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Zwischen Katastrophe und Hoffnung   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am Fest Mariä Aufnahme in den Himmel: Lk 1,39–56 SKZ 29-30/2010

In die sommerliche Festflaute fällt am 15. August das Fest von Mariä Himmelfahrt. Maria, die Mutter Jesu, wurde nach christlicher Aufassung ähnlich wie Henoch (Gen 5,24) direkt in den Himmel aufgenommen. Einige frühe judenchristliche Gemeinden haben am 15. August allerdings nicht die Mutter, sondern den Sohn gefeiert, indem sie das Geburtsfest Jesu an diesem Tag begingen. Erst später setzte sich überall der 25. Dezember (bzw. der 6. Januar für die orthodoxen Gemeinden) als Termin für das Geburtsfest Jesu durch. Während Christen und Christinnen im Sommer direkt oder indirekt die Geburt Jesu feierten und feiern, fällt für Juden und Jüdinnen in die Sommerzeit ein Gedenktag, der an mehrere nationale Katastrophen erinnert: Tischa be-Aw, im jüdischen Kalender der neunte Tag des Monats Aw, ist der Erinnerung an die Zerstörung der beiden Tempel gewidmet. Hier Freude über die Geburt eines besonderen Kindes, dort Trauer über Unglück: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Fest- bzw. Gedenktagen?

«… was in den Schriften steht»

Maria, der der Engel Gabriel eben mitgeteilt hat, dass sie ein Kind erwartet, besucht ihre im sechsten Monat schwangere Verwandte Elisabeth. Die Empfängnis der beiden Kinder geschah in beiden Fällen auf wunderbare Weise: Elisabeth wurde ähnlich wie die biblische Sara erst im hohen Alter schwanger, Maria erwartet ein Kind, obwohl sie noch nicht verheiratet ist und mit keinem Mann schläft. Unsere Passage betont die enge Verbindung zwischen Johannes und Jesus von Geburt an, macht aber auch die «Rollenverteilung» zwischen beiden klar: Johannes soll die Geburt Jesu ankündigen. Trotz dieser klaren Botschaft lässt unser Text verschiedene Fragen offen, er verrät dem Leser und der Leserin so manches nicht, das diese vielleicht gerne wissen möchten. Gerade diese «Lücken» machen die Lektüre des Textes jedoch spannend. Ich möchte den Text daher im Folgenden anhand meiner Fragen und «Antworten» lesen:
1. Warum macht sich Maria unmittelbar nach der Verkündigung ihrer Schwangerschaft durch Gabriel auf den langen Weg zu Elisabeth? Maria wohnt in Nazaret in Galiläa, Elisabeth bei Jerusalem. Sucht Maria Rat und Unterstützung bei ihrer älteren Verwandten? Oder glaubt sie den Worten des Engels doch nicht ganz und möchte sich selber von der Schwangerschaft Elisabeths überzeugen (vgl. Lk 1,36)?
2. Wo sind die Männer? Von Josef erfahren wir nur, dass er der Verlobte Marias ist (Lk 1,27). Als handelnde Person erscheint er aber erst in Lk 2,4. Und Zacharias, der Mann von Elisabeth, ist bekanntlich nach der Ankündigung Gabriels, dass er bald Vater wird, stumm geworden (Lk 1,20).
3. Warum bezeichnet sich Maria in Vers 1,48 als «niedrige Magd»? Lukas gibt uns keine Erklärung dafür. Ausgehend vom Kontext würde man eher vermuten, dass Maria sich glücklich preist: Kinder werden in der hebräischen Bibel ja als Segen begriffen.
Der Besuch Marias bei Elisabeth könnte damit zusammenhängen, dass Elisabeth sich – nachdem sie von ihrer Schwangerschaft weiss – für fünf Monate versteckt (Lk 1,24). Erst mit Marias Besuch, im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft, tritt sie wieder an die Öffentlichkeit. Der Grund für dieses Verstecken bleibt unklar. Ein Grund, sich zu verstecken, könnte die Angst vor einer drohenden Gefahr sein: So versteckt sich etwa David vor Saul, der ihn verfolgt, in der Wildnis von En Gedi (1 Sam 24). Ein weiterer Grund wäre ein schlechtes Gewissen oder Scham: Adam und Eva verstecken sich, nachdem sie von der verbotenen Frucht gegessenen haben (Gen 3,8). Vielleicht schämt sich Elisabeth, weil sie in hohem Alter schwanger geworden ist? Vielleicht ist sie von ihrer Schwangerschaft überrascht und überwältigt? Wie auch immer: Maria holt Elisabeth durch ihren Besuch aus der Einsamkeit hervor, damit sie die Freude über ihr Kind mit anderen teilen kann (vgl. Lk 1,58).
Die Männer sind in unserer Passage entweder abwesend oder stumm. Doch damit nicht genug: Lukas betont die Bedeutung der Frauen noch, indem er unserer Passage eine «weibliche Zeitrechnung» voranstellt: Lukas ist es in den ersten Kapiteln seines Evangeliums wichtig, bedeutende Ereignisse zeitlich zu verorten. Um den genauen Zeitpunkt der Ankündigung des Johannes an Zacharias festzulegen, greift Lukas auf geschichtliche Fixpunkte zurück, er nennt nämlich die Regierungszeit des Herodes (Lk 1,5). Und um die Geburt Jesu zeitlich zu verankern, führt Lukas die Herrschaftszeit des römischen Kaisers und des damaligen römischen Statthalters in Syrien an (Lk 2,1). Noch genauer wird Lukas bei der Datierung des ersten öffentlichen Auftretens des Johannes, wo er eine ganze Reihe von Herrschern nationaler und internationaler Bedeutung anführt (Lk 3,1). Umso mehr erstaunt die sehr persönliche Angabe, mit der Lukas die Ankündigung Jesu durch den Engel Gabriel zeitlich einordnet: Lukas nennt hier schlicht den sechsten Monat der Schwangerschaft Elisabeths mit Johannes. Das welthistorisch Bedeutende wird von Lukas auf eine durch und durch persönliche, für Aussenstehende bedeutungslose Ebene herabgebrochen, oder umgekehrt: Durch die Einreihung in Ereignisse von internationalem Interesse wird das Persönliche gross und bedeutend. Durch diese sehr intime Zeitrechnung lenkt Lukas die Aufmerksamkeit der Leserin und des Lesers auf die sowohl freudige als auch sorgenvolle Zeit der Schwangerschaft, die nicht nur Elisabeth und Maria, sondern alle Väter und Mütter erleben. Nicht nur die Geburt von Johannes und Jesus, sondern die Geburt von jedem Kind ist besonders und einmalig. Die Worte Elisabeths und Marias können die Freude über das neue Leben ausdrücken. Die jüdische Tradition meint in einem ähnlichen Sinn, dass bei der Zeugung eines Kindes – jedes Kindes – nicht nur der Vater und die Mutter, sondern auch Gott mitwirkt.
Und schliesslich: Was hat es mit der «Niedrigkeit» Marias auf sich? Die «Niedrigkeit» Marias – auf Hebräisch wohl «oni» (Armut) – ist in unserem Kontext schwer verständlich. In der hebräischen Bibel wird der Begriff von Frauen verwendet, die kinderlos oder ungeliebt sind. So fleht etwa die kinderlose Hanna, die (spätere) Mutter Samuels im Heiligtum von Schilo: «Herr der Heerscharen, wirst du das Elend (oni) deiner Magd ansehen und an mich denken und deine Magd nicht vergessen und wirst du deiner Magd einen Sohn geben, so will ich ihn dem Herrn geben ein Leben lang» (1 Sam 1,11). Auch Lea, die ungeliebte Frau Jakobs, dankt Gott bei der Geburt ihres ersten Sohnes Ruben, dass er ihr «Elend (oni) gesehen habe» (Gen 29,32). Maria befindet sich jedoch in einer anderen Situation: Ihr wurde ja gerade ein Sohn verheissen. Der Grund ihrer «Niedrigkeit» kann nicht in ihrer Kinderlosigkeit liegen, diese kann kein Problem sein, da Maria ja noch eine junge, frisch verlobte Frau ist. Vielleicht ist die «Niedrigkeit» Marias allgemeiner zu verstehen: Durch ihre lange Rede, die übrigens sehr an den Lobgesang Hannas nach der Geburt Samuels erinnert (1 Sam 2,1–10), reiht sich Maria deutlich in die Geschichte Israels ein. Maria ist als jüdische Frau mit dem Ergehen ihres Volkes verbunden (vgl. Lk 1,54–55). Das erste Jahrhundert ist in Palästina aber bekanntlich eine Zeit der Krise, die in der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes gegen Rom und der Zerstörung des Tempels von Jerusalem endet. Lukas, der aus der Retrospektive schreibt, weiss dies natürlich besonders gut. Weist die «Niedrigkeit» Marias demnach auf die schwierige Zeit hin, in der sie lebt?

Mit Lukas im Gespräch

Doch Maria bleibt in ihrer Rede nicht bei der «Niedrigkeit» stehen, im Gegenteil: Gott hat sie aus der Niedrigkeit erhöht. Er füllt die Hungrigen mit Gütern und hilft Israel auf (Lk 1,53–54). Der Zusammenhang von Katastrophe und neuer Hoffnung ist eng und wird in Marias Rede hervorgehoben. Auch in der jüdischen Tradition ist das Weitermachen nach und trotz der Katastrophe wichtig: Im Midrasch zum Buch der Klagelieder steht, dass zur Stunde, in welcher der Tempel zerstört wurde, der Messias geboren wurde. In der «Niedrigkeit», am Tiefpunkt, steckt bereits der Beginn zu neuem Leben, zu neuer Hoffnung – wenn auch Juden und Christen den Inhalt dieser Hoffnung unterschiedlich interpretieren. So ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass frühe Christen das Fest der Maria in zeitlicher Nähe zu Tischa be-Aw feierten.

Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachreferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig.