Wir beraten

Lukastagebuch Teil 4   

Maria und Elisabet, Lk 1,39-56

Der Text in der Einheitsübersetzung

21. Juli

(pz) Die vorhergehende Episode der Begegnung zwischen dem Engel und Maria war ja auf die Beziehung zwischen Maria und Elisabet hingeordnet gewesen. Jetzt wird diese Beziehung erzählerisch entfaltet. Nach einigen Tagen macht sich Maria auf den Weg und eilt in eine Stadt im Bergland von Judäa (Lk 1,39). «Nach einigen Tagen» und «eilte» – ein merkwürdiger Widerspruch. Warum wartet sie einige Tage wenn es doch so eilig ist, zu Elisabet zu kommen?
Wer ist noch eilig unterwegs im Lukasevangelium? Die Hirten eilen nach Betlehem und finden eben diese Maria und Josef (Lk 2,16). Die besondere Beziehung zwischen Maria und den Hirten wurde schon angesprochen. Und Zachäus steigt eilends vom Baum herunter (Lk 19,5). Auf eine Verbindung zwischen Maria und Zachäus ist noch zu achten. Vielleicht verkörpert Zachäus die notwendige Haltung der Reichen und Mächtigen angesichts von Gottes wirkenden Worten, die Maria im Magnificat besingt: Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht... Zumal ja auch die Zachäusgeschichte mit den Ausdrücken oben/unten spielt.
In der Bibel ist die Eile oftmals den Handlungen von Frauen eigen: Sara soll eilen und Mehl mengen (Gen 18,6); Rebekka lässt eilend den Krug herab und eilt und giesst den Krug aus und steigt eilends vom Kamel (Gen 24,18.20.64) und ); Abigail eilt und nimmt 200 Brote (1 Sam 25,18); Maria von Betanien eilt und kommt zu Jesus (Joh 11,29); und auch die Tochter der Herodias hat es eilig, sich von ihrem Vater Herodes den Kopf des Täufers zu wünschen (Mk 6,25). Aber auch Gott wird in Gebeten immer wieder mit Eile in Verbindung gebracht, um nicht zu sagen, zur Eile angetrieben: «Eile mir zu helfen...» (Ps 22,20 und viele andere Psalmstellen). Entsprechend eilen auch die Betenden Gott und seinen Geboten entgegen (Ps 119,60).
Die Eile der Frauen ist auf Beziehungen ausgerichtet. Sie will in Beziehung bringen, Beziehungen fördern und geht dabei manchmal «sogar über Leichen». Auch die erwünschte Hilfe Gottes besteht darin eine heilende und rettende Beziehung herzustellen, auch das ist mitunter mit Aggressivität anderen gegenüber verbunden (z.B. Ps 40,14-15).
Eile ist auf Beziehung ausgerichtet, ihr wohnt eine gewisse Aggressivität inne. So kommt Maria in die Stadt im Bergland von Judäa.

22. Juli

«Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüsste Elisabet» (Lk 1,40).

(pz) Wo ist Zacharias? Bis Vers 59 wird er keine Rolle mehr spielen. Interessant ist im Moment nicht er, sondern allein sein Haus. Ist das Haus des Priesters Zacharias nicht der Tempel? Spielt die ganze Geschichte zwar im Bergland von Judäa, meint aber eigentlich den Tempel in Jerusalem? Jerusalem, das ist ja DIE Stadt im Bergland von Judäa schlechthin. In Lk 1,23 war die Rede davon, dass Zacharias nach Ende seines Dienstes nach Hause zurückkehrt und Elisabet anschliessend zurückgezogen lebt. Aber warum sollte das nicht alles in Jerusalem selbst möglich sein? Stehen Maria/Josef und Elisabet/Zacharias auch für die spannungsvolle Polarität Galiläa und Judäa, Kleinstadt Nazaret und Hauptstadt Jerusalem, Rand und Zentrum?
Nichts spricht dagegen. Gehen wir also davon aus, dass Maria nach Jerusalem hinauf geht und das Haus des Zacharias in Jerusalem steht. Dass es beim Besuch im Haus des Zacharias auch um die Frage geht, was in Jerusalem und im Tempel noch an Zukunftsträchtigem geschehen kann.

23. Juli

(pz) In der Kapelle von Freienwil AG gibt es ein Altarbild mit dem Besuch der Maria bei Elisabet. Im Vordergrund begrüssen und umarmen sich die beiden Frauen. Im Hintergrund, in der Tür seines Hauses, steht Zacharia und schaut zu. Bei der Begegnung derer, von denen die Zukunft abhängt, ist er nur Zuschauer. Es liegt nicht mehr an den Priestern, nicht mehr am Tempelpersonal, ob die «Sache» des Tempels Zukunft hat. Die Sache des Tempels, sein Anliegen und Ziel ist die Begegnung zwischen Gott und den Menschen. Im Zentrum steht dabei die Versöhnung der Menschen mit Gott, das Beiseiteräumen der Störungen in der Beziehung. Und zwar auf eine öffentliche Weise, als soziales Geschehen, nicht nur als individuelles.
Das liegt jetzt an anderen – nicht mehr an den Priestern. Im Moment an den beiden Frauen, die sich begegnen. Wird an denen sichtbar und spürbar, wie die Beziehung der Menschen zu Gott künftig als soziales Geschehen geheilt werden kann?
Die Frankfurter Rundschau hat in einer Artikelserie im Juli 2010 Frauen in der Katholischen Kirche befragt, was der Kirche in der aktuellen Krise not tut und worin Zukunftspotential liegt: www.fr-online.de/top_news/?em_cnt=2855763&

24. Juli

«Als Elisabet den Gruss Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt» (Lk 1,41)

(pz) Als das Kind in ihrem Leib hüpft, wird Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt (Lk 1,41). Die Verheissung von Lk 1,15 erfüllt sich: «Schon im Mutterleib wird er [Johannes] vom Heiligen Geist erfüllt sein». Allerdings nicht nur er, sondern auch seine Mutter. In Lk 1,67 wird dann auch Zacharias vom Heiligen Geist erfüllt. Die ganze Familie aus dem Geschlecht Aarons ist vom Geist Gottes erfüllt. Der Geist Gottes ist die göttliche Kraft, die Leben schafft. Also kein Ende mit dem aaronitischen Priestergeschlecht nach dem Lukasevangelium. Kein Ende, sondern eine geisterfüllte Neuschöpfung, die Geschlechter- und Generationengrenzen überschreitet.

25. Juli

«[Elisabet] rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen» (Lk 1,42)

(pz) Als Geisterfüllte ruft Elisabet mit lauter Stimme. Sie ruft einen Segen auf Maria herab. Sie nennt gut, was gut ist. Segnen ist im biblischen Verständnis das Mitwirken an Gottes Schöpfungskraft. Elisabet wirkt wie hier wie ein Ebenbild Gottes.
«Gesegnet bist du unter den Frauen» (Lk 1,42). Wo die Einheitsübersetzung den Komparativ «mehr als alle Frauen» her hat, erschliesst sich mir im Urtext nicht.
Der Segensruf ist ein biblisches Zitat und bringt Maria mit zwei anderen Frauen in Verbindung: Über Jael heisst es in Ri 5,24: Gesegnet sei Jael unter den Frauen, die Frau des Keniters Heber, gepriesen unter (oder vor, wie die Bibel in gerechter Sprache übersetzt?) den Frauen im Zelt.» Zu Judit sagt ihr Vater Usija im Buch Judit (13,18): «Meine Tochter, du bist von Gott, dem Allerhöchsten mehr gesegnet, als alle anderen Frauen auf der Erde.» Es geht hier offenbar gleichzeitig um beides: Um die Benennung von etwas Aussergewöhnlichem gegenüber allen anderen und um die Verbindung und Solidarität mit allen anderen Frauen. Die Bibel hat keine Mühe beides zusammen zu bringen, was widersprüchlich scheinen mag. Das ist durchaus ein roter Faden durch die Bibel, dass die besonderen Qualitäten und Taten von Menschen benannt und gewürdigt werden und gleichzeitig auf ihre Verbindung zum gesamten Gottesvolk hin betrachtet werden. Die Bibel ist ein Raum für besondere Menschen. Ihre Besonderheit ist jedoch immer auf ihr soziales Umfeld bezogen.

26. Juli

(pz) Erinnern wir uns daran, dass Elisabet und Maria die Erinnerung an die alttestamentlichen Frauengestalten Sara und Hagar einspielen. Elisabet/Sara segnet hier Maria/Hagar und die Frucht ihres Leibes. Im Buch Genesis ist dieser von beinahe tödlicher Rivalität die Rede. Die Rivalität setzt sich in den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam fort, die sich auf die Geschichte in der Genesis als ihre Ursprungsgeschichte beziehen.
Lukas schreibt hier eine Szene der Versöhnung in einem uralten Konflikt, zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Völkern, zwischen Menschen/Gruppen, die um Segen und Verheissung rivalisieren.

27. Juli

«Gesegnet bist du ... und gesegnet ist die Frucht deines Leibes» (Lk 1,42)

(pz) Ein zweifacher Segen. Segen im biblischen Sinn bedeutet, gut zu nennen, was gut ist. Und gut ist in erster Linie das Leben. Am Besten das Leben in Fülle. Dementsprechend sind schwangere Frauen in der Bibel ein oft gebrauchtes Realsymbol für Segen. In schwangeren Frauen und in der Frucht ihres Leibes kommt zum Vorschein, dass das Leben gesegnet ist, dass es weitergeht,dass es Zukunft gibt, dass nicht der Tod das letzte Wort behalten wird, sondern das Leben. So gesehen sind schwangere Frauen und die Frucht ihres Leibes eine Auferstehungserfahrung, wenn wir Auferstehung in einem grösseren Kontext verstehen, nicht auf eine individuelle Existenz begrenzt, sondern ins Gesamt des Lebens eingebunden.

29. Juli

«Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?» (Lk 1,43)

(pz) So fragt Elisabet.
«Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte» (Ex 3,11, hatte Moses gefragt, als Gott ihn am brennenden Dornbusch beruft. Anders als Moses bekommt Elisabet keine direkte Antwort von Gott. Mose hört: «Ich bin mit dir. Ich habe dich gesandt.» Elisabet dagegen spürt das Kind in ihrem Leibe hüpfen. Aber ist das nicht das Gleiche, die gleiche Botschaft? Denn was ist ein Kind anders als die Aussage Gottes: ich bin mit dir/euch. Das Matthäusevangelium entfaltet das ausdrücklich mit einem Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja: «...einen Sohn wird sie gebären und dem wird man den Namen Immanuel geben, das heisst übersetzt: Gott ist mit uns.» (Mt 1,23; Jes 7,14).
Elisabet ist wie Mose berufen, darin mitzuwirken, Gottes Gegenwart und Gottes Art der Beziehung zu den Menschen erfahrbar zu machen, Wirklichkeit werden zu lassen.
Elisabet zweifelt wie Mose (und wie viele seitdem) daran, ob sie geeignet ist, für diese Berufung.
Elisabet richtet ihren Blick dabei auf die Beziehungsebene (die Mutter meines Herrn kommt zu mir), Mose richtet seinen Blick auf die Sachebene, den Auftrag (zum Pharao gehen und das Volk herausführen). Geschlechtsspezifische Unterschiede, die die 2000 Jahre Distanz zwischen uns und der Bibel verschwinden lassen. Beide Ebenen sind nicht voneinander zu trennen.

30. Juli

«Als ich deinen Gruss hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe» (Lk 1,44)

(pz) Warum erwähnen Lukas / Elisabet das Hüpfen des Kindes im Leib ein zweites Mal, nach lk 1,41? Neu ist jetzt, dass Elisabet das Hüpfen interpretiert. Es sei vor Freude geschehen. Das Wort, das Lukas / Elisabet hier verwenden, agalliasei, von agallao, ist eine Neuschöpfung eines griechischen Wortes, die sich nur im biblischen und kirchlichen Sprachgebrauch findet, u.A. in den Psalmen nach der Septuaginta (z.B. Ps 51,10). Das Jubeln, Frohlocken, sich Ergötzen des Kindes bzw. die entsprechende Deutung durch den Text haben also hier sprachlich beinahe eine eine liturgische oder rituelle Qualität. Der 1. Petrusbrief gebraucht den Ausdruck in vergleichbarer Weise (1 Pt 1,6 und 8). Im biblischen Sprachgebrauch z.B. im Psalm 51, der in der kirchlichen Tradition den Namen Miserere trägt, geht es um den Jubel nach der Sündenvergebung, nach dem Befreitwerden aus dem Todesbereich.

31. Juli

«Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen liess» (Lk 1,45)

(pz) Die Seligpreisung des Lukasevangeliums, auf die Maria in ihrem anschliessenden Lied selbstbewusst reagiert: «Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter» (Lk 1,48). Eine weniger religiös-spirituell eng führendeÜbersetzung des griechischen Wortes makarios ist «glücklich». Glücklich ist, wer wie Maria glaubt, dass sich Gottes Verheissungen erfüllen.

Was bedeutet «sich erfüllen» im biblischen Sprachgebrauch? Vor allem im Matthäusevangelium ist immer wieder davon die Rede, dass «sich erfüllt, was Gott durch die Propheten gesagt hatte». Insgesamt 10 sogenannte Erfüllungszitate ziehen sich durch das ganze Evangelium. Erfüllen meint hier weniger, dass eine einmal gemavhte Vorhersage möglichst wortwörtlich eintrifft. Erfüllung meint, dass Gottes Verheissungen (und mitunter auch Drohungen), die bereits einmal die Wirklichkeit geprägt haben wieder neu gegenwärtig werden. Dabei geht es nicht um eine reine Wiederholung, denn die Zeiten haben sich verändert und so verändert sich auch die genaue Gestalt, in der die Verheissung Gegenwart und Wirklichkeit wird. Denn Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es wird wieder erfahrbar, was bereits früher einmal erfahrbar war oder doch zumindest ersehnt wurde.
Letztlich gehen alle Verheissungen auf die eine grosse Verheissung Gottes zurück: Ich bin da. Verheissen ist die Gegenwart Gottes in unserem Leben, ist Beziehung, in der Heil und Rettung gründet und erfahren werden kann. Darum geht es auch in der Verheissung, an deren Erfüllung Maria glaut. Die Gegenwart Gottes nimmt in ihrem Fall die Gestalt ihres Kindes an, dem sie den Namen Jesus, Gott rettet, gibt. Maria vertraut darauf, dass dies ihre Zukunft und die Zukunft ihres Volkes ist: Gott rettet. So beginnt sie auch ihr Loblied auf diesen Gott: «»Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter» (Lk 1,47).

3. August

Bitte entschuldigen Sie die kurze Unterbrechung des Tagebuches.
Jetzt geht es weiter:

«Was der Herr ihr sagen liess» (Lk 14,45)

(pz) Thomas P. Osborne weist inseinem Lukaskommentar in einer schönen Formulierung darauf hin, dass Maria in einer zweifachen Weise «in Erwartung» ist. Ihre biologische Schwangerschaft korrespondiert sozusagen mit ihrer theologischen Erwartung an die Erfüllung von Gottes wirkmächtigem Wort. Mit ihrer Haltung «in Erwartung» steht sie in spannung zum werdenden Vater Zacharias, der von Zweifeln und Stummheit geprägt ist. Beide Haltungen sind uns vermutlich in Zeitender Krise und des Umbruchs vertraut. Nach meiner eigenen Erfahrung «in Erwartung» bzw. als werdender Vater sind beide Pole dieser Spannung angesichts der Zukunft mit ihren Möglichkeiten und der damit einhergehenden Veränderunen und neuen Verantwortungen mehr als verständlich und der Situation durchaus angemessen. Wir müsse nicht eine gegen die andere ausspielen.

4. August

Das Lukasevangelium lässt Maria in den folgenden Versen (1,46-55) einen Psalm sprechen. Er ist vom Psalm der Hanna im ersten Buch Samuels, Kapitel 2, inspiriert, den Hanna nach der Geburt ihres Sohne Samuel spricht. Der Psalm Marias wird nach seinem ersten Wort in der lateinischen Übersetzung Magnificat benannt. Der Psalm ist kunstvoll in zwei Hälften geteilt. Die erste Hälfte dreht sich um die Geschichte Marias (1,46-50). Die zweite Hälfte verbindet diese individuelle Geschichte mit der Geschichte des Volkes Israel. Beide Geschichten sind aufeinander bezogen. In beiden Geschichten kommt das heilvolle Wirken Gottes zum Ausdruck. So wie sich Gott seit den Verheissungen an Abraham zeigt, so zeigt sich der selbe Gott auch in seinem Wirken an Maria und wird sich weiter in alle Ewigkeit zeigen: als einer, der die Niedrigen erhöht und die Hungrigen sättigt und als einer, der die Überheblichen vom Thron stösst. Beide Geschichten lassen am Ende das Handeln Gottes als Ausdruck seines Erbarmens erkennen. Erbarmen ist im Hebräischen mit dem Ausdruck für Mutterschoss verbunden. Schwangere Frauen (Hanna und Maria) bringen Gottes Handeln an der Welt am deutlichsten zum Ausdruck.

Das Magnificat beginnt nach der Einheitsübersetzung so:

«Meine Seele preist die Grösse des Herrn» (Lk 1,46).

Die neue Zürcher Bibel übersetzt aber:

«Meine Seele erhebt den Herrn».

Noch näher am griechischen Urtext ist die Übersetzung von Thomas Osborne:

«Gross macht meine Seele den Herrn».

Das Handeln der Maria, ihr Loben, macht Gott erst gross. Das Grossmachen Gottes liegt in der Hand bzw. im Mund der Beterin des Psalms. Wir Menschen sind für unser Gottesbild verantwortlich.
Die Einheitübersetzung nimmt den Anteil des menschlichen Tuns zurück. Gott ist an sich gross und diese Grösse wird durch das Loben zum Ausdruck gebracht. Vermutlich ist es würdig und recht, diese beiden Dimensionen im Blick auf Gott spannungsvoll miteinander in Verbindung zu bringen und keine gegen die andere auszuspielen. Festzuhalten ist aber, dass das Lukasevangelium an dieser Stelle besonders das Handeln Marias betont.
Hanna betet: «Mein Herz ist voll Freude über Gott, grosse Kraft gab mir Gott» (1 Sam 2,1). Die Kraft kommt von Gott, entscheidend ist aber, dass sie beim Menschen ankommt und wirkt. Das ist ein Grund zur Freude.

5. August

«und mein Geist jubelt über Gott» (Lk 1,47)

(pz) «Mein Herz ist voll Freude über Gott», betet Hanna in 1 Sam 2,1. «Von Herzen will ich mich freuen über Gott», schreibt Jesaja (61,10) und «dennoch will ich jubeln über Gott und mich freuen über Gott», schreibt Habakuk obwohl er zittert vor diesem Gott (Hab 3,18 und 16).
Lukas lässt Maria hier gleich drei biblische Texte einspielen. Am engsten lehnt sie sich an Habakuk an. Vielleicht ist ihr, der jungen werdenden Mutter angesichts der Fülle der Möglichkeiten, die vor ihr liegen, das Zittern des Habakuk, das die Freude durchdringt bzw. die Freude, die das Zittern durchdringt, am Vertrautesten. Anders als Hanna und Jesaja ist es bei Maria, der Geist (griech. pneuma), der überquillt vor Jubel, nicht das Herz. Geschlechtsspezifisch ist das eine schöne kleine Aufmerksamkeit des Lukas. Der Geist war auch in der Antike schon etwas, was die Männer gerne für sich reklamierten. Der Geist hat im Lukas- und im Matthäusevangelium aber eine besondere Vorliebe für Frauen und ist ihnen ganz besonders verbunden. Nicht als Ersatzmann!!! Das wäre ein völliges Missverständnis. Viel mehr als eine Kraft, die anders ist und anderes möglich macht, als es bisher nach der vorherrschenden Art und Weise von statten ging. Angefangen beim Schwangerwerden bis... wer weiss.

6. August

«über Gott, meinen Retter» (Lk 1,47)

(pz) Der Grund für die Freude liegt darin, dass Gott sich als Retter erweist. Hier snd sich Maria und Habakuk einig. Hier berühren sich ihre Texte am stärksten. Gott als Retter, das kommt auch im Namen zum Ausdruck, den Maria ihrem Kind geben wird: Jesus, hebräisch Joschua, Gott rettet. Gott rettet in diesem Kind, Gott rettet in jedem Kind, Gott rettet, wenn das Leben sich fortsetzt, wenn es Zukunft gibt, wenn neues Leben geboren wird. Gott rettet unspektakulär und alltäglich. Seit Menschengedenken auf die gleiche Weise. Gott rettet spektakulär und auf wunderbare Weise. Eine Geburt, jeder Neuanfang im Leben ist beides: Alltag und Wunder.

7. August

«die Niedrigkeit seiner Magd» (Lk 1,48)

(pz) Das griechische Wort tapeinos, das hinter dem Ausdruck steht, der hier mit Niedrigkeit übersetzt ist, kann zweierlei bedeuten. Einerseits die Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes von geringer Macht und geringem Ansehen und zweitens eine Denkweise oder einen Gemütstzustand. Die zweite Bedeutung kann positiv (demütig, bescheiden) oder negativ (fügsam, unterwürfig) gebraucht werden. Wenn man die folgenden Aussagen der Maria liest (»er stürzt die Mächtigen vom Thron...) fällt die negative Bedeutung der Unterwürfigkeit wohl weg. Maria erkennt hier Gottes unterstützende Beziehung (schauen) zu jemanden, der gesellschaftlich nicht viel zählt und bescheiden ist. Der Ausdruck «Magd», griechisch doulä, hat in der männlichen Form oftmals den Charakter eines Ehrentitels. Der Knecht Gottes ist jemand, der kene andere Herrschaft über sich anerkennt als Gott und deswegen alle menschliche Herrschaft grundsätzlich relativiert. Paulus gebraucht ihn in diesem Sinn. Das passt gut zu Maria in ihrem alle menscliche Herrschaft relativierenden Gebet. Gott schaut also auf Menschen, die in aller Bescheidenheit und aus der Beziehung zu Gott heraus alle Herrschaft von Menschen über Menschen in Frage stellen und relativieren.

8. August

«Die Niedrigkeit (s)einer Magd» verweist wieder auf eine andere biblische Stelle, eine andere biblische Frauengestalt: auf Hanna in 1 Sam 1,11. Hier ist die Rede vom Elend einer verheirateten, aber kinderlosen Frau. Sie denkt und hofft im Rahmen der herrschenden patriarchalen Welt und Wertvorstellungen auf «einen männlichen Nachkommen». Allein mit einem Sohn ist in dieser Welt die ökonomische und soziale Zukunft einer Frau gesichert. Marias Hoffnung ist freier von dieser patriarchalen Weltsicht. Sie zahlt aber auch den Preis dafür, dass ihr Sohn sich frei fühlt von familiären Verpflichtungen. Maria spricht davon, dass sie von allen kommenden Geschlechtern selig gepriesen wird (Lk 1,48b). Das erfüllt sich aber mindestens in der allerersten Generation nicht. In 11,27-28 gestaltet Lukas ein Gespräch zwischen Jesus und einer Frau aus der Menge. Sie ruft: «Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat.» Er antwortet: «Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen.»
Die Jesusbewegung bricht offenbar radikal mit den familiären Bindungen. Stimmt das? Sie gibt dem Leben nach den Weisungen Gottes eine höhere Wertigkeit als der familiären Herkunft. Aber ist das nicht zutiefst biblisch? Lesen wir doch die Weisung in den 10 Geboten genauer: «Du sollst Vater und Mutter ehren» (Ex 20,12 und Dtn 5,16). Wörtlich steht hier, den Eltern kawod zukommen zu lassen. Kawod ist ein zentraler Begriff der hebäischen Bibel. Er wird oftmals – vor allem in Bezug auf Gott – als «Herrlichkeit» übersetzt. Besser wäre eine Übertragung mit «Bedeutung, Ansehen». Es geht also darum, den Eltern das Ansehen und die Bedeutung zu geben, die ihnen zukommt. Es geht nicht darum, sie als gottgleich zu verherrlichen und zu verehren. Die Bedeutung, die ihnen zukommt, ist im Text der Zehn Gebote mit dem verheissenen Land in Verbindung gebracht. «Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr dein Gott, dir gibt» übersetzt die Einheitsübersetzung Ex 20,12. Das Land, das Gott gibt, ist das Land, in dem freie Menschen miteinander leben nach den Weisungen Gottes zum Leben. Es ist das Land, in dem das Leben als freie und aufrechte Menschen umgesetzt wird, das in der Zeit der Wüstenwanderung erprobt wurde und dass sich der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten verdankt. Mit der Erinnerung daran beginnen ja auch die Zehn Gebote im Buch Exodus: «Ich bin YHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben» (Ex 20,2-3). Auch nicht die Eltern. Ihnen kommt Bedeutung zu, denn sie haben die Wege ihrer Eltern fortgesetzt ins Land der Freiheit. Und dafür gebührt ihnen Ansehen. Aber nur für das, was wirklich dem Weiterleben im Land der Freiheit gedient hat – für Anderes nicht. Für das, was dem Leben als freie und aufrechte Menschen nach den Weisungen Gottes zum befreiten Leben dient – für anderes nicht. Insofern steht Jesus genau in dieser Tradition, wenn er sagt: Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen. Selig also auch die Eltern, wenn sie das tun. Das auf die Welt bringen und nähren von Kindern ist der Anfang einer Wegbegleitung und Wegleitung ins Land der Freiheit. Der Freiheit in dankbarer und kritischer Beziehung zu den Generationen, die voraus gegangen sind.

Ein Nachtrag zur Rede von der «Niedrigkeit der Magd» aus einem Artikel von Simone Rosenkranz in der Schweizer Kirchenzeitung zum Fest Maria Himmelfahrt am 15.8.:

«Was hat es mit der «Niedrigkeit» Marias auf sich? Die «Niedrigkeit» Marias – auf Hebräisch wohl «oni» (Armut) – ist in unserem Kontext schwer verständlich. In der hebräischen Bibel wird der Begriff von Frauen verwendet, die kinderlos oder ungeliebt sind. So fleht etwa die kinderlose Hanna, die (spätere) Mutter Samuels im Heiligtum von Schilo: «Herr der Heerscharen, wirst du das Elend (oni) deiner Magd ansehen und an mich denken und deine Magd nicht vergessen und wirst du deiner Magd einen Sohn geben, so will ich ihn dem Herrn geben ein Leben lang» (1 Sam 1,11). Auch Lea, die ungeliebte Frau Jakobs, dankt Gott bei der Geburt ihres ersten Sohnes Ruben, dass er ihr «Elend (oni) gesehen habe» (Gen 29,32). Maria befindet sich jedoch in einer anderen Situation: Ihr wurde ja gerade ein Sohn verheissen. Der Grund ihrer «Niedrigkeit» kann nicht in ihrer Kinderlosigkeit liegen, diese kann kein Problem sein, da Maria ja noch eine junge, frisch verlobte Frau ist. Vielleicht ist die «Niedrigkeit» Marias allgemeiner zu verstehen: Durch ihre lange Rede, die übrigens sehr an den Lobgesang Hannas nach der Geburt Samuels erinnert (1 Sam 2,1–10), reiht sich Maria deutlich in die Geschichte Israels ein. Maria ist als jüdische Frau mit dem Ergehen ihres Volkes verbunden (vgl. Lk 1,54–55). Das erste Jahrhundert ist in Palästina aber bekanntlich eine Zeit der Krise, die in der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes gegen Rom und der Zerstörung des Tempels von Jerusalem endet. Lukas, der aus der Retrospektive schreibt, weiss dies natürlich besonders gut. Weist die «Niedrigkeit» Marias demnach auf die schwierige Zeit hin, in der sie lebt?
Doch Maria bleibt in ihrer Rede nicht bei der «Niedrigkeit» stehen, im Gegenteil: Gott hat sie aus der Niedrigkeit erhöht. Er füllt die Hungrigen mit Gütern und hilft Israel auf (Lk 1,53–54). Der Zusammenhang von Katastrophe und neuer Hoffnung ist eng und wird in Marias Rede hervorgehoben. Auch in der jüdischen Tradition ist das Weitermachen nach und trotz der Katastrophe wichtig: Im Midrasch zum Buch der Klagelieder steht, dass zur Stunde, in welcher der Tempel zerstört wurde, der Messias geboren wurde. In der «Niedrigkeit», am Tiefpunkt, steckt bereits der Beginn zu neuem Leben, zu neuer Hoffnung – wenn auch Juden und Christen den Inhalt dieser Hoffnung unterschiedlich interpretieren. So ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass frühe Christen das Fest der Maria in zeitlicher Nähe zu Tischa be-Aw feierten.»
(Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachreferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig)

9. August

«Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter» (Lk 1,48b)

Dieser Satz lässt sich als Lobpreis der Natalität (oder Nativität) verstehen. Den Begriff hat Hanna Arendt geprägt, in der Theologie ist er vor allem durch feministische Theologinnen wie Ina Prätorius bekannt und fruchtbar gemacht worden. Natalität, das ist das Denken und Handeln aus dem Bewusstsein, dass wir alle Geborene sind. Dass wir uns alle Menschen verdanken, die uns vorausgegangen sind und die uns ins Leben gebracht haben. Das sind in erster Linie unsere biologischen Mütter, aber längst nicht nur. Auf die Welt bringen uns viele Menschen, Männer und Frauen. Durch Entscheidungen, durch Zärtlichkeiten, durch Ansprache, durch Unterstützungen, durch Begleitung, durch Anleiten und Lehren undundund. Dass wir geboren wurden, dass wir uns nicht unserer eigenen Leistung verdanken, dass uns unser Leben geschenkt wurde, lenkt den Blick darauf, dass letztlich unser ganzes Leben ein nicht zu verdienendes Geschenk ist. Ohne das Geschenk der Luft um uns herum, würden wir keine 5 Minuten leben können. Ohne geschenkte Beziehungen würde das Leben keinen Tag lang Sinn machen. Das Leben-Schenken und das Geboren-Werden preisen durch alle Geschlechter (Generationen) hindurch, das heisst, das Bewusstsen um die Grundtatsache des Lebens nicht abreissen zu lassen und eine Kultur der Dankbarkeit für die Grundlagen des Lebens schaffen und weitergeben, das ist eine lohnende, eine lebensnotwendige Aufgabe.

10. August

«Denn der Mächtige hat Grosses an mir getan und sein Name ist heilig» (Lk 1,49)

(pz) Im Psalm 111 (Vers 9), den Maria hier zitiert, wird der Name Gottes als heilig und furchtgebietend bezeichnet. Die Furcht ist hier aus dem Bereich der Heiligkeit verschwunden. Psalm 111 erzählt von den grossen Werken Gottes an «allen, die sich an ihnen freuen» (Vers 2). Vielleicht verschwindet die Furcht eher, wenn ich die grossen Taten Gottes direkt und persönlich in meinem Leben, an mir, erfahre. Wenn ich in erster Linie Teil des Kollektivs bin, das die grossen Tagen Gottes bezeugt, ist vielleicht «die Furcht des Herrn ... der Anfang der Weisheit» (Ps 111,10). Bei Maria ist es das Vertrauen in die lebenschaffende Beziehung.

11. August

«Gott erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht» (Lk 1,50)

(pz) Das Erbarmen ist die göttliche Seite der Beziehung zu Menschen, die im Bewusstsein der Nativität als Geborene leben. Das hebräische Wort für Erbarmen, das dem Gottesbild hier wohl zugrundeliegt, ist ein ganz und gar körperlicher Begriff. Er bezeichnet die Eingeweide als Sitz eines zärtlichen Mitgefühls, er bezeichnet aber auch den Mutterschoss, in dem neues Leben heranwächst und aus dem heraus es geboren wird. Erbarmen ist die göttliche Seite der Nativität. Im Erbarmen setzt Gottsein/ihr schöpferisches Wirken fort, lässt neues Leben entstehen.

«Gott erbarmt sich ... über alle, die ihn fürchten» (Lk 1,50)

Im Psalm 103,17, auf den sich dieser Vers bezieht, ist die Rede von «allen, die ihn fürchten und ehren». Das Ehren ist hier weggefallen, nur die Furcht ist geblieben. Warum?
Ist die Verehrung Gottes nach dem Ende des Tempels und des Tempeldienstes in der traditionellen Weise nicht mehr möglich und eine neue Weise zeichnet sich noch nicht ab? Ist das zu weit hergeholt?
In Ps 103,17 ist auch nicht die Rede von Erbarmen, sondern von Huld. Was ist der Unterschied? Warum dieser Wechsel?
Heute habe ich vor allem offene Fragen.

12. August

«Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten» (Lk 1,51)

(pz) Wieder ein Zitat aus den Psalmen: Ps 89,11. Der Arm Gottes ist nach diesem Psalm voller Kraft, seine Hand ist stark und erhoben (Ps 89,14). Vom starken Arm und den erhobenen Händen Gottes ist in der Bibel immer wieder die Rede. Insbesondere sind sie mit dem Auszug aus Ägypten, der Befreiung aus Unterdrückung und Sklaverei verbunden: Gott «hat dich mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt» erinnert Mose das Volk in Dtn 5,15. Jetzt bringt also Maria ihre Geschichte ausdrücklich mit der Geschichte Israels in Verbindung. Und ihre Geschichte und die Geschichte Israels sind Exodusgeschichten, Geschichten von der wunderbaren Befreiung aus auswegslosen Situationen, Geschichten von der Umkehr der herrschenden Verhältnisse. Nein besser: vom Ende vorherrschender Verhältnisse hin zu neuen Beziehungen ohne Gewalt und Herrschaft.

13. August

«Er zerstreut die im Herzen voll Hochmut sind» (Lk 1,51).

(pz) Die klassische biblische Geschichte von der Zerstreuung von Menschen ist der Turmbau zu Babel in Gen 11. Spielt dieser Vers darauf an? Was bedeutet es dann «im Herzen voll Hochmut» zu sein? Was Gott in Gen 11,6 zum Handeln, zur Zerstreuung der Menschen über die ganze Welt hinweg motiviert ist, ist seine Einsicht: «ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle». Es ist die Einheitlichkeit und Einförmigkeit, die er als entscheidendes Problem ansieht. Mit dem Hinweis auf die Einförmigkeit beginnt der Text ja bereits: «Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte» (Gen 11,1). Nicht nur dass sie nur eine Sprache hatten, in dieser einen Sprache gebrauchten sie auch noch nur die gleichen Worte. Das Ende jeden Missverständnisses zugegeben. Aber auch das Ende jeder Vielfalt, jedes Widerspruchs, jedes inviduellen, kreativen Gedankens. Das Kernproblem der Turmbaugeschichte ist eine Gesellschaft, die Vielfalt verhindert. Das ist der Hochmut, um den es hier geht. Er führt wahrlich in die Höhe, zu nie gesehenen Leistungen und Turmbauten. Aber das geht auf Kosten jeder Besonderheit und Unverwechselbarkeit. Im heute herrschenden globalen Kapitalismus sind wird dabei, diesen Turm der Einfalt weltweit zu bauen. Überall die gleichen Waren, alles ist eine Ware, an den Dingen der Welt interessiert einzig und allein ihr Marktwert, alles wird zur verkäuflichen Sache. Ungeheuer produktiv, ein Ungeheuer an Einfältigkeit.
Das ist DER Grundwiderspruch zur Schöpfung, die sich gerade durch Vielfalt auszeichnet. Dort ist jedes Geschöpft nach seiner Art geschaffen. Immer wieder wird dieser Ausdruck wiederholt und betont. Schöpfung ist Lebensraum für Vielfalt, für Unterschiedlichkeit. Wer Vielfalt eingrenzt, handelt gegen die Schöpfung. 2010 ist das Internationale Jahr der Biodiversität, ein zutiefst biblisches Anliegen.
Der Gott der Schöpfung handelt befreiend an den Menschen, die mit nur einer einzigen Sprache und mit den immer gleichen Worten ihre Höchstleistung erbringen. Er verwirrt ihre Sprache und zerstreut sie über die Erde. Sie verlieren ihre Heimat, ihre Sicherheit, ihre fraglose Verbindung zueinander. Und werden befreit zu Individualität und Unterschiedlichkeit. Mühsam müssen sie die Sprachen der anderen erlernen, um sich zu verständigen und kennenzulernen. Oftmals scheitert die Kommunikation. Selbst Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, gebrauchen nicht die selben Worte. Selbst Menschen, die die gleichen Worte gebrauchen, meinen damit etwas anderes: Frauen und Männer, Junge und Alte etc.
Oft genauso mühsam und schmerzhaft wie sie jenseits von Eden den Ackerboden bestellen und Kinder gebären, suchen sie nach Kontakt und Beziehung. Für die Bibel ist das aber viel näher an der Schöpfungsordnung als der Einheitsbrei in Babel. Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Widersprüchlichkeit, Pluralismus sind «sehr gut» (Gen 1). Zerstreuung ist besser als Hochmut im Herzen. Der zerstreuende Gott ist der befreiende Gott. Maria benennt das.

«Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen» (Lk 1,52)

(pz) Das heisst also, bevor Maria ihre Geschichte und die Geschichte ihres Volkes auf den Gott des Exodus bezieht,
bezieht sie sich auf den Gott der Schöpfung. Beides widerspricht sich nicht, sondern ergänzt sich. Es sind zwei Zugangsweisen zum biblischen Gott. Die gleichen zwei Zugangsweisen finden sich z.B. auch in den beiden Fassungen der 10 Gebote in Ex 20 und Dtn 5. Und zwar in der je unterschiedlichen Begründung des Sabbatgebotes. Ex 20 begründet den Ruhetag am siebten Tag mit Gottes Schöpfungshandeln und seinem Ruhen am siebten Tag (Ex 2,11) Dtn 5 begründet ihn mit Gottes Befreiungshandeln beim Austug aus der Sklaverei in Ägypten (Dtn 5,15). Die Erfahrung der Schöpfung, der natürlichen Lebensfülle und -vielfalt und die Erfahrungen von Befreiungen in unserer Geschichte, unserer persönlichen Lebensgeschichte und der Menschheitsgeschichte sind zwei sich ergänzende Weisen wie wir die Wirklichkeit erfahren können, die die Bibel Gott nennt. Natur und Geschichte widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich.

Jetzt in Lk 1,52 spricht Maria vom Gott des Exodus, der Befreiung von bisher Machtlosen aus der Herrschaft der bisher Mächtigen.
Geht es hier einfach um eine Umkehr der Verhältnisse? Einfach um den Ersatz der Inhaber von Macht, Herrschaft und Unterdrückung?
Wenn das alles wäre, wäre es besser, die biblische Tradition ins Archiv historischer Quellen abzulegen, die überholt sind. Bei der Erhöhung der Niedrigen muss es um mehr gehen als darum, dass jetzt sie auf den Thronen sitzen und andere erniedrigen. Die Erhöhung der Niedrigen spricht ihnen in erster Linie Würde zu, ihre volle Würde als von Gott geschaffene und geliebte Lebewesen und Ebenbilder. Und diese Würdigung ist die Grundlage dafür, dass sie darauf verzichten können, andere zu erniedrigen, dass sie als Ebenbilder Gottes auch in den anderen die Ebenbilder Gottes sehen und würdigen können. Dann ist wirklich etwas ganz Neues, etwas ganz Anderes möglich. Das was mit der Schöpfung Gottes einmal gemeint war und worauf die Befreiung aus Unterdrückung abzielt: das Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen und anderen Lebewesen auf Augenhöhe.

14. August

«Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen» (Lk 1,53).

(pz) Dieser Vers bezieht sich auf Psalm 107,9. Ps 107 fordert die Menschen in Israel auf, von ihren Erfahrungen mit Gott zu sprechen. «Sie sollen alle sprechen, die vom Herrn erlöst sind, die er von den Feinden befreit hat» (Ps 107,2). Und dann tut der Psalm das selbst. Er erinnert an Erfahrungen von Menschen in der Geschichte Israels, die als Erfahrungen mit dem befreienden und rettenden Gott gedeutet wurden. Der Hunger und der Durst, die gestillt wurden, werden mit der Zeit der Wüstenwanderung nach der Befreiung aus Ägypten verbunden (Ps 107,4 mit Bezug auf Dtn 8,15 und 32,10), auch wenn die Formulierung so allgemein ist, dass damit jede Wüstenerfahrung von Menschen angesprochen ist. Die Gaben Gottes, die den Hungernden geschenkt werden, sind im Kontext der Wüstenwanderung aber das Manna und die Wachteln. Beide sind Spuren des Paradieses, denn beide sind geschenkt ohne menschliche Mühe und Anstrengung. Der Fluch jenseits von Eden den Ackerboden im Schweisse des Angesichts bestellen zu müssen, ist zeitweilig aufgehoben, das zum Leben Notwendige wird geschenkt. Verboten aber ist es, mehr vom Manna zu sammeln, als für den jeweiligen Tag lebensnotwendig ist. Aus dem Geschenk Gottes soll kein Gut werden, über das Menschen verfügen, das sie verplanen, horten, einteilen, gar verkaufen. Die Geschenke Gottes sollen keine Waren werden. Wie sehr verstossen wir heute gegen diese Grundregel des Lebens: Alles ist Ware, alles wird gekauft und verkauft, als würde es uns wirklich gehören. Rohstoffe, die Ernten künftiger Jahre, Patente auf Gene, die Zukunft von Menschen... Wenn Maria recht hat, wird das Folgen haben: «er lässt die Reichen leer ausgehen».

16. August

«Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen» (Lk 1,54)

(pz) Die Magd des Herrn und der Knecht Gottes Israel. Hier kommt ihre Geschichte endgültig zusammen. Es ist die eine gleiche Geschichte, denn Maria ist Teil des Volkes Israel. Hier kommt auch die Geschichte der schwangeren Frauen mit der Geschichte Gottes, des barmherzigen zusammen. Denn der Ausdruck Erbarmen, hängt im Hebräischen wie bereits mehrfach erwähnt eng mit dem Ausdruck Mutterschoss zusammen. In der Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind ist die Beziehung Gottes zu seinem Volk erfahrbar.

17. August

«das er unseren Vätern verheissen hat, Abraham und seinen Nachkommen...» (Lk 1,55)

(pz) Leider sind hier nur die Väter genannt, die Mütter sind wohl mitgemeint. Das ist schade, denn die Mütter sind es oftmals die die Erfüllung der Verheissungen Gottes nciht nur gehört, sondern am eigenen Leib erfahren haben. Sara zum Beispiel, die noch im hohen Alter das Glück der Liebe erfährt, schwanger wird, ein Kind zur Welt bringt und darüber lacht (Gen 18 und 21). Aber auch Hagar, die ebenfalls die Mutter von Nachkommen Abrahams ist. Auch sie hört Verheissungen für sich und ihre Kinder (Gen 16 und 21). Die Geschichten von Sara und Hagar sind in den Geschichten von Maria und Elisabet präsent, sie werden in ihren Geschichten neu gegenwärtig. Die alten Verheissungen erfüllen sich, wenn sie neu gegenwärtig werden.

18. August

«... und seinen Nachkommen auf ewig» (Lk 1,55)

(pz) Wer sind die Nachkommen Abrahams? Ist das eine biologische Aussage? Eine ethnische? Geht es um Religionszugehörigkeit? Geht es um eine bestimmte Haltung oder ein ethisches Verhalten, das die Abstammung von Abraham bestimmt? Darüber gibt es Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums, zwischen Judentum und Christentum beginnend im Neuen Testament und zwischen Judentum, Christentum und Islam bis heute. Schade, dass das Erbarmen Gottes, um das es hier ja geht, dabei meistens ins Hintertreffen gerät und viel mehr von der Erbarmungslosigkeit der Menschen im Abgrenzen zu spüren ist. Schön, dass hier von den Nachkommen Abrahams die Rede ist und nicht von den Nachkommen Saras oder Hagars oder Keturas (Gen 25). So ist der Kreis grösser. So gibt es für mehr Menschen die Möglichkeit , sich mit Abraham zu verbinden. so gibt es weniger Möglichkeiten, jemanden auszugrenzen. Darauf kommt es an. Später führt das Judentum die Regel ein, dass ein Jude/eine Jüdin jemand ist, die/der von einer jüdischen Mutter geboren ist. Wieder geht es darum, Menschen einzubeziehen, nicht auszugrenzen, etwa das Kind, das aus einer Vergewaltigung der Mutter in einer der zahllosen Verfolgungen gegen jüdische Menschen im Laufe der Geschichte entsteht. Durch den Wechsel der Regel – von der Abstammung vom Vater zur Abstammung von der Mutter – wird das Grundanliegen bewahrt. Das ist gute biblische Tradition. Das Grundanliegen ist entscheidend, nicht die jeweilige Form, wie es bewahrt wird.

19. August

«Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr; dann kehrte sie nach Hause zurück.» (Lk 1,56)

Mit diesem Satz schliesst die Geschichte der Begegnung zwischen Maria und Elisabet. Mit meinen Gedanken zu diesem Satz schliesse ich auch das Sommerprojekt Lukastagebuch. Maria eilte in Lk 1,39 in eine Stadt im Bergland von Judäa, um in Beziehung zu kommen: zu ihrer Verwandten Elisabet, zu ihrem Volk Israel, zu Vergangenheit und Zukunft ihrer Glaubensgeschichten. Sie verbindet sich mit Elisabet, die Verwandten werden auch zu Freundinnen, zwei Beziehungsweisen verbinden und ergänzen sich: die vorgegebene, auf die man/frau sich meistens trotz allem verlassen kann die man/frau sich aber auch nicht aussuchen kann und die freundschaftliche, selbst gewählte und geschenkte, die aber oftmals auch sehr zerbrechlich ist. Sieverbindet sich mit ihrem Volk, ihre individuelle Geschichte ist Teil einer langen Geschichte vieler anderer Menschen, Lebender und Toter, getragen von der Beziehung zum Gott der sich nennt «Ich-bin-da», dem Gott der Befreiung Unterdrückter, dem Gott des Lebens in all seiner Vielfalt, dem Gott des Erbarmens. In Maria, in jedem Menschen verbindet sich die Vergangenheit mit der Zukunft auf ewig. In jedem Moment verbindet sich die Vergangenheit mit der Zukunft auf ewig. Manchmal wird uns das bewusst. Ein solcher Moment der Bewusstwerdung ist die Begegnung zwischen Maria und Elisabet. In ihm ist alles da. Und es tut diesem Moment gut, dass er einen Zeitraum bekommt, in dem er nachklingen kann. Drei Monate unspektakuläre Zeit des Nachspürens, Nachdenkens, Wartens, Zusammensitzens, Miteinandersprechens, Miteinanderschweigens, In-Erwartung-Bleibens. Bis die Zeit der Niederkunft reif ist.

Ich danke Ihnen fürs Mitlesen. Ich wünsche Ihnen erfüllte Momente und Zeiten des Nachklingens.

Peter Zürn

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