auferstehung an Ostern oder ist es die Erwartung der Wiederkunft, die dann doch nicht in so kurzer Zeit stattfand?

Mit Johannes im Gespräch

Johannes legt mit der Rede vom fürsprechenden Beistand, dem Parakleten, Jesus ein biblisch neues Wort in den Mund, und es scheint so, dass damit auch qualitativ Neues anbricht. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass Jesus sich voll auf dem Boden seiner Tradition, der Tora, der Propheten und der Weisheit, befindet. Wie anders hätten seine Mitmenschen ihn sonst verstanden. Nur so waren sie in der Lage, die Sorge für das Erbe zu übernehmen, die sich – so wurde es hier deutlich – zusammenfassen lässt mit dem Auftrag zur Gottes- und Nächstenliebe. Verstehen wir Jesus noch gut genug, um würdige Erben zu sein?