Wir beraten

Predigt von Peter Zürn in der Ostermorgenfeier in St. Stephan Therwil   

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

Das Evangelium vom Ostermorgen löste bei mir zwei Fragen aus:
Warum erzählt Matthäus von einem Erdbeben?
Und warum sind die Frauen nach der Begegnung mit dem Auferstandenen nicht nur voller Freude, sondern auch voller Furcht?

Im Markusevangelium, das wir gerade während derr Nachtwache in der Reformierten Kirche gehört haben, steht nichts von einem Erdbeben am Ostermorgen.
Der Evangelist Matthäus kannte das Markusevangelium, als er daran ging, seinen Text zu schreiben. Warum fügt er in diese Geschichte ein Erdbeben ein? Noch dazu ein Erdbeben, das er mit Gott und der Auferstehung in Verbindung bringt.

Das macht mir in unserer aktuellen Gegenwart besonders zu schaffen. Vor einem Jahr war das grosse Erdbeben in Haiti. Die Atomkatastrophe in Japan wurde von einem Erdbeben und dem anschliessenden Tsunami ausgelöst. Diese Ereignisse brachten und bringen noch für lange Zeit unendliches Leid über Menschen und Tiere.
Können wir Matthäus folgen und Erdbeben mit Gott und der Auferstehung in Verbindung bringen?

Ich will das Leid der Opfer von Erdbeben nicht klein reden. Auf keinen Fall. Aber wir wissen heute, dass Erdbeben ganz natürliche Ereignisse sind. Die durch die Verschiebung der Kontinentalplatten entstehenden Kräfte übersteigen jedes menschliche Mass. An der Atomkatastrophe in Japan ist nicht das Erdbeben «schuld». Viel eher unsere menschliche Fehleinschätzung, wir könnten alle Risiken eingehen, weil wir glauben, sie zu beherrschen.

Ich glaube nicht, dass der Evangelist Matthäus von einem Erdbeben wie dem in Haiti und in Japan schreibt, einem geologischen Ereignis. Ich glaube, dass das Matthäusevangelium das Bild des Erdbebens gebraucht, um damit etwas auszudrücken, was ihm wichtig ist. Und dass er dieses Bild aus anderen Bibeltexten übernimmt.

Matthäus ist ein Schriftgelehrter. Er kennt seine Heilige Schrift, die Bibel. Die Bibel des Matthäus, das ist die jüdische Bibel, also in etwa unser Altes Testament. In seiner Bibel liest Matthäus zum Beispiel im Buch des Propheten Ezechiel. Dort ist die Rede von einem fremden König, der das Volk Israel beherrscht: Gog, der König von Magog. Gog von Magog ist keine historische Figur. Er steht für jede Macht zu allen Zeiten, die Menschen unterdrückt und ums Leben bringt. Der Prophet Ezechiel hat eine Vision von dem Tag, an dem sich das Volk Israel gegen die Herrschaft von Gog erheben wird – mit Gottes Hilfe. Da heisst es: «An jenem Tag wird es im ganzen Land Israel ein gewaltiges Erdbeben geben… es bersten die Berge, die Felswände stürzen ein, und alle Mauern fallen zu Boden» (38,20). Von einem solchen Erdbeben erzählt das Matthäusevangelium. Es handelt sich nicht um ein geologisches, sondern um ein theologisches Erdbeben. Was bedeutet das?

Das Volk Israel ist ein kleines, politisch, wirtschaftlich und militärisch wenig bedeutendes Volk, oftmals nur ein Spielball in der Hand der Grossmächte. Seine Geschichte ist die Geschichte von kleinen Leuten, die meistens den Preis für die Politik der Mächtigen der Welt zahlen müssen. Normalerweise hätte dieses Volk nicht überlebt. Nach der herrschenden Logik hätte dieses Volk irgendwann verschwinden müssen: erobert, zerstört, versklavt. Das Schicksal der kleinen Leute in der Welt der Mächtigen ist normalerweise der Tod.
Die einzige Chance zu überleben ist normalerweise: selber mächtig zu werden. Mächtiger als die anderen, stärker, noch rücksichtsloser, brutaler und gewaltsamer nach innen und nach aussen. Die einzige Chance zu überleben ist: selbst zu einer Todesmacht zu werden.

Das ist die ganz normale Geschichte. Die Bibel erzählt aber andere Geschichten, unnormale Geschichten. Geschichten gegen die herrschende Logik. Geschichten gegen den ganz normalen Sieg der Gewalt und des Todes. Auferstehungsgeschichten, in denen das, was als normal und unausweichlich gilt, Risse bekommt und einstürzt. Wie bei einem Erdbeben.

Aber auch ein theologisches Erdbeben ist und bleibt ein erschütterndes Beben. Bei einem theologischen Erdbeben wird das erschüttert, durcheinandergewirbelt und zerbrochen, was bisher als ganz normal und unausweichlich galt. Das, was immer schon so war und immer so bleiben wird: in meinem Umgang mit mir selbst, in meinen Beziehungen, in unserer Gesellschaft, in unserer Welt. Ein theologisches Erdbeben sagt: Es kann alles ganz anders werden. Gott ist ganz anders als die herrschende Normalität.

Ein Erdbeben ist kein schlechtes Bild für das Wirken Gottes, weil Veränderungen Angst machen. Die Herrschenden, weil sie etwas zu verlieren haben . Aber auch die kleinen Leute haben oft Angst vor der Veränderung. Sie – wir – haben uns so an das halbe Leben, an die begrenzten Möglichkeiten, an die unausweichlichen Sachzwänge gewöhnt, dass sie uns lieber sind als eine Andere, aber ungewisse Zukunft. Deswegen verlassen die Frauen am Ostermorgen das Grab voll grosser Freude, aber auch voller Furcht. Das übernimmt Matthäus aus dem Markusevangelium, wo es am Schluss von den Frauen heisst: Furcht und Entsetzen hatte sie gepackt.

Aber warum erschrecken die Frauen so sehr? Warum erschrecken sie angesichts des Wunders der Auferstehung? Gott hat den gekreuzigten Jesus von den Toten auferweckt.
Aber was ist mit all den anderen Gekreuzigten und Toten? Die gab es damals. Die gibt es bis heute.

Solange das was an Schrecklichem geschieht, als ganz normal gilt, ist es vielleicht leichter zu ertragen. Wenn aber der Schein des Unvermeidlichen zerreisst – auch nur in wenigen Fällen – wenn es vorstellbar wird, dass es ganz anders sein kann, dann wird es entsetzlich, dass trotz allem das Allermeiste so bleibt, wie es ist. Kann das der Grund für den Schrecken angesichts der Auferstehung sein?
Jesus ist auferstanden. Gott hat sich als Gott des Lebens gezeigt. Aber warum bleibt so viel Leid, Gewalt und Tod? Dass die Welt ist, wie sie ist, ist schrecklicher, wenn wir tatsächlich daran glauben, dass sie auch ganz anders sein kann. Dass es Wunder gibt.
Vielleicht sollten wir das Wort Wunder als Steigerungs-form von wund betrachten. Die Welt ist wund. Das Wunder der Auferstehung macht das Wunde der Welt noch deutlicher erfahrbar.

Wir haben gesehen: Das Matthäusevangelium führt ein Gespräch mit anderen Bibeltexten. Das ist keine Eigenart dieses Evangeliums. Das ist das Wesen der Bibel. Die Bibel ist ein Gespräch. Texte sprechen miteinander. Und über die Texte sprechen Menschen miteinander, die diese Texte erzählt, geschrieben, gesungen, gebetet, geklagt und sicher auch manchmal verflucht haben. Die Bibel ist ein grosses Gespräch.
Unsere Leseordnung für die Gottesdienste versucht das erfahrbar zu machen. In jedem Gottesdienst werden mehrere Bibeltexte vorgelesen, miteinander kombiniert, miteinander ins Gespräch gebracht. Texte aus dem Neuen und aus dem alten Testament sprechen miteinander. Heute, in dieser Ostermorgenfeier sind es sogar 5 Bibeltexte, die miteinander im Gespräch sind.

Sie sprechen über die Frage, ob der Tod in dieser Welt das letzte Wort hat oder nicht. Ob sich am Ende die Todesmächte durchsetzen oder ob es eine andere, stärkere Kraft gibt, Gott genannt. Und wie wir uns diese andere Kraft vorstellen können. Was erzählen uns die anderen Bibeltexte, die wir heute gehört haben?

Die Lesung aus dem Buch Exodus, vom Durchzug des Volkes Israel durch das Meer, knüpft an das an, was der Prophet Ezechiel über Gog von Magog sagte. In diesem Text heisst die herrschende Todesmacht «der Pharao und seine Streitmacht.» Der biblische Gott bringt diese Todesmaschinerie in Verwirrung und stoppt sie. So zeigt dieser Gott «seine Herrlichkeit». Es ist herrlich, es ist göttlich, wenn die Schwachen vor der Übermacht der Starken gerettet werden.

Die Lesung aus dem Buch Genesis, dem Schöpfungslied, erzählt von der Vielfalt des Lebens in Gottes Schöpfung. Von Fischen und Vögeln und Vieh und Kriechtieren und Männern und Frauen und Pflanzen und Bäumen. Es ist schöpferisch, es ist göttlich, wenn es Raum gibt, in der jeder anders sein kann, in der jede in ihrer Eigenartigkeit leben kann.

Die Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja ist eine grosse Einladung Gottes zum Leben und Geniessen. Eingeladen sind wir, weil wir durstig und hungrig sind. Nicht weil wir Geld oder Macht haben.
Der Text zeigt aber auch, dass dieser Gott offenbar eine Vorliebe hat. Er ist der Heilige Israels. Gott hat zum Judentum eine andere Beziehung als zu uns. Es ist herausfordernd, es ist göttlich, Geschwister zu haben, die anders sind als wir.

Der Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom spricht von Sünde. Sünde ist bei Paulus wie in der Bibel überhaupt ein Beziehungswort. Es meint das Zusammenleben von Menschen. Paulus spricht über die herrschenden Lebensverhältnisse seiner Zeit. Er fragt: Können wir im Römischen Imperium, das auf der Macht weniger und der Abhängigkeit vieler aufbaut, auf Kaiserkult und Sklaverei, können wir in diesem System frei und gerecht miteinander leben? Wir sind doch in dieses Unrechtssystem, diese Sünde, eingebunden, sind ein leibhaftiger Teil davon, profitieren vielleicht sogar davon. Eine ganz aktuelle Frage scheint mir.
Paulus ist optimistisch: Die Todesmächte haben keine Macht mehr über den gekreuzigten Christus, also haben sie auch keine Macht mehr über uns. Paulus glaubt radikal an den Gott des Lebens, von dem die Bibel so viele Geschichten erzählt. Alle biblischen Geschichten, die wir heute gehört haben, sind Auferstehungs-geschichten.

Ich durfte über ein Jahr lang hier bei Ihnen zu Gast sein, in der katholischen Pfarrei und der reformierten Gemeinde. Biblisches umgesetzt haben wir diese Zeit überschrieben. Bunte Stühle haben diese Zeit symbolisiert. Ich bin in dieser Zeit reich beschenkt worden. Mit Auferstehungserfahrungen. Mit Begegnungen mit aufgeweckten und aufgestellten Menschen in einer lebendigen und vielfältigen Gemeinschaft. Hier bei Ihnen ist viel davon zu spüren, dass es Raum gibt, um ohne Angst anders sein zu können. Hier bei Ihnen ist viel von Gottes Vorlieben für die Schwächeren zu spüren. Hier bei Ihnen habe ich auch viel Achtsamkeit für die Wunden von Menschen gespürt. Verwundungen auch durch die Kirche und die Bibel.
In einer jüdischen Geschichte heisst es: Das Wort Gottes ist keine Lehre. Das Wort Gottes ist auch keine Stimme, obwohl eine Stimme seiner Wahrheit schon näher kommt. Das Wort Gottes ist vielmehr ein Raum und wir sind eingeladen, hineinzugehen, wahrzunehmen mit allen Fasern unseres Lebens, was das Wort uns hier und heute sagen will. Ihre Gemeinde war über ein Jahr lang für mich der Ort, an dem das Wort Gottes als einladender Raum erfahrbar wird. Ich danke Ihnen dafür.

Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir die Einladung in diesen Raum auch weiterhin hören und uns locken lassen – vom Gott des Lebens.

Amen.