Wir beraten

Lukastagebuch Teil 3   

Maria und der Engel Lk 1,26-38

Der Text in der Einheitsübersetzung

20. Juli

(pz) Zum Abschluss des Tagebuchs zur Erzählung von Maria und dem Engel in Lk 1,26-38 und dem Tagebuch vorangestellt:

3 Beobachtungen zum Text

1. Auf allen Bildern der Kunstgeschichte von dieser Szene und vermutlich auch auf allen Bildern in unseren Köpfen, sehen wir nur zwei Figuren: Maria und den Engel. Wir sehen eine private Szene, die in einem Haus abseits der Öffentlichkeit stattfindet. Der Text setzt da aber eindeutig einen anderen Akzent. Im Text ist noch eine grosse Gruppe Menschen anwesend: das Volk Israel bzw. das Haus Jakob bzw. das Judentum zur Zeit des Lukasevangeliums. Maria – und die anderen Figuren in den Anfangskapiteln des Lukasevangeliums, seiner Ouvertüre – verkörpern dieses Volk. Um sein Schicksal, seine Zukunft geht es. Es ist ein Volk in der Krise.
Wie geht es weiter mit dem Volk Israel unter römischer Besatzung, nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, nach dem innerjüdischen Bürgerkrieg und der Zersplitterung in verschiedene Fraktionen? Was bleibt? Was trägt weiter? Wie lässt sich daraus die Zukunft gestalten? Jesus ist ein neuer Josua, der das Volk Israel wieder neu ins verheissene Land führt. Es ist nicht mehr das Land eines Nationalstaates und eines eigenen Königtums mit einem Tempel im Zentrum. Wie lässt sich in der Zerstreuung unter die Völker, die ja auch eine Öffnung in die Welt hinein ist, nach den Weisungen Gottes leben? Welche Kraft entfalten die Weisungen für das Leben in Freiheit in dieser Welt?

2. Maria ist Modell für Israels Zukunft: Sie wird ein Kind gebären. Das Normalste und Alltäglichste der Welt und das grösste Wunder zugleich. Lukas ist der Evangelist des Alltags. In diesem Kind und in jedem Kind kommt die Zukunft auf die Welt. Es kommt zugleich die Möglichkeit einer ganz anderen Zukunft auf die Welt – ein Bruch mit den herrschenden Verhältnissen. Das Verlassen und Zurücklassen der bestehenden, der herrschenden Verhältnisse wird möglich. Das Neu-Geborenwerden ist nicht nur eine Möglichkeit für Kinder. Es ist auch den Erwachsenen möglich. Es bedeutet geburtlich zu leben, immer in Erwartung, dass (mir) neue Anfänge geschehen können nach deinem Wort, Gott.
Eine Gefahr für die Zukunft des Volkes Israel besteht darin, zu Ägypten zu werden, d.h. zu Unterdrückerinnen und Unterdrückern. Das ist eine Gefahr für Abraham und Sara, verkörpert in ihrer ägyptischen Magd Hagar. Der Gegenentwurf dazu ist Maria, die Solidarische.

3. In der Krise und im Ringen um die Zukunft begegnet das Volk Israel wieder neu seinen Gott: der Kraft der verlässlichen Beziehung, die «Ich-bin-für-euch-da» heisst; der Kraft dem unverfügbaren Gegenüber in der Beziehung, die immer wieder zu neuen Aufbrüchen herausfordert; der Kraft der einzigen Gottheit, die alle menschlichen Götter und Herrschaften grundsätzlich relativiert.

Das Tagebuch:

30. Juni

Im sechsten Monat» (Lk 1,26).

(pz) Der Anfang dieses Erzählabschnittes verbindet sich mit dem vorhergehenden durch die Zählung der Zeit. Fünf Monate lebte Elisabet zurückgezogen in ihrem Haus. Im sechsten Monat passiert etwas, das auch in ihre Zurückgezogenheit hinein wirken wird. Es passiert anderswo, in einem anderen Haus. Im Haus der Maria. Erwähnt wird ausserdem das Haus Davids, aus dem Josef, der Verlobte Marias stammt (1,27). Maria und Elisabet sind verwandt, das wird der Text später erzählen (1,36). Sie stammen aus dem gleichen Haus, dem Haus bzw. Geschlecht Aarons (1,6). Das Haus Aaron steht für das Priestertum in Israel, das Haus David für das Königtum.
Lukas beginnt diesen Erzählabschnitt mit der gleichen Polarität, mit der er bereits den ersten Erzählabschnitt ab 1,5 begonnen hatte, mit der Polarität zwischen Priestertum/Tempel und Königtum. Es wird aber nicht mehr auf den aktuellen König von Juda, Herodes, verwiesen, sondern auf den König von Israel schlechthin, König David, dessen Haus die ersten 500 Jahre der staatlichen Geschichte Judas und Israels geprägt hat und der die Erwartung auf ein zukünftiges Königtum nährt.
Aaron und David, Priestertum und Königtum, sind aber jetzt nicht mehr im öffentlichen Raum gegenwärtig, sondern im Haus zweier Frauen bzw. zweier Familien. Bei einem alten Ehepaar, das viel miteinander erlebt hat, und einem Paar, das erst verlobt ist, das am Anfang seiner Beziehungsgeschichte steht, gleichsam zwei Generationen von Paaren. Diese beiden Beziehungsgeschichten werden noch stärker verbunden, weil es der gleiche Engel ist, der zuvor Zacharias eine Botschaft gebracht hat, der jetzt zu Maria kommt: Gabriel, der vor Gott steht. Beide Frauen sind auch dadurch verbunden, dass sie noch keine Kinder ent-bunden haben. Bei beiden Paaren ist aus der Zweiheit noch keine Dreiheit geworden. Beide Paare haben noch nicht die Grenzen ihrer Generation überschritten.
Ein Unterschied fällt auf: Während Lukas auffälligerweise nicht schreibt, wo genau Zacharias und Elisabet leben, macht er bei Maria und Josef genaue Angaben: in einer Stadt in Galiläa namens Nazaret. Und Maria wird von Anfang an als «Jungfrau» eingeführt. Gleich zweimal wird der Ausdruck parthenos in dem einen Vers 27 erwähnt. Zweimal in einem Vers (1,7) war auch die Kinderlosigkeit der Elisabet erwähnt worden. Die Unfruchtbarkeit der Elisabet scheint auf irgendeine Weise mit der Jungfräulichkeit der Maria zu korrespondieren.

1. Juli
«Sei gegrüsst, du Begnadete, der Herr ist mit dir» (1,28).

(pz) Chaire, kecharitoomenä, ho kyrios meta sou, heisst es im Griechischen. Zweimal (wieder eine dieser lukanischen Dopplungen) wird Maria mit einer Formulierung, in der das Wort charis, Gnade, vorkommt, angesprochen. Im Vers 30 wird es sogar ein drittes Mal wiederholt. Die jüdische Bibelauslegung, die davon ausgeht, dass nichts in einem Bibeltext zufällig ist, hat ein zweimaliges Auftauchen eines Wortes oder eines Motivs für ein Zeichen besonderer Wichtigkeit gehalten. Ein dreimaliges Auftauchen umso mehr.
Im Hebräischen steht hinter charis wohl der Ausdruck Huld, chessed. Chessed ist eines der vier Grundworte, die in der Hebräischen Bibel die Beziehung Gottes zu seinem Volk beschreiben: zedeqa u-mischpat, chessed we-emet, Gerechtigkeit, Recht, Huld und Wahrheit. Die beiden Ausdrücke zedeka und emet, Gerechtigkeit und Wahrheit sind sich sehr ähnlich. Sie beschreiben Gottes Bewährtheit, sie beschreiben, dass sich Gott bewährt, dass sich Gott selber gerecht wird als der In-Beziehung-Seiende, dass Gott sich sich in dieser Beziehung treu bleibt, dass darin seine Wahrheit zum Ausdruck kommt. Darum lassen sich die vier Grundworte auch übersetzen mit Gerechtigkeit/Bewährtheit, Recht, Huld und Treue. Die vier Begriffe beschreiben gleichermassen das Ideal des Zusammenlebens im Volk Gottes.
Huld drückt die Art der Zuwendung zueinander aus. Der Begriff stammt aus dem Feudalsystem. Er meint wohl in erster Linie Zuverlässigkeit der Beziehung. Der feudale Hintergrund bringt eine Hierarchie ins Spiel. Mindestens für die Beziehung unter Menschen führt das in die Irre.Von daher sind Zuneigung oder Zuwendung die besseren Übersetzungen. Gemeint ist vor allem die Zuneigung zum Hilfsbedürftigen. Die Übersetzung mit Gnade führt in die Richtung des Mitleids. Auch das ist eine falsche Spur, denn sie beschreibt ein einseitiges Verhältnis. Vielleicht ist Solidarität die beste Übersetzung für das, was Huld meint. Huld und Treue bezeichnen ein solidarisches Verhältnis, gegenseitige Zuneigung. Diese Überlegungen gehen auf Ton Verkamp zurück (in: Texte und Kontexte 1/1996 Grundworte I).
So wird Maria gegrüsst: Du Solidarische!
Im Magnifikat (1,46-56) kommt ihre Solidarität ins Wort.

2. Juli

«Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruss zu bedeuten habe.» (Lk 1,29)

(pz) Lukas gestaltet die beiden Szenen mit Zacharias und dem Engel (Lk 1,12ff.) und mit Maria und dem Engel offensichtlich parallel. Umso interessanter ist ein Blick auf die Unterschiede zwischen den beiden Szenen. Das Erschrecken angesichts des Engels hat Maria mit Zacharias gemeinsam (1,12). Während aber bei Zacharias auf das Erschrecken die Furcht folgt, folgt bei Maria das Überlegen. Im Griechischen heisst es dielogizeto. Maria ist angesichts des Engels zur Dialogik und Dialektik fähig. Vielleicht gründet darin auch Gottes Zuneigung zu ihr, die der Engel im nächsten Vers ausdrückt.

4. Juli

«...denn du hast bei Gott Gnade gefunden» (Lk 1,30)

(pz) Setzt diese Zusage des Engels voraus, dass Maria bei Gott Gnade gesucht hat? Davon wird nichts erzählt, so wenig wie von dem Gebet des Zacharias, von dem der Engel sagt, es sei erhört worden (1,13). Vielleicht geschieht es oftmals ohne Worte, vielleicht ist es uns oftmals nicht bewusst, dass wir beten und dass wir bei Gott Gnade suchen. Die Formulierung im Griechischen, heures, ist präsentisch: Du findest Gnade bei Gott. Das Finden von Gnade bei Gott ist jede Moment gegenwärtig. Das Suchen und das Finden von Gnade geschieht gleichzeitig.
«Fürchte dich nicht!» Dieser Zuruf des Engels verbindet Maria mit Zacharias (1,13) und den Hirten auf dem Feld (2,10). Der männliche Exponent und die weibliche Exponentin der lukanischen Ouvertüre, die Programm ist, sind verbunden mit «den Armen des Volkes», an die sich diese Ouvertüre besonders wendet.
Zacharias und Maria sind mit dem Volk Israel in besonderer Weise verbunden. Das kommt auch in der folgenden Rede des Engels an Maria klar zum Ausdruck: Der «Sohn des Höchsten» wird den «Thron David» bekommen und über das «Haus Jakob» herrschen (1,32-33).

5. Juli

«Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben» (Lk 1,31)

(pz) Die Debatte um dieses Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja (7,14) hat sich leider allzu oft um die Frage gedreht, ob in Jes 7,1 4 nicht von einer «jungen Frau» die Rede ist, die durch die Identifikation mit einer «Jungfrau» in Lk 1 nicht in eine völlig falschen Bedeutungshorizont versetzt wurde.
Dabei wurde oft übersehen, von welcher jungen Frau in welchem Kontext denn in Jes 7 die Rede ist. Der Kontext handelt von einer grossen politischen Krise des Südreiches Juda im 8. Jahrhundert. Da ohnehin viel mächtigere Nordreich Israel, auch Efraim genannt, hat sich mit den Aramäern verbündet und überzieht Juda mit Krieg. Nach menschlichem Ermessen ist das Ende des Südreiches mit seiner Haptstadt Jerusalem und seiner Königsdynstie aus dem Haus David gekommen. Entsprechend heisst es im Text: «da zitterte das Herz des Königs un das Herz seines Volkes, wie die Bäume des Waldes im Wind zittern» (7,2). Da tritt der Prophete Jesaja auf und kündet mit politischem Weitblick: «Noch 65 Jahre dann wird Efraim zerschlagen» (7,8) Vermutlich war der Prophet Jesaja, wie alle biblischen Propheten politisch weitsichtig. Aber noch entscheidender ist, dass nachdem das mächtigere Nordreich tatsächlich zerschlagen wurde und unterging, diese Sätze im Buch Jesaja publiziert wurden. Sie sollten dem überlebenden Südreich Juda helfen, sich neu zu definieren. Die Rede ist davon, dass die Krise nicht vorbei ist, auch nicht, wenn Efrai/Israel nicht mehr ist. Die Krise wird noch zunehmen. Juda wird noch viel mehr Spielball der Grossmächte sein und bleiben. Aber in dieser Krise wird sich Gott als der Immanuel, der Gott mit uns, zeigen. Das wird die Krise nicht verhindern, das wird Juda nicht gegen alle menschliche Erwartung zu einer Grossmacht machen, die sich gegen andere Grossmächte behaupten kann. Nein, die Gegenwart und die Zuneigung Gottes wird sich in der Geburt eines Kindes zeigen. Vielleicht verstand der König von Juda dieses Kind als Thronfolger und las darin die Botschaft, dass seine Dynastie nicht untergehen würde. Spätestens nach dem endgültigen Ende des davidischen Dynastie im 6. Jahrhundert, wurde der Text auch anders gelesen. Als messianische Hoffnung auf eine Wiederkehr eines davidischen Königs am Ende der Zeiten oder als Ausweg aus dem Irrweg des Glaubens, dass die Beziehung zu Gott sich in politischem oder militärischem Erfolg zeigen müsse. Nein, sie zeigt sich in einer Mutter und ihrem Kind. Sie zeigt sich in einem Kind, in allen Kindern, die lernen, «das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen» (Jes 7,15). Das wird weitere Katastrophen nicht verhindern. In dem liegt trotz alle dem unsere gesamte Hoffnung auf Zukunft. Maria wird mit der Mutter dieses Kindes identifiziert. Juda ist wieder bzw. immer noch in der Krise. Die Grossreiche haben gewechselt, jetzt ist es das Römische Imperium. Das Lukasevangelium weiss bereits darum, dass diese Grossmacht in Jerusalem und Juda eine Katastrophe bewirken wird, die die Katastrophen des Zeit Jesajas vielleicht sogar noch in den Schatten stellt. Das gilbt mindestens in dem Sinne dass Katastrophen, die uns selbst betreffen oder die sich in unserer Generation ereignen, die Katastrophen früherer Zeiten in den Schatten stellen. Aber welchen Sinn macht es, Leid zu vergleichen? Viel wichtiger ist es, auf das zurückzugreifen, was schon früher trotz allem dem Volk Gottes Hoffnung auf Zukunft machen sollte und gemacht hat. Die Botschaft vom Gott-mit-uns, vom Immanuel, der sich zeigt, wenn Frauen Kinder gebären und sie wieder neu zwischen Gut und Böse zu unterscheiden lernen. Es ist gleichsam das Wiederbetreten des Gartens Edens, wo wir vom Baum der Erkenntnis und Unterscheidung von Gut und Böse essen.

Warum heisst der Immanuel in Lk 1 Jesus? Jesus ist die lateinische Form des hebräischen Namens Jehoschua. Jehoschua bedeutet «Gott rettet». Rettung ist die Weise, in der sich der Gott mit uns jetzt zeigt, jetzt in der Zeit der Not und Bedrängnis zeigen muss. Jehoschua/Josua ist in der Bibel der Nachfolger des Mose, der das Volk ins verheissene Land geführt hat. Es geht jetzt wieder darum, in der Nachfolge des Mose aus der Erinnerung an die Zeit der Unterdrückung heraus in dem Land leben zu lernen, dass Gott zeigt und verheisst. Es ist endgültig nicht mehr ein bestimmtes Land, das man in Form eines eigenständigen Staates beherrscht und besitzt.

6. Juli

«Er wird gross sein und Sohn des Höchsten genannt werden» (Lk 1,32a).

(pz) «Gross» zu sein (vor Gott), diese Verheissung verbindet Jesus mit Johannes (vgl. 1,15). «Sohn des Höchsten» genannt zu werden, diese Verheissung verbindet Jesus mit dem König des Gottesvolkes (vgl. Ps 2,7). In der Auslegungstradition ist das König David, an den ja auch die Verkündigung des Engels im nächsten Halbvers anknüpft (Lk 1.32b). «Der Sohn des Höchsten», das ist aber auch ein Ausdruck für das Volk Israel bzw. für die besondere Beziehung des Volkes zu Gott. König David oder das Volk, das ist kein Widerspruch. Der König verkörpert bzw. repräsentiert in dern biblichen Vorstellung immer das gesamte Volk. Als Sohn den Höchsten ist Jesus also in seiner Gottesbeziehung eng verbunden mit seinem Volk.
Johannes und Jesus sind ebenfalls eng verbunden. Vielleicht verkörpern sie zwei Dimensionen des rettenden Geschehens: Jesus die vertikale Dimension der engen Gottesbeziehung, Johannes die horizontale Dimension der Bewegung des Volkes aufeinander zu (die Herzen der Väter den Söhnen zuwenden und die Ungehorsamen zur Gerechtigkeit führen Lk 1,17). Jesus die geschenkte Zuneigung Gottes zu den Menschen und Johannes die darin gründende Bewegung der Menschen auf Gott zu. Beides gehört unlösbar zusammen. Beides macht nur im Zusammenspiel Sinn.

7. Juli

«Gott, der Herr, wird...» (Lk 1,32b)

(pz) Im Griechischen ist die Reihenfolge der beiden Worte umgekehrt: kyrios ho theos, Herr, der Gott. Erst einmal im bisherigen Evangelium hat Lukas diese doppelte Gottesbezeichnung gebraucht. In Vers 1,16 hiess es, dass Johannes viele Israeliten zum Herrn, ihrem Gott bekehren wird. Sonst ist immer entweder von Gott oder dem Herrn die Rede. Zweimal also taucht die zweifache Gottesbezeichnung auf (immer wieder die lukanischen Verdoppelungen als Signal). Im Hebräischen steht hinter der Formulierung wohl der Audruck «JHWH elohim». Zuerst der unaussprechliche Gottesname, der umschrieben wird mit der Herr, der Lebendige, der Weg... Offenbart wird er dem Mose am brennenden Dornbusch in Ex 3 auf Mose Nachfrage hin. Übersetzt wird das Tetragramm wohl am Besten als «Ich-bin-da», «Ich-bin-mit-euch» (Imanuel – Gott ist mit uns) im Sinne einer dauerhaften Gegenwarts- und Beziehungsaussage und (denn eine einfache Übersetzung wird der Komplexität nicht gerecht als «Ich bin der ich bin» (und nicht, der, den ihr euch vorstellt) im Sinne einer Unverfügbarkeitaussage.

Dann das im alten Orient weit verbreitete elohim als Gottesbezeichnung. Dieser aussergewöhnliche Gott in Beziehung und Unverfügbarkeit ist Gott. In der griechischsprachigen Antike bekommt die Gottesbezeichnung kyrios, Herr, einen weiteren herrschaftskritischen Aspekt, denn sie setzt der Herrschaft aller irdischen Herren, die sich ebenfalls als kyrioi bezeichnen, eine Grenze.
Zweimal ist der Text also präzise, was die Bezeichnung Gottes angeht. Zweimal ist es besonders wichtig klarzustellen, von welchem Gott hier die Rede ist: bei der Frage, zu welchem Gott sich Israel bekehrt und welcher Gott hinter der kommenden Königsherrschaft steht. Hier darf es keine Missverständnisse geben. Hier geht es entscheidend um diesen Gott, den in Beziehung stehenden und zugleich Unverfügbaren und den, der jede menschliche Herrschaft relativiert.

8. Juli

«....ihm den Thron seines Vaters David geben» (Lk 1,32b)

(pz) In 1,27 wird erwähnt, dass der Verlobte der Maria aus dem Haus Davids stammt. Wenn hier ihr Sohn in die Dynastie Davids eingeordnet wird, dann läuft diese Abstammung über Josef. Dann ist klar, dass Lukas genauso wenig wie Matthäus in der Abstammungsfrage (modern ausgedrückt) biologisch oder genetisch denken. Sie denken sozial. Jesus wird zum Sohn Davids, weil er zur Familie des Josef aus dem Haus David gehören wird.

9. Juli

«Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben» (Lk 1,33)

(pz) Wieder eine dieser lukanischen Dopplungen. «In Ewigkeit», hebräisch olam, auf Weltzeit, solange die Welt besteht. «Kein Ende», griechisch ouk telos. Was bedeutet diese Dopplung?

Das Haus Jakob, griechisch oikos Iakoob, hebräisch bet jaakov. Diese Formulierung kommt überraschenderweise in der Tora nur zweimal vor:

Gen 46,26 spricht davon, dass 70 Personen vom Haus Jakob nach Ägypten gekommen sind. Und in Ex 19,3 ruft Gott Mose dazu auf, das Haus Jakob daran zu erinnern, was er, Gott, den Ägyptern angetan hat. In den prophetischen Schriften ist mit der Bezeichnung Haus Jakob oftmals eine Drohung gegen das Volk Israel verbunden. Ist die Rede vom Haus Jakob ein Zeichen dafür, dass die dunklen Seiten des Volkes zum Vorschein kommen und angesprochen werden? Ist das Haus Jakob die Seite Israels, die in enger Verbindung zu «Ägypten» steht, zu der ihm innewohnenden Möglichkeit selbst zum Unterdrücker zu werden? Wird im Namen Jakobs daran erinnert, dass Gott sein Volk ohne Verdienst von Seiten des Volkes, ja eigentlich entgegen dem gezeigten Verhalten,berufen und auserwählt hat? Steht Jakob nicht für List und Täuschung und krumme Wege? Ist Petrus nicht der neutestamentliche Nachfolger des Jakob? Berufen ohne Verdienst, ja eigentlich entgegen dem gezeigten Verhalten?
Wenn das so stimmt, welchen Sinn macht es dann, dass Lukas hier vom Haus Jakob spricht? Immerhin braucht er den Ausdruck nur einmal, genau an dieser Stelle und dann noch einmal in der Apostelgeschichte (7,46). In der grossen Rede des Stephanus vergegnewärtigt er die gesamte Geschichte Israels. Vom König David erinnert er an dessen Bitte für das Haus Jakob ein Zeltheiligtum zu bauen und an den Bau des Tempels durch Salomo. «Doch der Höchste wohnt nicht in dem, was von Menschenhand gemacht ist» (7,48). Dann zitiert Stephanus ein Gotteswort nach Jesaja: «Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füsse. Was für ein Haus könnt ihr mir bauen?» (Jes 66,1f.). Bei der Rede vom Haus Jakob, über das das verheissene Kind ohne Ende herrschen wird, klingt auch das Haus Gottes an, der Tempel, der zur Zeit des Lukasevangeliums zerstört ist. Bei der Frage nach der Dauerhaftigkeit des Hauses Jakob klingt die Frage danach an, ob dieses Haus Jakob auch ein eigenes, von Menschen erbautes Haus Gottes braucht. Und die Antwort ist: Nein. Oder besser: Das Haus Jakob, das ewig besteht, ist das Haus Gottes, in dem er wohnt und gegenwärtig ist. Nicht, weil dieses Haus Jakob das verdient hätte oder weil es so ein mächtiges Haus ist, im Gegenteil. Gerade weil es das kleine, unbedeutende und deswegen von der Geschiche der Mächtigen oft so schwer geschlagene Haus Jakob ist. Der kommende Herrscher über dieses Haus ist nicht als potenter Gewaltherrscher zu denken. Ein solcher Herrscher passt gar nicht zum Haus Jakob. Eine andere Art von Herrschaft wird es sein, die kein Ende haben wird.

10. Juli

«Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?» (Lk 1,34)

(pz) Wer ist hier witzig? Maria oder Lukas oder beide? Von unglaublich grossen Dingen ist die Rede: ein Mensch, der Sohn des Höchsten genannt werden wird und den Thron Davids bekommt. Eine Herrschaft auf Weltzeit, die kein Ende hat. Das gewöhnlichste bei all dem ist doch das, dass eine junge Frau ein Kind bekommen wird. Das ist ja schon vorgekommen. All dem Grossen und Unglaublichen gegenüber hat Maria keine Bedenken. Aber wie soll das mit dem Kindkriegen gehen? Macht sich Maria hier über den Engel lustig? Macht sich Lukas hier über die ganze Messiaserwartung lustig? Soll das wirklich das Problem sein, weswegen all die unglaublichen Dinge nicht geschehen können?

Einen Mann erkennen. Zum ersten Mal ist in der Bibel vom Erkennen der Erzählung vom Garten Eden die Rede, in Gen 2. Adam und Eva essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Das erste Mal vom Erkennen der Frau durch den Mann ist in Gen 4,1 die Rede. Adam erkannte Eva, seine Frau. Kain tut es ihm gleich in Gen 4,17. Adam erkenntn noch einmal Eva in 4,25. Dass Männer Frauen erkennen, scheint kein Problem zu sein. Aber umgekehrt? Wo gibt es biblische Vorbilder dafür, dass eine Frau keinen Mann erkennt?

11. Juli

«Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten» (Lk 1,35a)

(pz) Auf keinen Fall darf hier durch das grammatikallische Geschlecht des Heiligen Geistes im Deutschen (Maskulinum) der Eindruck entstehen, dass statt eines menschlichen Mannes nun eben ein göttlicher Mann für die Zeugung des verheissenen Kindes sorgt. Im Deutschen sorgt DIE Kraft des Höchsten zum Glück dafür, dass neben dem männlichen noch ein zweites grammatikalisches Geschlechts ins Spiel kommt. Im Griechischen ist die Rede von pneuma (neutrum) und dynamis (femininum). Das macht es noch deutlicher: dieses verheissene Kind entsteht nur zum Teil auf die natürliche, bei Menschen gewohnte Weise. Es entsteht ohne jeden Beitrag eines Mannes.

12. Juli

(pz) Thomas P. Osborne stellt in seinem Lukaskommentar (Die lebendigste Jesuserzählung) die Verbindungen zwischen der Szene mit Zacharias und dem Engel und der Szene mit Maria und dem Engel her. Die beiden Szenen stehen sich kontrastreich gegenüber:
- ein altes und ein junges Paar
- der traditionelle Ort der Gegenwart Gottes und das Dorf ohne jede Bedeutung in der Tradition
- ein Kind, das gross sein wird vor Gott und eines, das gross sein wird (im Absoluten)
- einer der (das Volk) vorbereitet und einer der herrscht
- einer, der auf die Vergangenheit bezogen ist (im Geist des Elija) und einer, der auf die Zukunft bezogen ist (Königsherrschaft auf Weltzeit)
- Zacharias, der einen Beweis will und Maria, die nach dem «Wie» fragt
- die Stummheit als Zeichen und die Schwangerschaft der schon alten Cousine als Zeichen

Bei beiden Szenen geht es um das Gleiche, aber jeweils anders.

13. Juli

(pz) Was bedeutet diese spannungsreiche Beziehung zwischen Zacharias/Elisabet /Johannes auf der einen und Maria/Josef/Jesus auf der anderen Seite?
Die blosse Überbietung der einen durch die anderen?
Naja, dafür der ganze Aufwand?
Zacharias/Elisabet/Johannes werden vielleicht überboten, sie werden aber auf keinen Fall abgewertet. Sie sind und beiben wichtig. Das wofür sie stehen, ist und bleibt wichtig. was heisst das für Lukas?
Das, was mit Jesus für ihn neu beginnt, ist nicht nur die Sache einer neuen, jungen Generation. Nicht nur die Sache der Nachgeborenen, die mit dem Tempel nichts mehr zu tun haben, weil es denn ja sowieso nicht mehr gibt. Nicht nur die Sache derer, die aus den (in den Augen der Tradition) namenlosen Orten ausserhalb Jerusalems, in der Diaspora kommen. Es ist gleichermassen die Sache der Alten, derer, die mit dem Tempel gelebt haben, derer die mit Jerusalem gelebt haben. Aber eben nicht (mehr) nur deren Sache.
Es ist eine Sache, die die Vergangenheit (Elija) und die Zukunft verbindet, nicht voneinander trennt.
Es ist eine Sache, für deren Gelingen es keinen Beweis gibt, bei der es nicht einmal klar ist, wie das geschehen soll.
Es ist die Sache, wie es mit dem Volk Gottes weitergehen soll. Nach der Katastrophe von Jerusalem im Jahr 70. Nach der Öffnung eines Teiles des Volkes Gottes für die Heiden.
Angesichts dessen verstummt ein Teil der alten Generation, verkörpert durch Zacharias. Aber ein anderer Teil der alten Generation geht mit neuen Zukunftsmöglichkeiten schwanger. Ein Teil der alten Generation beginnt damit, sich auf etwas Neues vorzubereiten. Auf eine neue Form von Königsherrschaft, die mit allem bisher Dagewesenen bricht. Die vor allem mit jeder Form von Herr-schaft bricht, denn die Herren, dasbisher vorherrschende Geschlecht ist an der Entstehung des Neuen ganz und gar nicht beteiligt.

15. Juli

«Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden» (Lk 1,35b)

(pz) Wieder einmal eine dieser denkwürdigen Doppelungen des Lukasevangeliums. Das verheissene Kind wird heilig und Sohn Gottes genannt. Heilig und Sohn Gottes sein – das scheint nicht das gleiche zu sein. Im Alten Testament bedeutet sich heiligen, in die Sphäre des Heiligen, in die Sphäre Gottes einzutreten. Heilig ist der Ort bzw. der Mensch, der in Beziehung zu Gott steht. Damit benennt Heilig-Sein quasi eine Grundbeziehung und Sohn-Gottes-Sein bennnt eine besonders intensive Form dieser Beziehung. Im damaligen patriarchalen Weltbild benennt Sohn-Gottes-Sein vermutlich die intensivste und engste Form der Beziehung zwischen einem Menschen und Gott. Dieses patriarchale Missverständnis sollten wir hinter uns lassen. Was für die Söhne Gottes gilt, gilt für alle Kinder Gottes. Kind Gottes zu sein ist die intensivste Form der Beziehung zu Gott, die stärkste Nähe, die höchste Heiligkeit, die Menschen möglich ist.

16. Juli

«Auch Elisabet, deine Verwandte ...» (Lk 1,36)

(pz) Welcher Art ist die Verwandtschaft zwischen Maria und Elisabet? Mit Lk 1,37, «denn für Gott ist nichts unmöglich», einem Zitat aus Gen 18,14, wird Elisabet mit Sara in Verbindung gebracht. Auf Sara hat auch schon die Ankündigung der Geburt des Johannes hingewiesen: vgl. Lk 1,13 mit Gen 17,19. Wenn das Thema, das die beiden Frauen verbindet, Nachkommenschaft mit einer grossen Verheissung ist, und Elisabet auf Sara verweist, verweist dann nicht Maria auf Hagar, die Magd/Sklavin der Sara aus Ägypten (vgl. Gen 16 und 21)? Hagar ist im Vergleich zu Sara die junge, die fruchtbare Frau, die allerdings keinen Ehemann hat. Hagar und Sara sind nicht blutsverwandt, aber sie gehören zum selben Haus, dem Haus Abrahams. Maria nennt sich selbst eine niedrige Magd (Lk 1,48) und eine Magd des Herrn (Lk 1,38). Das entsprechende griechische Wort doulä kann durchaus auch mit Sklavin richtig übersetzt werden. Maria ist also wie Hagar eine Magd/Sklavin.
Der Hagar erscheint in Gen 16 ein Engel. Was er ihr verheisst – «du bist schwanger, du wirst einen Sohn gebären und ihn Ismael nennen» (Gen 16,11) gleicht sehr der Verheissung des Engels an Maria von Lk 1,31.
Der Engel der Hagar spricht ihr zu, dass «Gott auf sie gehört hat in ihrem Leid». Gott, der das Leid hört, das ist der Gott des Exodus (Ex 3,7). Den Gott des Exodus, den Retter, bringt auch Maria im Magnificat ins Spiel. Der Lobgesang der Maria, das Magnificat (Lk 1,46-55) hat sein alttestamentliches Vorbild zwar beim Lied der Hanna in 1 Sam 2,1-10. Es würde vom Inhalt her aber auch gut in den Mund der Sklavin Hagar passen. Die Mächtigen, die vom Thron gestürzt werden, sind dann in erster Linie Abraham und Sara. Hagar ist das Korrektiv für Abraham und Sara. Ironischerweise ist Hagar eine Ägypterin. Die Ägypterin ist das Korrektiv für die Stammeltern Israels, wenn die selbst die Züge Ägyptens annehmen und zu Sklavenhaltern und -ausbeutern werden. Ist Maria das Korrektiv zu Zacharias und Elisabet als VertreterInnen des traditionellen Israels, des Tempels und der Priesterfamilien? Beide Seiten sind und bleiben bei allen Gegensätzen und Korrekturen aufeinander bezogen. Hagar und Sara sind keine Verwandten. Ihre Söhne und deren Nachkommen aber schon. Und die spannungsvolle Geschichte dieser Verwandten zieht sich durch die ganze Geschichte. Sie geht weiter bis heute. Der Islam beruft sich darauf, die Nachkommenschaft des Sohnes von Abraham und Hagar, Ismael zu sein. Maria/Mirjam spielt eine besondere Rolle in der Tradition des Islam. Die Verbindung von Maria und Hagar ist eine Möglichkeit, das Lukasevangelium zu lesen.

17. Juli

«Da sagte Maria: Ich bin die Magd/Sklavin des Herrn. Mir geschehe, wie du es gesagt hast» (Lk 1,38)

(pz) Paulus nennt sich selbst und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter immer wieder Knechte/Sklaven Gottes oder Jesu Christii (z.B. Röm 1,1; Phil 1,1).
Bei Paulus wird das in der Regel in zweifacher Weise verstanden:
- als Solidaritätsbekundung an Gemeinden, in denen ein Teil der Mitglieder wirklich Sklaven und Sklavinnen sind
- als selbstbewusster Ausdruck, keinen anderen Herrn als Gott anzuerkennen
Bei Maria wird es in der Regel nicht so verstanden, sondern als Ausdruck ihrer Demut im Sinne der widerspruchsfreien Unterwerfung. Daraus wurde dann ein Modell für alle Frauen gemacht.
Aber es spricht nichts dagegen die Sklavin Maria genau wie den Sklaven Paulus zu behandeln.
Der Ausdruck Sklave/in-Knecht/Magd verweist ausserdem in beiden Fällen auf den Knecht Gottes im Alten Testament. Er steht für das Volk Israel bzw. für eine Einzelfigur, die das Volk repräsentiert. Paulus und Maria als Knect und Magd Gottes sind also Repräsentant/in des Volkes Israel. An diesem Volk ereginet sich das Wort Gottes. Das Wort, hebr. dabar, das Wort und Tat in einem ist, das sich ereignendes Wort, Wirklichkeit gestaltendes Wort ist, seit dem ersten Wort der Schöpfung, diess Wort ereignet sich in der Beziehung zum Volk Israel als Erstling der Völker. Diesem Wort, dem Israel seit Beginn seiner Geschichte vertraut (mit Krisen und Zweifeln natürlich), diesem Wort vertraut jetzt auch Maria. Sie stellt sich explizit in die Geschichte ihres Volkes. Das Wort ereignet sich, es geschieht weiter, wie am Volk so auch an ihr.

18. Juli

(pz) Gehen wir nochmals einen Vers zurück. «Denn bei Gott ist nichts unmöglich» heisst 1,37 in der Einheitüsbersetzung. Osborne übersetzt: «Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich " und weist darauf hin, dass noch wörtlicher folgende Variante wäre: «Kein Wort, das von Gott kommt, bleibt ohne Wirkung» oder sogar: «Jedes Wort, das von Gott kommt, ist keineswegs unmächtig». Die doppelte Verneinung verstärkt die Aussage. Aber noch entscheidender: Das griechische Originals richtet den Blick nicht auf das eine Ding oder das Nichts, das nicht unmöglich ist, sondern vielmehr darauf, dass JEDES Wort Gottes mächtige Wirkung zeigt. Also nicht auf den Ausnahme-, sondern auf den Normalfall. Normal, das heisst schöpfungsgemäss ist es etwa, wenn Jer 55,1 verkündet: «Auf ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser. Auch wer kein Geld hat, soll kommen (diesen innerbiblischen Bezug stellt auch Osborne her). Die in Lk 1 verheissenen Geburten, die Zusage, dass das Leben eine Zukunftsperspektive hat, ist nicht der aussergewöhnliche, alle Naturgesetze sprengende Sonderfall, sondern der alle Schöpfungsgesetze zur Geltung bringende Normalfall.

19. Juli

«Danach verliess sie der Engel» (Lk 1,38b)

(pz) Dieser letzte Satz der Begegnung zwischen Maria und dem Engel ist kein Abschluss-, sondern ein Anfangssatz. Ein Alpha-Satz. Vier der sechs Wörter, aus denen der griechische Satz besteth, fangen mit dem Buchstaben Alpha an: kai apälthen ap´autäs ho angelos.
Es ist ein lapidarer Satz, ein übertrieben banaler. Hätte der Text nicht besser, weil dramatischer mitdem Ruf Mariens aufgehört: «Mir geschehe, wie du es gesagt hast»?. Das wäre doch ein guter Abschluss gewesen. Warum dann noch die Banalität, die Selbstverständlichkeit, die Alltäglichkeit anfügen, dass der Engel Maria wieder verliess?
Lukas ist der Evangelist des Alltäglichen, der kleinen Schritte. Die Redaktorinnen und Redaktoren, die sein Evangelium als drittes in den Kanon des Neuen Testamentes einfügten, haben es gut verstanden: Zunächst entfaltet Matthäus die grosse Lehre, dann führt sie Markus radikal in die Krise. Und dann beginnt Lukas mit den kleinen Schritten der Umsetzung in die alltägliche Lebenspraxis. Lukas buchstabiert die neue, alte biblische Praxis durch. Er beginnt bei «A».
Der Hinweis auf den Engel, der wieder geht, ist aber dennoch auch ein Abschluss. Oder besser ein Ausdruck von Klarheit. Die Szene zwischen Zacharias und dem Engel wird nicht abgeschlossen. Der Engel redet, das Volk wartet und irgendwann kommt Zacharias aus dem Tempel. Nichts ist wirklich klar, alle Fragen sind noch offen.
Anders bei Maria und dem Engel. Alles ist gesagt, die Begegnung ist in sich abgeschlossen. Das holt Lukas auch erzählerisch ein mit dem lapidaren Satz: Danach verliess sie der Engel.

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