Wir beraten

Lukastagebuch Teil 1   

Das Vorwort des Lukasevangeliums Lk 1,1-4

Der Text in der Einheitsübersetzung

4. Juni

(pz) Epeideper (dt. da nun einmal) – mit diesem griechischen Wort beginnt das Lukasevangelium. Epeideper ist eine Konjunktion, die auf eine bereits bekannte Tatsache Bezug nimmt. Das Wort ist in der antiken griechisch-sprachigen Philosophie und Geschichtsschreibung bezeugt. Thukidides braucht es genau wie Aristoteles, Diodor, Philo von Alexandria und Josephus Flavius. Wer mit diesem Wort beginnt, erscheint gleichermassen bescheiden und selbstbewusst. Selbstbewusst, weil er sich unter die grossen Namen seiner Kultur einreiht und bescheiden, weil er nur einer von vielen ist und sein will. Lukas nimmt auf eine bereits bekannte Tatsache Bezug. Darauf, dass «schon viele es unternommen haben, einen Bericht über all das abzufassen» (Lk 1,1). Er hat nicht den Anspruch der Erste zu sein, sondern stellt sich in eine bereits bestehende Tradition. Dabei bleibt im Moment noch offen, wie er sich in diese Tradition stellt: vor Ehrfurcht erstarrend, alles über den Haufen werfend? Einer, der gleichzeitig bescheiden und selbstbewusst ist, wird vielleicht einen dritten Weg finden: das Vorausgehende würdigend ohne es zu idealisieren... Können wir davon etwas lernen für unseren eigenen Umgang mit Traditionen?

5. Juni

«Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat» (Lk 1,1)

(pz) So übersetzt die Einheitsübersetzung den ersten Vers des Lukasevangeliums. «Ereignet und erfüllt» – schön, dass hier zwei Wörter gebraucht werden. Dass sich etwas ereignet und dass sich etwas erfüllt, ist keineswegs dasselbe. Ein Ereignis, das ist alles, was geschieht. Erfüllung, das ist eine Deutung dessen, was geschieht. Nicht für alle ist das, was sich ereignet, eine Erfüllung. Und nicht alles, was sich ereignet, ist Erfüllung.

Die Lektüre von Gerhard Jankowski, In jenen Tagen. Der politische Kontext von Lukas 1-2 in Texte und Kontexte 12/1981 hat mir den Audruck «ereignet» neu erschlossen. Im Griechischen ist hier die Rede von Ereignissen. An dieser Stelle steht ein Substantiv, pragmata. In einem Buch, das zeitgleich mit dem Lukasevangelium entstand und auch in anderer Hinsicht mit ihm vergleichbar ist, im Bellum Judaicum des Josephus Flavius, taucht der Ausdruck pragma ebenfalls aus. Hier bezeichnet es eindeutig die Ereignisse und Tatsachen, die zum Krieg der Judäer gegen Rom führten und die sich während des Krieges abspielten. Die pragmata sind Kriegsereignisse. Lukas gebraucht das Wort pragma ausser in 1,1-4 nur noch in Apg 5,4. Dort bedeutet es eine böse Tat. Damit folgt er der Septuaginta z.B. in Gen 44,5 und Jer 44,2. In Jer 44,22 ist pragma die Übersetzung des Hebräischen ma´alal, Böses, und bezieht sich auf die Zerstörung Jerusalems und die Lage der nach Ägypten geflohenen Judäer. Die Ereignisse, auf die das Lukasevangelium sich bezieht, sind also wohl negative Ereignisse, die mit dem Krieg gegen die Römer zu tun haben. In diesen Ereignissen, in der realen Geschichte vor und nach dem jüdischen Krieg tritt etwas anderes zu Tage, etwas Leben Schaffendes und Ermöglichendes.

6. Juni

«Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren» (Lk 1,2).

(pz) Hier wird die gleiche Spannung auf andere Begriffe gebracht: Augenzeugen sehen das, was sich ereignet. Dass nicht alle im gleichen Geschehen auch das gleiche sehen, davon legt jedes Unfallprotokoll der Polizei ein beredtes Zeugnis ab.
Spätestens wenn jemand das, was er als Augenzeuge verfolgt hat, in Worte fasst, fängt die Deutung an. Wahrscheinlich schon früher. Wahrscheinlich sehen wir nie das Gleiche wie jemand anders. Schon unser rein körperliches Sehen wird von unseren Vorerfahrungen geprägt. Aber wenn wir etwas in Worte fassen, dann müssen wir deuten, es geht nicht anders. Jedes Wort, das wir wählen, ist eine Entscheidung gegen andere Möglichkeiten und somit eine Deutung. Lukas hält sich an Augenzeugen und an Diener des Wortes. Er bevorzugt eine bestimmte Deutung. Eine, die sich am Wort orientiert. Am Wort Gottes bezeugt in der Bibel. Die Deutung des Geschehenen im Licht der Bibel – das ist die Tradition, in die Lukas sich stellt. Was bedeutet es, diesem Wort zu dienen?

Die Wahrnehmung der Ereignisse als Kriegsereignisse verschärft diesen Absatz: Die Deutung der Kriegsereignisse, der Lukas sich verpflichtet fühlt, wird sich radikal von anderen Deutungen dieser Ereignisse unterscheiden. Der zum flavischen Kaiserhaus übergelaufene Josephus Flavius deutet die Kriegspragmata aus der Sicht der siegreichen römischen Macht.

7. Juni

«Nun habe auch ich mich entschlossen...» (Lk 1,3)

(pz) Das 25. Wort des Lukasevangeliums ist «ICH». «Auch ich» um genau zu sein. Lukas stellt sich in eine Tradition. Er ist einer von vielen, der etwas fortsetzt, was andere begonnen haben. Aber er ist auch eine individuelle unverwechselbare Stimme. Ein Subjekt. Er erzählt eine subjektive Geschichte. Andere Geschichten gibt es gar nicht. Grade nicht in Glaubensfragen. Die müssen mit dem Leben verbunden sein. Meine Glaubensfragen mit meinem Leben. Von da aus können sie sich mit anderen Glaubensfragen und anderen Leben verbinden, können zu unseren Glaubensfragen werden. Wer in Glaubensfragen vermeidet «Ich» zu sagen und damit eine scheinbare Objektivität erzeugen will, verschleiert etwas Wesentliches. Leider ist das in viel zu vielen Texten der Theologie der Fall. Schade drum.

8. Juni

«...für dich, hochverehrter Theophilus» (Lk 1,3).

(pz) Im gleichen Vers wie vom Ich ist auch von einem Du die Rede. Das Evangelium ist ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen. Das Gegenüber von Lukas ist Theophilus, der Gottliebende. Und wenn die Liebe mit Achtung und Ehrfurcht vor dem Gegenüber verbunden ist, wie es zu erwarten ist, dann auch ein Gottesfürchtiger. Gottesfürchtige, so werden die Menschen bezeichnet, die im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung als nichtjüdische Menschen starkes Interesse am Judentum zeigten und sich im Umfeld der Synagogengemeinden bewegten. Es waren Heidinnen und Heiden, hebräisch Gojim, Menschen aus den Völkern, auch Griechen genannt, in den Paulusbriefen zum Beispiel, denn die griechisch-hellenistische Kultur war die «weltweit» vorherrschende Kultur der Zeit. Alle, die über ihr engstes Umfeld hinaus mit anderen in Kontakt kommen wollten, sprachen Griechisch, aus welcher Gegend oder welchem Volk sie auch stammten. Theophilus ist wohl ein solcher Grieche, ein Goj, ein Heide, ein Mensch aus den Völkern, kein Jude, aber am Judentum interessiert. Einer, der von einem Diener des Wortes etwas lernen will, einer der das Wort Gottes verstehen will, der Tora lernen will im jüdischen Lehrhaus des Rabbi Lukas.

9. Juni

(pz) Was Lukas durch sein Schreiben für Theophilus ermöglichen will, ist, dass er sich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen kann, in der er unterwiesen worden ist (Lk 1,4). Ist es Zufall, dass Lukas hier nicht von «der Wahrheit» der Lehre spricht. Heute ist es ein grosses Bedürfnis zu klären, ob die Erzählungen der Bibel wahr sind oder nicht. Und wir meinen damit: ob sie sich auch genau so zugetragen haben, wie sie in der Bibel stehen. Lukas ist Zuverlässigkeit wichtiger. Auf das, was er berichtet, soll sich Theophilus verlassen können. Er erzählt eine Beziehungsgeschichte, eine Geschichte, die eine verlässliche Beziehung ermöglichen soll, Sie soll Theolophilus Sicherheit geben, einen festen Boden unter den Füssen, ein Fundament. Entscheidend ist dann, was Theophilus auf dieses Fundament baut, denn auf einem Fundament allein lässt sich nicht wohnen. Entscheidend ist, welchen Weg er – getragen von dem festen Boden unter seinen Füssen – geht. Entscheidend ist, dass sein Selbstvertrauen gestärkt wird, und er seinem Weg traut; dass aber auch sein Vertrauen in andere Menschen gestärkt wird, damit er sich traut, sie in sein Haus einzuladen. Dass er nicht nur ein Gottesfürchtiger ist, sondern auch Gottvertrauen bekommt.

Im Prolog des Lukasevangeliums werden Beziehungen hergestellt. Lukas stellt sich in eine bestimmte Tradition von Menschen und nimmt Theophilus mit in diese Traditionskette hinein. Was sich früher bereits bewährt hat im Leben von Menschen, das soll Menschen auch in Zukunft einladen und herausfordern. Keine objektive Wahrheit, die man feststellt, ohne dass es eine Auswirkung auf das eigene Leben hat. Sondern das Einstehen von Zeuginnen und Zeugen und von Schriftgelehrten für etwas Zuverlässiges, Bewährtes, Tragendes. Der zweifache Anfang einer Geschichte: der Geschichte, die jetzt erzählt wird und der Geschichte, die das Leben von Theophilus, das Leben aller Lesenden ist.

10. Juni

(pz) Das Lukasevangelium hat zwei Anfangsgeschichten, zwei Ouvertüren. Die eine erzählt von den Anfängen von Johannes dem Täufer, die andere von den Anfängen Jesu. Das sind allerdings Anfänge, die zugleich Fortsetzungen einer bereits seit langem erzählten und gelebten Geschichte sind, der Geschichte Gottes mit den Menschen, wie sie die Bibel erzählt. Die Geschichte dieser Beziehung soll weiter geschrieben werden. Nicht einfach kopiert; nicht nur als historisches Dokument erhalten, sondern in Gespräch und Auseinandersetzung mit dem überlieferten Wort/Leben «deinen Vers dazu beitragen» (Walt Whitman). Die alten Geschichten so weiter erzählen, dass sie jetzt/heute – unter veränderten Bedingungen – ihren Sinn wieder entfalten und tragender Boden für neue Häuser und neue Wege sein können. Das heisst wohl Dienerin und Diener des Wortes zu sein.