Wir beraten

Weiter glauben angesichts der Katastrophe Das Markusevangelium, die Klagelieder des Jeremia und wir   

Karwochenpredigt am 30. März 2010

Ich habe gestern mit dem Schluss des Markusevangeliums aufgehört. Ich möchte heute mit diesem Schluss beginnen. Wir hören den Text in einem etwas grösseren Zusammenhang nochmals:

Elke Kreiselmeyer liest:

1 Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben.
2 Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging.
3 Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?
4 Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr gross.
5 Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weissen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr.
6 Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte.
7 Nun aber geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.
8 Da verliessen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.

Prediger steht hinter dem Stuhl «Markus»

Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon, denn sie fürchteten sich. Kann so ein Evangelium, eine gute Nachricht, eine Erzählung von der Auferstehung, enden?
Das Markusevangelium tut es. Ich habe Ihnen gestern versucht zu vermitteln, warum es das tut.

Das Markusevangelium entstand um das Jahr 70, das heisst genau zur Zeit des Jüdischen Krieges gegen das Römische Reich. Im Jahr 67 entsandte der römische Kaiser Truppen, um einen Aufstand in Galiläa nieder zu schlagen. Die 60´000 Legionäre und Hilfstruppen führten den Krieg mit entsetzlicher Grausamkeit, Zehntausende wurden ermordet, Jerusalem und der Tempel zerstört. Wenn Markus die Geschichte des Juden Jesu um das Jahr 70 herum erzählt, dann spielt die traumatische Erfahrung dieses Krieges dabei eine entscheidende Rolle.
Es gibt Parallelen zwischen dem Kriegsgeschehen und dem Evangelium: Der Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem entspricht genau dem Weg, auf dem die Römischen Truppen vorrücken. Jesus stirbt am Kreuz – um Jerusalem herum errichten die Römer einen Wald von Kreuzen. So viele, dass – wie ein antiker Historiker schreibt – das Holz in Judä knapp wird.
Am Ende des Krieges ist die Bevölkerung verhungert, ermordet oder in die Sklaverei verkauft, die Stadt wird zu einem wüsten Ort. Das Markusevangelium endet am Grab, dem wüsten Ort der Toten. Es endet mit Entsetzen und Sprachlosigkeit.

Ich denke, wir können davon ausgehen, dass der Jüdische Krieg der Hintergrund des Markusevangeliums ist? Dass sich Markus und seine Gemeinde fragten: Wo war Gott bei der Zerstörung Jerusalems? Wo ist das angekündigte Reich Gottes? Welchen Sinn hat die Rede von der Auferstehung eines Einzelnen angesichts der Leichenberge in Palästina? Wir können das Markusevangelium als Versuch lesen, die traumatischen Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Die Auferstehungsbotschaft wird nicht weiter erzählt, denn angesichts der Leichenberge in Jerusalem ist sie in die Krise geraten.
Diese Krise ist auch unsere Krise. Wie Markus nach der Zerstörung Jerusalems stehen wir heute vor der Frage wie wir nach Auschwitz von Auferstehung sprechen können, ohne dass es leeres Gerede ist?
Und – ohne das mit Auschwitz gleichsetzen zu wollen – stehen wir auch angesichts der Opfer der sexuellen Gewalt in der Kirche und ihrer systematischen Vertuschung über Jahrzehnte hinweg vor der Frage, wie wir in dieser Situation glaubwürdig vom Gott des Lebens sprechen können.

Die Jüngerinnen und Jünger im Evangelium verkörpern die Krise des christlichen Glaubens. Drei Jüngerinnen, die zum Grab gehen, um den Leichnam Jesu zu salben, verstummen vor Entsetzen. Das Markusevangelium gibt dem Unverständnis und der Sprachlosigkeit grossen Raum, es räumt der Verzweiflung ein nachvollziehbares Recht ein. Angesichts des furchtbaren Kriegstraumas sind Erstarrung, Verzweiflung und Sprachlosigkeit normal und verständlich. Und eine allzu schnelle tröstliche Antwort wäre nur Vertröstung, sie würde kaum wirklich tragen. Angesichts der Opfer von Gewalt wäre eine triumphierende Auferstehungsbotschaft nur zynisch. Markus widersteht dem. Er hält das Erstarren und Verstummen aus.

Das Evangelium endet mit den Frauen am Grab. Sie kamen mit wohlriechenden Ölen, um den Leichnam Jesu zu salben, wie eine namenlose Frau in Betanien, die den Leib Jesu im voraus für das Begräbnis salbt. Von ihr erzählt Markus im Kapitel 14 senes Evangeliums. Von ihr heisst es: «Überall auf der Welt, wo das Evangelium verkündet wird, wird man sich an sie erinnern und erzählen, was sie getan hat.» Auch die salbenden Frauen am Grab sollen erinnert, auch von ihnen soll erzählt werden. Sie hören von der Auferstehung Jesu. Was das bei ihnen bewirkt, bleibt offen. Das Markusevangelium schliesst mit dem Blick auf Menschen, die nicht wissen, ob sie an die Botschaft glauben können und die dennoch weiterleben und trotz aller Verzweiflung für das Leben arbeiten. Zu ihnen gehört im Markusevangelium auch ein Mann, Josef von Arimathäa, der Jesus in ein Leinentuch wickelt und ins Grab legt. Darin zeigt sich trotz aller Verzweiflung seine zärtliche Sorge für das Leben.

Was Markus hier beschreibt, sind Karsamstagserfahrungen und Karsamstagstätigkeiten. Das Markusevangelium ist ein Karsamstagsevangelium. Der Karsamstag ist der Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag. Diese beiden Tage verdichten in der christlichen Tradition menschliche Erfahrungen: der Karfreitag die Erfahrung von Grenzen und Leid, die Begegnung mit dem Tod; der Ostersonntag die Erfahrung von Neuanfängen, aufrechtem Gang, die Hoffnung auf die Fülle des Lebens über den Tod hinaus. Der Karsamstag «liegt zwischen Tod und Leben, theologisch gesprochen zwischen Kreuz und Auferstehung». Er ist eine Zwischenzeit. Die christliche Tradition spricht davon, dass Jesus an diesem Tag hinabgestiegen ist in das Reich des Todes. Der Karsamstag erinnert uns daran, dass es in jedem Leben lähmende Zwischenzeiten gibt. Er steht für diese eigentlich nicht aushaltbare Schwere menschlicher Existenz, die sich manchmal unerträglich in die Länge zieht.
Ich bin sicher, viele von ihnen kennen das aus eigener Erfahrung. Menschen mit schmerzlichen und traumatischen Erfahrungen kennen das. Wer einen geliebten Menschen verloren hat, kennt das. Es fühlt sich an, als seien nicht nur die Verstorbenen, sondern auch die Zurückbleibenden und Überlebenen in das Reich des Todes hinabgestiegen.

Es gibt eine karsamstägliche Frömmigkeit. Sie besteht darin, weiter zu leben und weiter zu machen ins Ungewisse hinein. Trotz Tod, trotz Gewalt, trotz Krieg, trotz Klimawandel.
Karsamstäglich zu leben und zu glauben, hat Folgen auch für das Erleben und Verstehen von Ostern. Karsamstäglich begangen wäre der Ostersonntag nicht der Tag des triumphierenden Glaubens, sondern der Tag des ungläubigen Staunens.
Von Auferstehung zu reden und auf den Gott des Lebens zu vertrauen, das ist im Sinne des Markusevangeliums eine Einübung in das ungläubige Staunen – trotz allem.

Musik: Orgelillustrationen von Ralph Stelzenmüller

Prediger steht hinter dem Stuhl «Markus»

Das Markusevangelium weist vorsichtig, tastend und leise Wege ins ungäubige Staunen, über das Verstummen und Entsetzen hinaus.
Am Ende des Evangeliums kommt ein junger Mann zu Wort und weist diese Richtung. Er sagt: «Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten? Er ist nicht hier. Er ist auferstanden. Er geht euch voraus nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen.»

Was bedeutet das?

Das Ende der Geschichte weist zurück auf den Anfang der Geschichte. Am Anfang des Evangeliums zieht Jesus durch Galiläa. Er verkündet das Reich Gottes und heilt die Menschen. Die Erzählungen in den Kapiteln 1 bis 10 des Markusevangeliums werden oftmals als der «galiläische Frühling» bezeichnet. In der Gemeinde St. Stephan beschäftigt sich gerade eine Gruppe unter Leitung von Ralf Kreiselmeyer intensiv mit den biblischen Texten aus dem galiläischen Frühling. Ein wunderbares Ereignis folgt hier dem anderen. Menschen werden in der Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft vom Reich Gottes, das gekommen ist, heil, können ihre Dämonen, die ihnen das Leben so schwer machen, abwerfen, werden aufgerichtet, stehen auf und üben den aufrechten Gang ein.
Sicher, es gibt auch Zweifel an Jesus, von seinen nächsten Angehörigen am stärksten. Es gibt Widerstand und auch Scheitern. Aber insgesamt ist Galiläa der Raum, in dem erfahrbar wird, was das Leben im Reich Gottes für Menschen bedeutet. Hier hat das Reich Gottes bereits begonnen wie das Senfkorn, das das kleinste Samenkorn ist, das aber wächst und zu einem Gewächs wird, in dessen Schatten die Vögel des Himmels nisten können.
Hierhin, nach Galiläa, weist der junge Mann am leeren Grab die Frauen und uns.
Geht nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen.
Das ist keine Nostalgie, die sagt: Früher, in Galiläa, da war alles besser. Oder: angesichts der schrecklichen Zustände in der Gegenwart bleibt uns nur der sehnsüchtige Blick zurück. In Krisensituationen erliegen wir manchmal dieser Versuchung, die Vergangenheit zu verklären. Gerade in Krisensituationen in der Kirche heisst es schnell: Früher war alles besser. Auch das Volk Israel in der Bibel kennt diese Versuchung. Bei der langen Wanderung durch die Wüste, als es darum geht, das Zusammenleben als freie Menschen einzuüben, da wandert der Blick immer wieder zurück in das frühere Sklavenhaus Ägypten.
Gott wird gefragt: Warum hast du uns aus Ägypten weggeführt? Dort sassen wir an den Fleischtöpfen». Die Fleischtöpfe Ägyptens sind sprichwörtlich geworden.
Die Bibel zieht das Leben in Freiheit den Fleischtöpfen Ägyptens vor. Und sie hat einen genauen Blick und einen feinen Humor: Wer an den Fleischtöpfen sitzt, ist noch lange nicht derjenige, der auch aus den Fleischtöpfen ist. Das Fleisch aus den Töpfen essen die Herren. Die Sklavinnen und Sklaven sitzen an den Töpfen und schauen sehnsuchtsvoll hinein. Aber in der Erinnerung wird selbst das hungrige Sitzen an den Töpfen zu etwas wertvollem verklärt.

Doch zurück zum Markusevangelium. Geht nach Galiläa, das ist kein Rückzug in eine verklärte Vergangenheit. Der gekreuzigte Jesus geht voraus nach Galiläa, damit die Jüngerinnen und Jünger besser verstehen können, was Auferstehung bedeutet. Erinnert euch an eure Erfahrungen in Galiläa. Erinnert euch an die Menschen, die sich aufgerichtet haben. Erinnert euch an die Lähmungen, die sie überwunden haben. Erinnert euch an eure Berufung, der ihr gefolgt seid. Erinnert euch an all die Momente, in denen ihr erfahren habt: das Reich Gottes ist da!
All das waren Auferstehungserfahrungen. All das ist schon Wirklichkeit und ist uns verheissen in Fülle.

Preidger steht hinter dem Stuhl «Wir

Ich lade Sie ein, in einem Moment der Stille sich an Ihre eigenen Auferstehungserfahrungen in Ihrem Leben zu erinnern. Gehen Sie in Ihr Galiläa. Dort werden Sie dem Lebendigen begegnen.

Stille

Preidger steht hinter dem Stuhl «Markus»

Ich möchte Ihnen eine Auferstehungsgeschichte aus Galiläa, die im Markusevangelium steht, erzählen. Es ist eine ganz kurze Geschichte und sie handelt von der Schwiegermutter des Simon Petrus. Sich daran zu erinnern, dass der erste Petrus eine Schwiegermutter hatte, also verheiratet war, kann mit Blick auf die Nachfolger des Petrus bis heute, auch eine Auferstehungserfahrung sein.

Die Geschichte umfasst drei Verse und lautet in der Einheitsübersetzung so:

Elke Kreiselmeyer liest

29 Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger verliessen die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes gleich in das Haus des Simon und Andreas.
30 Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen mit Jesus über sie,
31 und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie sorgte für sie.

Die Schwiegermutter des Simon Petrus wird von ihrem Fieber geheilt und sorgt dann für Jesus und die Jünger. Traditionell wird darunter verstanden, dass sie ihnen etwas zu essen gemacht und sie am Tisch bedient hat usw. Frauenarbeit eben.
Aber: die Schwiegermutter des Simon Petrus war, genau wie Simon Petrus und Jesus und all die anderen Jüngerinnen und Jünger, Jüdin. Und die Geschichte spielt am Sabbat. Sie kommen gerade aus der Synagoge. Die Weisungen für den Sabbat sehen klar vor, dass an diesem Tag nicht gearbeitet wird. Jüdische Hausfrauen und Hausmänner kochen nicht am Sabbat. Der Küchendienst wird am Vorabend ausgeführt, so dass für den Feiertag alle Speisen bereit stehen und alle frei haben.
Wie hätte also die geheilte jüdische Frau in unserer Geschichte ihre Gäste bedienen können? Wenn sie das Krankengewand mit der Küchenschürze vertauscht hätte, wäre das ein klarer Verstoss gegen die Sabbatordnung gewesen. Im Markusevangelium kommt es immer wieder zu Streit darüber, was am Sabbat erlaubt ist und was nicht. Hier ist keine Rede davon, also wurde wohl das Sabbatgebot eingehalten.
Was hat die geheilte Schweigermutter des Petrus also getan, nachdem sie geheilt und aufgerichtet wurde?

Im griechischen Urtext steht hier das Wort «diakonein», dienen. Das Wort ist von höchster Bedeutung. Mit diakonein beschreibt Jesus im Markusevangelium das Kennzeichen der Gemeinschaft, die ihm nachfolgt. «Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener» (10,43) und «Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern dass er diene» (10,45).
Einander dienen ist Kennzeichen der Nachfolgemeinschaft Jesu, weil es die Qualität des Zusammenlebens im Reich Gottes ist. Einander Dienen ist Zeichen für die Gegenwart des Reiches Gottes.

Markus erzählt von Jesus und den Menschen mit denen er verbunden war. Er erzählt für Gemeinden, die 40 Jahre später leben. Sie versuchen die Impulse, die sie aus der Zeit Jesu haben, in ihrer Zeit und ihrem Zusammenleben umzusetzen. Die Art, wie Jesus mit Menschen zusammenlebte, ist Modell für das Zusammenleben späterer Gemeinden. Sie sollen geprägt sein davon, einander zu dienen, füreinander verantwortlich zu sein. Das tut die Schwiegermutter des Petrus vorbildlich. Insofern verkörpert die Schwiegermutter des Petrus die jüdisch-christliche Gemeinde, wie sie Markus in seiner Zeit erlebt oder sich Zeit wünscht. Gemeinden in denen Frauen vorbildlich dienen, d.h. Verantwortung für die anderen tragen, also Diakoninnen sind und das Reich Gottes erfahrbar machen.
Wir wissen nicht, wie das dienen der Schwiegermutter des Petrus genau aussah und wir wissen nicht, wie das Dienen der Frauen in den Gemeinden des Markusevangeliums aussah. Aber es spricht viel dafür, dass es um die Gestaltung des Lebens in der Gemeinde ging. Um das gemeinsame Gebet, das gemeinsame Lesen in der Schrift und das gemeinsame Mahl. In Galiläa war all das möglich. Das ist eine Auferstehungserfahrung.

Ich habe die Schwiegermutter des Petrus als Verkörperung der Gemeinde im Geist Jesu verstanden. Als Symbolfigur gleichsam. Ich glaube, sie hat im Markusevangelium noch eine weitere symbolische Bedeutung. Das hat wieder mit der Zeit zu tun, in der das Evangelium entsteht:

Im Jahr 70 – im Krieg gegen die Römer – gingen Jerusalem und der Tempel in Flammen auf, Brände wüteten in der Stadt. Von der Schwiegermutter des Petrus heisst es wörtlich: «Sie hatte den Fieberbrand». Ist sie im Markusevangelium Symbol für das brennende Jerusalem?
Dem römischen Krieg gegen Jerusalem ging ein Aufstand jüdischer Widerstandskämpfer (den Zeloten) voraus, der in Galiläa begann. Sie waren von einer starken politischen Hoffnung getragen und erwarteten das Eingreifen Gottes zugunsten ihres Kampfes. Der Messias würde kommen, sich an ihre Spitze stellen und den Kampf zum Sieg führen. Der Aufstand entwickelte sich zu einem Bürgerkrieg, weil die Zeloten andere jüdische Gruppen bekämpften. Als die römischen Truppen vorrückten und schliesslich die Aufständischen (und Zehntausende Unbeteiligte) in Jerusalem einschlossen, errichteten die Zeloten eine Schreckensherrschaft in der Stadt. Die Menschen wurden mit Gewalt zum Kampf gezwungen oder umgebracht. Die Hoffnung auf den Messias war zu einem tödlichem Fieber geworden. Ist der Fieberbrand der Schwiegermutter symbolisch damit verknüpft?

Markus erzählt zu Beginn seines Evangeliums eine Erfolgsgeschichte. Nach der Heilung der Schwiegermutter kommt «die ganze Stadt» zu Jesus und er heilt «viele, die an allen möglichen Krankheiten litten»(1,33-34). Markus erzählt die Geschichte, wie es hätte kommen können mit dem Messias. Die wirkliche Geschichte verlief anders. Die Zeloten setzten auf einen anderen Messias, ihr Fieber und die Brände der römischen Truppen zerstörten die Stadt. Die Römer errichteten einen Wald von Kreuzen, Jerusalem wurde zum Grab.
Die Geschichte von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus ist eine Variante der Passionsgeschichte, ihre Umkehrung in ein heilvolles Geschehen, in eine Auferstehungsgeschichte.
Nach dem Krieg begannen die Wege von Christen und Juden sich zu trennen. Viele Christen sagten: Gott hat Israel bestraft und verlassen. Die Zerstörung Jerusalems ist das Zeichen dafür.
Das Anliegen des Markus ist es, dass sich Christen und Juden nicht trennen, sondern miteinander verbunden bleiben oder wieder aufeinander zu bewegen.
Der gemeinsame Ausgangspunkt dafür ist die Erfahrung des Verlustes: Verlust des Landes mit fast allen seiner Bewohnerinnen und Bewohner, des Tempels, Verlust der Hoffnung auf einen siegreichen Messias.
Aus diesem Verlust, diesem Stillstand allen Lebens wächst am Ende des Markusevangeliums in einem Gespräch am Grab die Frage nach einer anderen Deutung des Geschehens. Einer Deutung, die der Geschichte Gottes mit seinem Volk treu bleibt. Sie ist in dem Wort «Auferstehung» zusammengefasst.
«Er ist auferstanden. Er ist nicht hier», sagt der junge Mann im Grab über den Gekreuzigten (16,6,). Er sagt es über alle Gekreuzigten in und um Jerusalem. «Er geht euch voraus nach Galiläa». Wenn ihr dorthin geht, könnt ihr sehen, was Auferstehung bedeutet. Gott bleibt Israel treu über den Tod hinaus.

Das Gehen nach Galiläa ist mit Angst und Schrecken verbunden. Es heisst, den Toten, den Opfern der Geschichte und auch der eigenen Mitschuld ins Auge zu sehen, sie nicht zu verdrängen und zu vergessen. Es wird alles andere als ein einfacher und gefahrloser Weg.

Nach Galiläa gehen, den Auferweckten sehen, bedeutet, die Praxis Jesu beibehalten von der die Geschichten, die in Galiläa spielen, erzählen:
nicht einander bekämpfen, sondern einander dienen, wie es die Schwiegermutter des Petrus getan hat.

Musik: Orgelillustratione von Ralph Stelzenmüller

Preidger steht hinter dem Stuhl «Jeremia»

Auf die schreckliche Katastrophe des Jahres 70, die Zerstörung Jerusalems, gab es damals viele Reaktionen. Es gab auch Reaktionen, die von dem Entsetzen und dem Schrecken, denen auch das Markusevangelium Raum gibt, viel stärker erfasst wurden.
Das Buch des syrischen Baruch, das etwa zur Zeit des Markusevangeliums entstand, klagt herzzerreissend über die Zerstörung Zions, wie Jerusalem auch genannt wird.

Elke Kreiselmeyer liest:

«Heil dem, der nicht geboren!
Heil dem, der zwar geboren, aber bald gestorben!
Weh uns, die wir jetzt leben,
dass wir die Trübsal Zions angeschaut,
Jerusalems Geschick.
...
Wehklagt mit mir!
Ihr Ackerbauern!
Ihr sät nicht mehr!
Du Erde!
Weshalb gibst du der Ernte Früchte her?
Halt doch zurück in deinem Schoss
Die Nahrung voller Wohlgeschmack.
...
Ihr Himmel!
Behaltet euren Tau!
Macht nicht des Regens Vorratskammern auf!
Du Sonne!
Behalte deiner Strahlen Licht!
Wozu soll dort noch weiter Licht erstrahlen,
wo Zions Licht verdunkelt ist?
Brautleute!
Betretet nicht das Brautgemach!
...
Ihr Frauen, betet nicht um Kindersegen!
Die Unfruchtbaren müssen vielmehr fröhlich sein,
und freuen sollen sich die, die keine Kinder haben.
Die Kindermütter müssen traurig sein.
Weswegen sollen sie mit Schmerzen noch gebären?
Nur, um mit Seufzern zu begraben?
...
Warum soll vom Geschlecht der menschlichen Natur
Noch weiterhin die Rede sein,
wo hier nun diese Mütter ganz verstört
und ihre Kinder in Gefangenschaft geschleppt?
Von jetzt an dürft ihr nimmer von der Schönheit reden
Und nicht erzählen von der Anmut.»

Auch diese Klage, die keinen Weg mehr sieht, die keine Hoffnung und keine Zukunft mehr hat, auch diese Verzweiflung gilt es zu würdigen.
Von dieser Klage sind auch die Klagelieder des Jeremia erfüllt. Von dieser Klage ist die ganze Bibel voll. Die Bibel gibt eine grosse Erlaubnis zum Klagen und zum Schreien. Davon legen die vielen Klagepsalmen etwa im Buch der Psalmen Zeugnis ab. Aber auch das Buch Ijob ist in weiten Teilen ein Zeugnis der Klage. Auch der Klage vor Gott und der Anklage Gottes. Wer so klagt, klagt biblisch.
Menschen müssen so klagen, weil die Welt leider Gottes so ist wie sie ist.
Die Welt ist unerlöst. Sie schreit selbst in Schmerzen auf.
Manchmal ist es unmöglich zu unterscheiden, ob es Todeschmerzen sind oder vielleicht, vielleicht Schmerzen einer Gebärenden unter den Wehen.

Die Klagelieder heissen in der jüdischen Tradition «echa». Echa ist dad hebräische Wort für Klage. Die jüdische Tradition hat die Klage auch mit Gott in Verbindung gebracht. Auch Gott klagt über den Zustand der Welt. Gottes Klage ist ebenfalls in dem Wort echa ausgedrückt. Jetzt bekommt aber dieses Wort eine neue Bedeutung. Und diese neue Bedeutung finden die jüdischen Schriftgelehrten in der Bibel.
In der biblischen Erzählung von den Menschen im Garten Eden, dem Paradies, der Welt wie sie sein soll und wie sie ersehnt wird, da heisst es:

8 Als die Menschen Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens.
9 Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du?

Die Frage Gottes, wo bist du, heisst auf hebräisch ebenfalls echa.
Für die jüdischen Gelehrten gibt es keine Zufälle. In dieser Gleichheit der Ausdrücke für Klage und für die Frage Gottes wo bist du, Mensch? steckt eine Erkenntnis.
Es ist die Erkenntnis, dass Gott den Zustand der Welt ebenfalls beklagenswert findet. Es ist die Erkenntnis, dass Gott sich nach dem Menschen sehnt und die Menschen sucht, verzweifelt sucht von Anbeginn an.
Die Klage Gottes, sein Ruf nach dem Menschen, wo bist du? Schallt durch die Welt und hofft auf unsere Antwort.
Die Sehnsucht Gottes ist die nach Beziehung.
Danach, dass wir aufhören, uns zu verstecken, voreinander und vor Gott.
In der Beziehung verwirklicht sich Heil, schalom, Leben, Auferstehung. In der Beziehung zwischen Menschen und in der Beziehung von Menschen zu Gott. In einer aufrechten Beziehung, im aufrechten Gang miteinander geschieht Auferstehung.

Eine besonders wichtige Form der Beziehung ist die zu den Opfern der Geschichte. Den früheren und den gegenwärtigen. Deswegen ist auch die Klage um die Opfer eine Form der Beziehung, aus der Heil wachsen kann. Die Opfer dürfen nicht vergessen gehen. In der Erinnerung liegt Heil.
Wir brauchen eine Sprache, die uns erinnern hilft. Wir brauchen die Erinnerung und wir müssen eine Sprache, eine Kultur für die Erinnerung entwickeln. Wir müssen uns in die Erinnerung einüben. Die Klagelieder und andere Klagetexte leihen uns ihre Sprache. Bibeltexte können uns Sprache leihen für unsere Trauer und für unsere Hoffnungen, wenn unsere eigenen Worte nicht ausreichen.

Die Klagelieder geben uns noch weitere Hilfen bei der Erinnerung. Die einzelnen Strophen der Klagelieder orientieren sich am hebräischen Alphabet. Weil der erste Buchstabe das Aleph ist und der zweite das Beth, müssten wir richtigerweise vom Alephbet sprechen. Die erste Strophe beginnt mit Aleph, die zweite mit Bet und so weiter. Die Anfangsbuchstaben jeder Strophe bilden nacheinander das Alephbet. So helfen sie dabei, sich an die einzelnen Verse zu erinnern. Sie sind eine Gedächtnisstütze. Sie wollen das Lernen und Erinnern fördern.

Und sie sind öffentliche Texte. Geschrieben für ein öffentliches Klage- und Erinnerungsritual. Sie wollen das öffentliche, das gemeinsame Erinnern fördern. Sie sind davon überzeugt: Gemeinsames und öffentliches Erinnern ist notwendig und heilsam.
Hinter dem Stuhl Wir
Es gibt eine ganz aktuelle Anknüpfung an die biblische Tradition der öffentlichen Klagens. In Basel hat sich im Jahr 2007 der erste Schweizer Klagechor gebildet. Diese Initiative geht zurück auf eine Idee, die aus Finnland stammt. Wenn Menschen gemeinsam stänkern und ihren Unmut äussern, gibt es dafür im Finnischen das Wort «Valituskuoro», wortwörtlich übersetzt: Klagechor. Das Künstlerpaar Tellervo und Oliver Kochta-Kelleinen hat diesen Begriff wörtlich genommen und vor ein paar Jahren das Kunstformat des «Complaints Choir» erfunden.
Nach ihrem Vorbild wurde in den letzten Jahren weltweit in mehr als einem Dutzend Städten geklagt: in Birmingham, in Helsinki, Chicago und letzten Herbst auch in Basel. Die sehr lustvolle Form des gemeinsamen Klagens im Chor geht davon, dass so die klagenden Menschen selbst verwandelt und gestärkt werden, dass aber auch ihre Anliegen durch die Stimmgewalt des Chores mehr Gehör finden. In manchen Städten bieten Klagechorleiterinnen und –leiter an, Menschen, die etwas gemeinsames beklagen, zusammenzubringen und zu dabeizu begleiten, ihrer Klage Gehör zu verschaffen.
Ich finde, in unserer gegenwärtigen Kirchensituation braucht es dutzende, ja hunderte von Klagechören.

Vielleicht entsteht ja hier in Therwil/Biel-Benken ein Klagechor inspiriert von den biblischen Klageliedern des Jeremia. Vielleicht entsteht aber auch etwas ganz anderes. Denn die Bibel bietet vielerlei Inspirationen an. Auf jeden Fall sollen Sie hier in Therwil/Biel-Benken in Berührung und Begegnung mit der Bibel kommen. Und zwar im Rahmen des Projektes Biblisches Umgesetzt. Sichtbares Zeichen dafür sind diese bunten Stühle, die hier in der Kirche und überall auf der Kirchenmeile stehen. Sie werden uns ein Jahr lang begleiten, bis Ostern 2011.
Es sind Stühle mit Schatten. Die Schatten stehen dafür, dass auch die Bibel Schatten wirft. Mächtige, dunkle Schatten mitunter.
 Es ist nicht einfach sie zu lesen, schliesslich ist sie ein Buch aus einer ganz anderen Zeit und einem ganz anderen Kulturkreis.
 Vielen von uns ist das Lesen in der Bibel auch zusätzlich verdorben worden. Da haben sicher viele von Ihnen Geschichten zu erzählen.
 Menschen, die jede Situation im Leben mit einem flotten Bibelspruch meistern wollen, sind mir jedenfalls auch keine wirkliche Hilfe.
 Und was ist nicht schon alles mit der Bibel gerechtfertigt worden: Kriege, Sklaverei, die Unterdrückung von Frauen und die Verteufelung von Sexualität und und und.
Diese Schatten der Bibel dürfen nicht verharmlost werden. Im Gegenteil. Sie sollen Raum bekommen. Wir haben beim Gestalten der Stühle und ihrer Schatten die Erfahrung gemacht, dass sich je nach Lichteinfall die Gestalt der Schatten ziemlich verändert.
Wir, das ist eine Gruppe von Menschen hier aus der Pfarrei und aus der reformierten Gemeinde. Es handelt sich um

Jutta Achhammer Moosbrugger
Barbara Felder
Juliane Hartmann von der Reformierten Gemeine
Elke und Ralf Kreiselmeyer
Walli Schaad
Ralph Stelzenmüller

Und um mich. Peter Zürn vom Schweizerischen Katholischen Bibelwerk. Ich arbeite bei der Geschäftsstelle dieses Vereins, der Bibelpastoralen Arbeitsstelle. Wir feiern im Jahr 2010 unser 75jähriges Jubiläum. Ein zentrales Projekt dieses Jubiläumsjahres ist die Zusammenarbeit mit der Pfarrei Therwil/Biel-Benken im Projekt Biblisches umgesetzt.
In diesem Projekt wollen wir neue Wege gehen.
Dabei ist klar, was wir nicht wollen. Wir wollen nicht neben all die schon bestehenden Formen des Gemeindelebens auch noch Angebote zur Bibelarbeit oder zum Bibellesen machen.
Sondern wir wollen möglichst viele der schon bestehenden Formen des Gemeindelebens in Verbindung mit der Bibel bringen. Wir glauben, dass durch diese Begegnung zwischen dem Leben und der Bibel beide, das Leben und die Bibel beseelt werden können. Wir glauben, dass in der Beziehung zwischen dem Leben und der Bibel ein Raum entsteht, in dem die Heilige Geistkraft Gottes sich wohl fühlt
und sich niederlässt, um uns mitzureissen.

Wie das aber genau aussehen wird, in Therwil/Biel-Benken, das wissen wir noch nicht.
Wir werden in der Begleitgruppe genau hinsehen, hinhören und hinspüren, wo sich Räume für die Begegnung von Leben und Bibel auftun.
Wir laden aber auch Sie ein, Sie als Einzelne oder Sie als Mitglied einer Gruppe:
Melden Sie sich, wenn Sie Interesse haben, am Projekt Biblisches Umgesetzt mitzuwirken. Auch wenn Sie noch keine Ahnung haben, wie das vor sich gehen soll. Wir können ja gemeinsam darüber nachdenken.

Sie kennen die Ansprechpartnerinnen und –partner hier vor Ort. Ich hoffe, Sie werden mich im Laufe des Projektes kennenlernen. Und ich Sie.

Ich lege hinten in der Kirche meine Visitenkarte auf.

Ich freue mich sehr darauf, mit ihnen zu klagen, mit ihnen zu singen, zu essen, zu schweigen, zu sprechen, zu träumen, zu beten und mich mit ihnen gemeinsam von der Heiligen Geistkraft mitreissen zu lassen.

Amen.

Hören wir zum Abschluss der Karwochenpredigten noch einmal Orgelmusik von Ralph Stelzenmüller.

Musik