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Das Reich Gottes ist nahe!   

Winfried Bader zum Evangelium am 14. Sonntag im Jahreskreis: Lk 10,1–12.17–20 SKZ 25/2010

Die Botschaft Jesu wird wahrscheinlich mit keinem anderen Begriff besser zusammengefasst als mit der Rede vom nahenden Reich Gottes. Die Befreiungstheologie hat es erkannt: Es ist eine Botschaft, die die Welt konkret verändert soll. Matthäus verwendet statt Reich Gottes den Begriff «Himmelreich». So ist diese Botschaft in den Köpfen vieler zu einer Jenseitsvertröstung verkommen.

«... was in den Schriften geschrieben steht»

Die Erzählung von der Aussendung der Jünger/innen, wie sie uns Lukas schildert, hat ganz massive und direkte Rückgriffe und Anspielungen auf die Heilige Schrift, die Jesus selbst zur Verfügung hatte und gelesen hatte. So bekommen wir Hinweise, in welchem Kontext Jesus seine Botschaft sieht.
1) Die Zahl der Jünger/innen (Lk 10,1):
Es seien 72 Jünger/innen ausgesandt worden – so die Einheitsübersetzung. Die Gute-Nachricht-Bibel spricht mit einer breiten Bezeugung in den greichischen Handschriften von 70. Beide Zahlen könnten sich auf die Völkerliste in Gen 10 beziehen, wo in der hebräischen Fassung 70 Völker aufgezählt werden, in der griechischen dagegen 72. Die Deutung wäre, dass die Botschaft in die ganze damals bekannte Welt getragen wird. Dann passt allerdings nicht, dass die Jünger/innen zu zweit unterwegs sind («Zwei sind zusammen besser dran als einer allein. Wenn zwei zusammenarbeiten, bringen sie es eher zu etwas. Wenn zwei unterwegs sind und hinfallen, dann helfen sie einander wieder auf» Prd 4,9–10). Die Botschaft ging so nur in die halbe Welt.
Bleibt man bei der Zahl 70 gibt es eine andere Deutung. Diese findet sich in Ex 24,1.9: «YHWH sagte zu Mose: Komm zu mir herauf auf den Berg. Nimm Aaron, Nadab und Abihu mit und 70 von den Ältesten Israels.» Jesus wird als zweiter Mose stilisiert. Die 70 Ältesten als Helfer weisen in die Zeit der unmittelbaren Gottesbeziehung in der Wüste: Israel versammelt um Gott als konkretes Ereignis in der Geschichte. Es ist Israels ideale Zeit der unmittelbaren Beziehung zu Gott, wo es selbst ohne eigenen König der Herrschaft Gottes unterstellt war.
An anderer Stelle, wo diese 70 erwähnt werden, wird ihr unmittelbarer Bezug zu Gott betont und der Anteil, den sie an Gottes Geist haben: «YHWH antwortete zu Mose: Versammle 70 angesehene Männer aus dem Kreis der Ältesten. … Ich werde herabkommen und mit dir sprechen, und dann werde ich von dem Geist, den ich dir gegeben habe, einen Teil nehmen und ihnen geben. Dann können sie die Verantwortung für das Volk mit dir teilen» (Num 11,16–17). Reich Gottes heisst hier Verantwortung für die Welt übernehmen in der Kraft des Geistes, der von Gott kommt. Mose und die 70 teilen sich denselben Geist. Der Geist auf die 70 kommt nicht durch Weitervermittlung, sondern unmittelbar von Gott – ein bedenkenswerter Aspekt für die heutige Auffassung der Ämter in der Kirche.

2) Schlangen und Skorpione (Lk 10,19):
«Gott hat euch durch die grosse und gefährliche Wüste geführt, wo giftige Schlangen und Skorpione hausen» (Dtn 8,15). Diese Anspielung führt mitten in eine Rede Mose. Es ist wieder die Wüstensituation, der unmittelbaren Beziehung des Volks zu Gott. Es geht um die Verpflichtung auf das Gesetz, damit das Volk am Leben bleibt. Das Volk Gottes, seine Herrschaft, wird durch das Lebensgesetz etabliert. Dazu gehört die Erinnerung an konkrete Ereignisse der Glaubensgeschiche: Wüstenwanderung (Dtn 8,2), Manna (Dtn 8,3), das Lebenswort Gottes (Dtn 8,3), verheissenes Land (Dtn 8,7), Befreiung aus Ägypten (Dtn 8,14). Es geht um Gott, spürbar im Hier und Jetzt, nicht erst im jenseitigen Himmelreich. Der Schutz Gottes gilt hier: «Gott hat seinen Engeln befohlen, dich zu beschützen, wohin du auch gehst. Löwen und Schlangen können dir nicht schaden, du wirst sie niedertreten» (Ps 91,11.13).

3) «Ich sah den Satan vom Himmel fallen» (Lk 10,18):
Die Figur des Satans taucht beim Propheten Sacharja auf, als es um das unmittelbare Engagement Gottes für seine Stadt Jerusalem geht. «YHWH sagte zu ihm. Schweig Satan! Ich verbiete dir, eine Anklage vorzubringen, denn ich liebe Jerusalem» (Sach 3,2). Der Satan, der vom Himmel stürzt, ist bei Jesaja eine Anspielung auf den König von Babylonien, der durch Kyrus gestürzt wird. Israel profitiert davon. «Du Morgenstern, wie konnte es geschehen, dass du vom Himmel niederstürztest?» (Jes 14,12).

4) Sodom (Lk 10,12):
Die Erzählung aus Genesis 19 ist bekannt. Die Stadt Sodom wird durch Schwefel und Feuer zerstört (Gen 19,23), weil es darin keine Gerechten gab. Die Einwohner achteten nicht die Gastfreundschaft und trieben Unzucht.

5) Namen im Buch verzeichnet (Lk 10,20):
«Vergib doch ihre Schuld! Wenn nicht, dann streiche meinen Namen aus dem Buch, in dem die Namen der deinen eingetragen sind» (Ex 32,32). Bei grosser Schuld wird man aus dem Buch gestrichen. Die Freude, die Jesus verkündet, ist die, dass alle im Buch stehen, es keine gibt mit solcher Schuld, dass er oder sie gestrichen werden müsste. «Aber dein Volk wird gerettet werden, alle, deren Namen im Buch Gottes geschrieben stehen» (Dan 12,1). Gerettet wird man in jenem Endkampf, den Michael, der Engel, führt.
Das Buch der verzeichneten Namen ist ein Motiv, das auch in der christlichen Endzeitliteratur, z. B. der Offenbarung des Johannes, wieder auftaucht. Es nimmt das alte Vertrauen zu Gott auf. «Ich habe dich bei deinem Namen gerufen» (Jes 43,1).

Mit Lukas im Gespräch

Das Material, das Lukas aus seinen Schriften verwendet, die Denkkategorien, die er aus diesen Schriften benutzt, führen in die Zeit der Wüstenwanderung, d. h. der unmittelbaren und unverfälschten Beziehung zu Gott – dazu passt der Auftrag, ohne Vorratstasche zu gehen (Lk 10,4). Zum anderen deuten sich endzeitliche Ereignisse an, die eine Entscheidung eines jeden und jeder fordern.
In dieser Spannung bleibt die ganze Erzählung des Lukas: Was sich auf den ersten Blick liest wie ein Missionsbefehl zur Ausbreitung des Christentums – Anspielung auf die Völker der Welt –, ist dann eigentlich in der Szene nur die Vorbereitung für Jesu Wirken («Die Städte, in die er selbst gehen wollte» Lk 10,1). Diese vorbereitende Tätigkeit würde man aber in einem landwirtschaftlichen Bild als «den Boden bereiten» oder «aussäen» beschreiben. Seltsamerweise spricht Jesus aber bereits von den «Arbeitern für seine Ernte» (Lk 10,2). Die Aussaat und das Wachsen gingen bereits voraus. Jesus blickt auf eine Geschichte zurück. Es ist die Geschichte seines Volks, in der Gott schon säte. Das nahe Reich Gottes, das Jesus und seine 70 verkündigen, ist die Ernte, der Zustand, in den Israel nun überführt werden soll. Es ist die Zeit der Entscheidung, man kann jetzt noch wie Sodom das Reich ablehnen oder sich jubelnd dafür entscheiden, dann ist man im Buch verzeichnet. «Jubelnd kommen sie heim und tragen ihre Garben» (Ps 126,6). Und es ist schliesslich der konkrete Beginn des Reiches im Jetzt der Welt: «Heilt die Kranken, dann ist das Reich Gottes nahe» (Lk 10,9).

Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet nun als Pastoralassistent in Sursee.