Wir beraten

Weiter leben angesichts von Katastrophen Die Klagelieder des Jeremia, das Markusevangelium und wir   

Karwochenpredigt in Therwil am 29. März 2010

Raumgestaltung:
Auf der Stufe zum Chorraum stehen drei Stühle nebeneinander
A – Vom Publikum aus gesehen links – steht für die Zeit des Markusevangeliums. Auf der Lehne klebt ein Zettel «Markus»
B – Mitte – steht für die Zeit der Klagelieder, auf der Lehne klebt ein Zettel «Jeremia»
C – vom Publikum aus gesehen rechts – steht für unsere Gegenwart, auf der Lehne klebt ein Zettel «wir»
Jeder Stuhl hat einen Schatten

Der Prediger steht vor den Stühlen zu den Zuhörenden hin.

«Weiter leben angesichts von Katastrophen» und «weiter glauben angesichts von Katastrophen» sind diese Karwochenpredigten überschrieben.
Als ich angefangen habe, diese Predigten zu schreiben, dachte ich dabei an die Katastrophe der zweimaligen Zerstörung Jerusalems vor 2500 und vor 2000 Jahren. Auf diese Katastrophe reagieren die biblischen Texte, die im Zentrum der Predigten stehen sollen. Als ich angefangen habe, diese Predigten zu schreiben, da ereigneten sich kurz hintereinander in Haiti und in Chile zwei Katastrophen. Schreckliche Erdbeben, die vor allem in Haiti Hunderttausende Menschen töteten und Städte und Dörfer dem Erdboden gleichmachten. Wenn ich als christlicher Theologe, der 1964 geboren wurde und noch dazu Deutscher ist, an das weiter leben und weiter glauben nach einer Katastrophe denke, dann denke ich an die Shoah, an den millionenfachen Mord an jüdischen Menschen durch den Nazistaat und alle, die sich daran beteiligt oder dazu geschwiegen haben. Wie können wir nach Auschwitz von Gott reden, ist eine Frage, die mich seit langem umtreibt.
Jetzt aber, durch das Aufdecken so vieler Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Vertreter der Kirche und das jahrzehntelange Verschweigen und Verdecken solcher Verbrechen durch Kirchenverantwortliche, hat das Thema dieser Karwochenpredigten noch eine ganz neue Dimension gewonnen.
Für die Opfer der sexuellen Gewalt waren die Übergriffe durch kirchliche Respektpersonen eine Katastrophe. Sie waren gezwungen angesichts dieser Katastrophe weiter zu leben. Und viele haben auch darum gerungen, nach dieser Katastrophe weiter zu glauben. Das verdient grossen Respekt und Würdigung.
Die aktuelle Situation ist aber auch eine Katastrophe für uns als Kirche. Wie können wir als Kirche danach weiter leben? Was muss sich bei uns ändern? Wozu sind wir herausgefordert und aufgerufen?
Und: muss das alles nicht auch Konsequenzen für unseren Glauben haben? Für unsere Vorstellungen von Gott, für unsere Beziehungen innerhalb des Volkes Gottes, für unseren Umgang mit unserer Geschichte?
Ich bitte Sie, meine beiden Predigten auch mit Blick auf diese brennend aktuellen Fragen zu hören.

Ich möchte beginnen mit einem Zitat von Albert Camus aus seinem Roman «Die Pest»:

«Damals ... beschloss Doktor Rieux, den hier endenden Bericht zu schreiben, um nicht zu denen zu gehören, die schweigen, und um für diese Pestkranken Zeugnis abzulegen, damit wenigstens eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit und Gewalt blieb, die ihnen angetan worden war, und um einfach zu sagen, was man in Plagen lernt, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.»

Doktor Rieux schreibt nach einer Pestkatastrophe. Er ist einer der Überlebenden. Er erinnert und legt Zeugnis ab.
Die Klagelieder in der Bibel sind entstanden, nachdem im Jahr 586 vor unserer Zeitrechnung Jerusalem von den Truppen des babylonischen Königs zerstört wurde. In der Tradition werden die Klagelieder dem Propheten Jeremia zugeschrieben. Ich folge dem, auch wenn es fraglich ist, ob er historisch wirklich der Autor war. Jeremia schreibt nach der Katastrophe der Zerstörung seiner Heimatstadt Jerusalem in einem Krieg. Auch er ist einer der Überlebenden. Er erinnert und legt Zeugnis ab.

Im 1 Klagelied bekommt die zerstörte Stadt eine Stimme. Sie schreit:

1,12 Ihr alle, die ihr des Weges zieht, / schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, / den man mir angetan, mit dem der Herr mich geschlagen hat / am Tag seines glühenden Zornes.

Hier werden wir angesprochen. Wir sind Menschen, die des Weges ziehen und auf die Katastrophen unserer Geschichte schauen. Auf die Katastrophen der Welt- und Kirchengeschichte, aber auch auf die Katastrophen unserer persönlichen Lebensgeschichte. Wir schauen manchmal als Betroffene, oftmals als Zuschauerinnen und Zuschauer. Wir sind Überlebende, Nachgeborene, manchmal Mitverantwortliche, oftmals Hilflose.
Wie können wir leben angesichts der Katastrophen unserer Zeit und unserer Welt?
Wie können wir uns erinnern und zu Zeuginnen und Zeugen werden?

Der Prediger steht hinter dem Stuhl «Jeremia»:

Ich möchte diesen Fragen nachgehen und mich dabei an biblischen Texten orientieren.
Das erste, was wir von dem Klageruf Jerusalems in den Klageliedern lernen können, ist, dass jede Katastrophe, dass jedes Leid unvergleichlich ist. «Seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz». Nein, kein Schmerz ist wie der andere. Und kein Schmerz kann und darf durch den Vergleich mit anderen Schmerzen kleiner gemacht, relativiert, verharmlost werden.
Die Klagelieder des Jeremia, die im Alten Testament überliefert sind, muten uns viel zu. Sie sprechen von Kindern und Säuglingen, die auf den Plätzen der Stadt Jerusalem verhungern. Jerusalem wurde von der Grossmacht Babylon erobert und zerstört. Monatelang wurde die Stadt belagert, der Hunger war entsetzlich, schliesslich drangen die Truppen in die Stadt ein, mordeten und vergewaltigten. Wie in allen Kriegen traf es die Schwächsten und Wehrlosesten besonders schlimm. Jeremia klagt darüber und ruft andere auf, mit ihm zu klagen:

Elke Kreiselmeyer liest den Bibeltext. Ein Textblatt liegt auf.

19 Steh auf, klage bei Nacht, / zu jeder Nachtwache Anfang! Schütte aus wie Wasser dein Herz / vor dem Angesicht des Herrn! Erhebe zu ihm die Hände / für deiner Kinder Leben, die vor Hunger verschmachten / an den Ecken aller Strassen.
20 Herr, sieh doch und schau: / Wem hast du solches getan? Dürfen Frauen ihre Leibesfrucht essen, / ihre sorgsam gehegten Kinder? Darf man erschlagen im Heiligtum des Herrn / Priester und Propheten?
21 Am Boden liegen in den Gassen / Kind und Greis. Die Mädchen und die jungen Männer / fielen unter dem Schwert. (2,19-21)

Der Prediger steht hinter dem Stuhl «Wir»:

Jeremia mutet uns viel zu. Aber er mutet uns auch nicht mehr zu, als wir fast täglich in der Zeitung lesen können. Ich erinnere an das Erbeben von Haiti. Die Klagen Jeremias ertönen in den Strassen von Port-au-Prince. Die Schwächsten traf es am schlimmsten.
Die Gegenwart mutet uns viel zu. Die Opfer der sexuellen Gewalt in der Kirche sind vor allem Kinder und Jugendliche.
Aber auch unsere jüngste Vergangenheit mutet uns viel zu. Millionen jüdischer Menschen wurden ermordet, von ihnen blieb oft nur Asche im Wind. Auschwitz wurde zum Symbolname für dieses Grauen. Auschwitz mutet uns noch anderes zu. Zunächst einmal mir als Deutschem. Denn die Täter stammen aus der Generation meiner Grosseltern und Urgrosseltern. Ich bin ein Nachkomme der Täter. Für die Schweizerinnen uns Schweizer unter Ihnen gilt das nicht in gleicher Weise. Aber auch Sie mussten in den letzten Jahren lernen, wie sehr die Schweiz verstrickt war in den nationalsozialistischen Massenmord. Auch Sie sind mehrheitlich keine Nachkommen der Opfer.

Wir alle leben nach Katastrophen. Wir sind Überlebende, Nachgeborene, Zeuginnen und Zeugen. Wie können wir leben angesichts der Katastrophen unserer Zeit und unserer Welt? Wie können wir uns erinnern und unsere Verantwortung als Zeuginnen und Zeugen wahrnehmen?

Für uns als Christinnen und Christen stellt sich die Frage noch schärfer:
Was bedeutet es, angesichts der Katastrophen zu glauben? Wie können wir angesichts ermordeter oder sexuell missbrauchter Kinder noch vom Reich Gottes und von Auferstehung reden, ohne dass es zynisch oder beschwichtigend oder vertröstend wirkt?

Ich werde in den beiden Karwochenpredigten versuchen, im Bewusstsein der Katastrophen unserer Geschichte von Gott zu reden. Ich werde das stammelnd und tastend tun, suchend.
Ich habe keine umfassende und eindeutige Antwort auf die gestellten Fragen. Ich bin davon überzeugt, dass umfassende und eindeutige Antworten falsche Antworten auf diese Fragen sind.

Musik: Orgelillustrationen von Ralph Stelzenmüller

Der Prediger steht hinter dem Stuhl «Markus»

Ich werde mich bei der Suche nach meinen persönlichen, von meiner Lebenserfahrung gedeckten, bruchstückhaften Antworten an der Bibel orientieren. An zwei Bibeltexten. Den Klageliedern Jeremias und dem Evangelium nach Markus. Zwischen diesen beiden Texten liegen Welten. Die Klagelieder beziehen sich auf ein Ereignis im 6. Jahrhundert vor Christus. Das Markusevangelium entsteht im 1. Jahrhundert nach Christus. Die Klagelieder stehen im Alten Testament. Das Markusevangelium steht im Neuen Testament. Und trotzdem sind die beiden Texte eng miteinander verbunden. Die Verbindung ist die Zerstörung der Stadt Jerusalem. Zur Zeit des Jeremia wurde Jerusalem wie gesagt von den Babyloniern erobert. Zur Zeit des Markus wiederholte sich das. Das römische Imperium führte Krieg gegen das aufständische Juda. Jerusalem wurde von der römischen Armee belagert. Es gab eine Hungersnot in der Stadt. Schliesslich wurde sie erobert und dem Erdboden gleichgemacht, der Tempel wurde ein zweites Mal zerstört, Tausende wurden erschlagen, von den Siegern zur Abschreckung gekreuzigt oder in die Sklaverei verkauft.
Markus schreibt in dieser Zeit sein Evangelium. Es beginnt so:
«Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. (Mk 1,1)
Evangelium heisst gute Nachricht. Markus schreibt die gute Nachricht von Jesus, der Christus heisst, das bedeutet der Messias, der Retter, der Gott nahe steht wie ein Sohn und der das Friedensreich Gottes verkündet. Ist das nicht zynisch angesichts der Realitäten in Jerusalem?
Was soll die Rede vom Reich Gottes, das angebrochen ist, wenn in Wirklichkeit das Leben in der Sklaverei begonnen hat?
Was soll die Rede von einem geliebten Sohn Gottes, wenn die eigenen Söhne und Töchter auf den Strassen Jerusalems verhungert sind?

Die Fragen, die sich zur Zeit des Markusevangeliums stellen, sind Fragen aller Zeiten. Auch unserer.

Der Prediger steht hinter Stuhl «Jeremia»:

Zur Zeit des Jeremia, nach der ersten Zerstörung Jerusalems, haben sich ähnliche Fragen gestellt. Der Tempel war zerstört worden, der Ort, den Gott selbst sich als Wohnsitz erwählt hatte; der Ort, an dem Gott in mitten des Volkes gegenwärtig war;
Das Land, das schon Abraham und Sara verheissen war, war verloren. Die Oberschicht Jerusalems war deportiert, sass an den Flüssen Babylons und weinte um all das Verlorene.

Die Klagelieder versuchen an das Geschehen zu erinnern und davon Zeugnis abzulegen. Wie tun sie das?

Im zweiten Klagelied wird in einem Vers eine Art Programm dafür entworfen. Eine Stimme antwortet auf den Klageschrei Jerusalems, den wir vorhin gehört haben. Sie finden den Vers auf dem Textblatt In der Einheitsübersetzung lautet er:

2, 13 Wie soll ich dir zureden, was dir gleichsetzen, / du Tochter Jerusalem? Womit kann ich dich vergleichen, wie dich trösten, / Jungfrau, Tochter Zion? Dein Zusammenbruch ist gross wie das Meer, / wer kann dich heilen?

Was soll ich dir zureden?
Was soll ich dir gleichsetzen?
Womit kann ich dich vergleichen?

Die Übersetzung ist hier gegenüber dem hebräischen Urtext der Klagelieder sehr sensibel, denn sie gebraucht drei verschiedene Worte, zureden, gleichsetzen, vergleichen. Die Klagelieder entwickeln hier ein ganz differenziertes dreistufiges Programm, wie wir mit den Opfern von Katastrophen umgehen sollen, damit es tröstend und vielleicht sogar heilsam wirkt. Und doch wird auch die Einheitsübersetzung dem hebräischen Urtext nicht ganz gerecht.
Im Hebräischen steht hier:
Wie soll ich auf dich hören?
Wie soll ich dich begreifen, verstehen?
Womit soll ich dich vergleichen?
Danach erst ist die Rede von Trost oder gar Heilung.
Der Vers lautet also wörtlich:

Wie soll ich dein Leid hören, du Tochter Jerusalem, wie soll ich dich verstehen und wem soll ich dich vergleichen, du Jungfrau, Tochter Zion.

Die erste Stufe ist die des Hörens. Es braucht Zeit und Raum, wo es allein um die Wahrnehmen des Geschehenen geht, um eine Anerkennung des Schmerzes. Es braucht eine Zeit in der gehört wird, auch ohne zu verstehen.
Erst dann ist die Zeit gekommen für den Versuch des Verstehens. Für das Einfühlen, dafür das Geschehene in einen Kontext einzufügen und auf eine Vorgeschichte zu beziehen.
Und dann erst, dann erst ist die Zeit des Vergleichens gekommen – mit dem Vorbehalt, den ich bereits formuliert habe, dass das Vergleichen die Schmerzen nicht klein reden, nicht verharmlosen soll.
Erst nach diesen drei Schritten kann die Frage nach Trost und möglicher Heilung gestellt werden.

Die Klagelieder sind weitgehend Ausdruck der ersten Stufe, des Hörens auf den Schmerz. Sie legen für das Leid und für die Leidenden Zeugnis ab. Trauer und Klage brauchen Zeit und Raum, viel Zeit und Raum. Es braucht einen Raum, in den ich all meine Verzweiflung hineinschreien kann, ohne gleich schon darin einen Sinn finden zu können. Einen Raum, in dem ich auch ohne Rücksicht anklagen kann. Einen Raum, in dem ich alle meine Gefühle zeigen kann, ohne mir etwas zu verbieten. Die Klagelieder des Jeremia bieten einen solchen Raum. Hören wir uns das erste der 5 Klagelieder an:

Elke Kreiselmeyer liest vor. Textblatt liegt auf.

1 Weh, wie einsam sitzt da / die einst so volkreiche Stadt. Einer Witwe wurde gleich / die Grosse unter den Völkern. Die Fürstin über die Länder / ist zur Fron erniedrigt.
2 Sie weint und weint des Nachts, / Tränen auf ihren Wangen. Keinen hat sie als Tröster / von all ihren Geliebten. Untreu sind all ihre Freunde, / sie sind ihr zu Feinden geworden.
3 Gefangen ist Juda im Elend, / in harter Knechtschaft. Nun weilt sie unter den Völkern / und findet nicht Ruhe. All ihre Verfolger holten sie ein / mitten in der Bedrängnis.
4 Die Wege nach Zion trauern, / niemand pilgert zum Fest, / verödet sind all ihre Tore. Ihre Priester seufzen, / ihre Jungfrauen sind voll Gram, / sie selbst trägt Weh und Kummer.
5 Ihre Bedränger sind an der Macht, / ihre Feinde im Glück. Denn Trübsal hat der Herr ihr gesandt / wegen ihrer vielen Sünden. Ihre Kinder zogen fort, / gefangen, vor dem Bedränger.
6 Gewichen ist von der Tochter Zion / all ihre Pracht. Ihre Fürsten sind wie Hirsche geworden, / die keine Weide finden. Kraftlos zogen sie dahin / vor ihren Verfolgern.
7 Jerusalem denkt an die Tage / ihres Elends, ihrer Unrast, an all ihre Kostbarkeiten, / die sie einst besessen, als ihr Volk in Feindeshand fiel / und keiner ihr beistand. Die Feinde sahen sie an, / lachten über ihre Vernichtung.

Die ersten 7 Verse sind voller herzzerreisender Klage. Die Verzweiflung bekommt viel Raum. Verzweiflung ist oft sprachlos. Vielleicht leiht der Dichter dieser Verse den verzweifelten Menschen in Jerusalem seine Sprache, leiht ihnen seine Worte, um ihren unaussprechlichen Schmerz doch ausdrücken zu können. Das ist eine Funktion jeder Dichtung, auch der religiösen, auch der biblischen.

In Vers 5 drängt sich in die Klage ein Gedanke hinein, der das Geschehen zu deuten versucht. All das ist der Stadt geschehen «wegen ihrer vielen Sünden». Mir stockt hier der Atem. Da werden die Opfer auch noch verantwortlich gemacht für die Gewalt, die sie erlitten haben. Die Opfer sind selbst schuld an ihrem Unglück. Gott hat sie nur gerecht gestraft für ihre Sünden. Diese Deutung von Leid hat eine schreckliche Wirkungsgeschichte gehabt, nicht nur im Christentum. Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, mussten hören: Du bist ja selbst schuld, du hast es provoziert, du hast ihn provoziert. Auch im Christentum ist das immer wieder geschehen. Gerade bei der Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Menschen. Sie haben sich gegen Gott versündigt, sie haben den Sohn Gottes abgelehnt und gekreuzigt, wurde ihnen vorgeworfen, deswegen werden sie bestraft. So haben die Täter immer wieder jede Verantwortung abgegeben und jede Schuld von sich abgewälzt.
Diese Wirkungsgeschichte des biblischen Textes ist schrecklich. Sie ist ein Schatten, der über unserer Geschichte liegt. Deswegen hat dieser Stuhl hier auch einen Schatten. Beinahe jeder Bibeltext trägt einen solchen Schatten. Beinahe jeder ist zum Schaden von Menschen gebraucht, ich finde, missbraucht worden. Das darf nicht verschwiegen werden, das soll benannt werden.

Dass die Opfer aber einen Teil der Verantwortung bei sich suchen, wie es die Klagelieder Jeremias hier tun, das hat noch eine andere Seite. Es kann auch der Versuch sein, aus der reinen Opferrolle herauszukommen. Wer verantwortlich ist, mindestens mitverantwortlich, der hat auch Handlungsmöglichkeiten. Die ist nicht völlig passiv und ausgeliefert, sondern hat auch Ressourcen und kann mitgestalten, wie es in Zukunft weitergeht. Dieses Denken kann den Opfern so paradox das vielleicht klingen mag, wieder etwas von ihrer so arg beschädigten Würde als eigenständiges und verantwortungsvolles menschliches Wesen wiedergeben. Es ist eine Gratwanderung auf einem sehr schmalen Grat zwischen der Würde der Opfer und dem Abschieben der Verantwortung von den Tätern auf die Opfer.
Jeremia steht meiner Meinung nach klar und eindeutig auf der Seite der Opfer. Er gibt ihrer Stimme Raum. Deswegen verstehe ich die folgenden Verse als Versuch, den Opfern ein Stück ihrer Würde und Handlungsfähigkeit zurück zu geben. Hören Sie selbst, ob das gelingt. Was hören Sie deutlicher? Den Schatten, dass die Opfer selbst für das Geschehen verantwortlich gemacht werden oder die Würde, die ihnen zugesprochen wird? Fühlen Sie sich so gut es geht in die Opfer ein.

Elke Kreiselmeyer liest vor. Textblatt liegt auf.

8 Schwer gesündigt hatte Jerusalem, / deshalb ist sie zum Abscheu geworden. All ihre Verehrer verachten sie, / weil sie ihre Blösse gesehen. Sie selbst aber seufzt / und wendet sich ab (von ihnen).
9 Ihre Unreinheit klebt an ihrer Schleppe, / ihr Ende bedachte sie nicht. Entsetzlich ist sie gesunken, / keinen hat sie als Tröster. Sieh doch mein Elend, o Herr, / denn die Feinde prahlen.
10 Der Bedränger streckte die Hand aus / nach all ihren Schätzen. Zusehen musste sie, / wie Heiden in ihr Heiligtum drangen; ihnen hattest du doch verboten, / sich dir zu nahen in der Gemeinde.
11 All ihre Bewohner seufzen, / verlangen nach Brot. Sie geben ihre Schätze für Nahrung, / nur um am Leben zu bleiben. Herr, sieh doch und schau, / wie sehr ich verachtet bin.
12 Ihr alle, die ihr des Weges zieht, / schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, / den man mir angetan, mit dem der Herr mich geschlagen hat / am Tag seines glühenden Zornes.
13 Aus der Höhe sandte er Feuer, / in meine Glieder liess er es fallen. Er spannte ein Netz meinen Füssen, / rücklings riss er mich nieder. Er machte mich zunichte / und siech für alle Zeit.
14 Schwer ist das Joch meiner Sünden, / von seiner Hand aufgelegt. Sie stiegen mir über den Hals; / da brach meine Kraft. Preisgegeben hat mich der Herr, / ich kann mich nicht erheben…
20 Herr, sieh an, wie mir angst ist. / Es glüht mir in der Brust; mir dreht sich das Herz im Leibe, / weil ich so trotzig war. Draussen raubte die Kinder das Schwert, / drinnen raffte sie die Pest dahin.

Jeremia lässt hier die Opfer selbst zu Wort kommen. Er beginnt in der Ich-Form zu sprechen. «Sieh doch mein Elend». Jeremia steht auf der Seite der Opfer, auch wenn er von ihrer eigenen Mitverantwortung für das Geschehene spricht. Er will die Opfer nicht noch weiter verletzen, nicht noch mehr entwerten. Er will nicht Gott für die Abwertung von Menschen gebrauchen. Ein Zeichen dafür ist, dass die Klagelieder in diesem Teil anfangen, direkt mit Gott zu sprechen. Zunächst noch zaghaft, dann immer stärker und sich selbst bewusster, beginnt jetzt das Ich der Opfer zu einem Du zu sprechen:
«Sieh doch mein Elend, o Herr» in Vers 9, «Herr sieh doch und schau, wie sehr ich verachtet bin» in Vers 11 und dann in Vers 20: «Herr, sieh an, wie mir angst ist. Es glüht mir in der Brust; mir dreht sich das Herz im Leibe». Bei aller Selbstanklage wird hier doch auch Gott massiv konfrontiert mit dem Elend, das er angerichtet oder doch mindestens nicht verhindert hat.

Dreimal fordern die Opfer Gott auf, hinzusehen. Sieh doch!
Die Klagenden erinnern Gott damit an sich selbst, an Gottes Haltung den Opfern der Geschichte gegenüber. Als Gott sich dem Mose am brennenden Dornbusch offenbart und sich mit Namen, mit seinem Wesen vorstellt. Da sagt er:
«Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen
Und die laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört.
Ich kenne ihr Leid.» (Ex 3,7)
Mehrmals wird das im Buch Exodus wiederholt. Gott sieht und hört das Leid.
Die Klagelieder erinnern Gott daran. Sie erinnern ihn daran, dass er der Gott des Exodus ist, der Gott, der Menschen aus Unterdrückung und Leid befreit, der sie herausführt und nicht noch tiefer hineinstösst. Die Klagelieder konfrontieren Gott mit seiner eigenen Geschichte. Seiner Geschichte mit dem Volk Israel. Erweis dich als der Gott, der mit uns unterwegs ist seit damals. Bleib dir treu und bleib uns treu.
So gehen die Klagelieder in die zweite Phase über. Sie beziehen das schreckliche Geschehen auf eine Vorgeschichte. Auf die in der Bibel überlieferte Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott, der sich als ein Gott der Befreiung und Rettung gezeigt hat. Sie bringen diese Vorgeschichte nicht als Dogma, als felsenfeste Überzeugung ins Spiel, sondern als Klage. Und eröffnen damit zugleich eine erste Perspektive über das schreckliche Geschehen der jüngsten Gegenwart hinaus.

Das erste Klagelied des Jeremia geht danach noch zwei Verse weiter. Am Schluss eröffnet es auch noch Raum für unzensierte aggressive Gefühle.

Elke Kreiselmeyer liest vor. Textblatt liegt auf.

21 Hör, wie ich stöhne; / ich habe keinen Tröster. All meine Feinde hörten von meinem Unglück, / freuten sich, dass du es bewirkt hast. Bring deinen angekündigten Tag, / damit es ihnen ergeht wie mir; /
22 all ihre Bosheit komme vor dich. Tu dann an ihnen, / wie du an mir getan / wegen all meiner Sünden. Denn ich stöhne ohne Ende / und mein Herz ist krank.

Man kann diesen Text verurteilen als Aufruf zur Gewalt und zur Rache. Bibeltexte haben so gewirkt, sie wurden benutzt, um Gewalt zu rechtfertigen. Auch das gehört zu ihrem Schatten. Man kann diesen Teil des Textes aber auch so verstehen, dass er Gefühlen, die bei Opfern eben auch da sind, Raum gibt. Es ist notwendig, dass alle Gefühle, auch die aggressiven, auch die politisch unkorrekten, im Laufe der Trauer Raum bekommen.
Die Psychologin Verena Kast, die sich intensiv damit beschäftigt hat, wie Trauerprozesse verlaufen, unterscheidet dabei vier Phasen. Die zweite dieser Phasen nennt sie die Phase der aufbrechenden Emotionen. Darin werden durcheinander Trauer, Freude, Angst und Ruhelosigkeit, aber auch Wut und Zorn erlebt. Das Erleben und Zulassen aggressiver Gefühle in dieser Phase schützt die Trauernden davor, nicht in Depressionen zu versinken. Aggressive Gefühle dürfen sein, sie sind heilsam.

Musik: Orgelillustrationen von Ralph Stelzenmüller

Der Prediger steht hinter dem Stuhl «Markus»

Auch das Markusevangelium ist Zeugnis eines Trauerprozesse. Das wird vor allem am Ende des Evangeliums deutlich. Es erzählt am Ende von drei Frauen, die zum Grab des gekreuzigten Jesus gehen, um den Toten zu salben. Sie finden das Grab offen und begegnen einem jungen Mann in einem weissen Gewand und erschrecken heftig.

«Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern, vor allem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat. Da verliessen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.»

Die Bibelwissenschaft ist sich einig, dass das Markusevangelium ursprünglich so geendet hat. Mit Entsetzen und Verstummen am leeren Grab. Etliche Jahrzehnte später erst wurde ein neuer Schluss angefügt, der die Erzählungen von der Begegnung mit dem Auferstandenen aus den anderen Evangelien zusammenfasst. Der ursprüngliche Markusschluss besteht aus merkwürdigen und irritierenden Worten: «Da verliessen sie das Grab und flohen. Denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich» (Mk 16,8). Sie, das sind drei Frauen, Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus und Salome, die Jesus schon in Galiläa nachgefolgt waren und die jetzt mit wohlriechenden Ölen zum Grab kommen, um den toten Jesus zu salben. Die männlichen Jünger sind zu diesem Zeitpunkt schon lange aus der Erzählung verschwunden. Der Letzte, von dem erzählt wird, ist Petrus, der Jesus verleugnet. Davon ist 2 Kapitel früher die Rede. Das passt zum Bild der Jünger im gesamten Markusevangelium. Die Männer, die Jesus nahe stehen, verstehen ihn nicht, sie finden keine Sprache für das, was sie umtreibt, sie folgen ihm nicht nach.
Den Frauen dagegen, die Jesus bis zum Kreuz und zum Grab begleiten, fährt am Ende der Schrecken in die Glieder und sie verstummen. «Die wichtigsten Personen im Markusevangelium sind entweder verwirrt oder verstehen nicht, wer Jesus ist und die Bedeutung dessen, was geschieht. Und alle sind sie mit Sprachlosigkeit geschlagen.»
Die Erfahrung der Jüngerinnen und Jünger im Markusevangelium ist vermutlich all denen vertraut, die schon einmal einen geliebten Menschen verloren haben. «Es fühlt sich an, als seien nicht nur der Verstorbene, sondern auch die Zurückgebleibenden hinabgestiegen in das Reich des Todes. Die einen lassen alles stehen und liegen und machen sich davon… Die anderen versuchen, irgendwie weiter zu funktionieren. ‹Das Leben muss schliesslich weitergehen›, sagt man, wenn man nach einem Todesfall die gewohnten Beschäftigungen wieder aufnimmt.» Dieses Verhalten wird bei Markus nicht kritisiert, sondern gewürdigt
Die Frauen im Markusevangelium, die mit Salbgefässen zum Grab gehen und es leer finden und die Jünger, die Jesus verlassen, als er zu scheitern droht, sie alle haben einen geliebten Menschen verloren. Sie haben etwas verloren, ihren Glauben an die Zukunft, an das Leben, an das, was sie bisher getragen hat. Sie sind Menschen in einer Krise.
Das Markusevangelium reagiert auf die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems. Deswegen wird die Auferstehungsbotschaft nicht weitererzählt. Denn die Katastrophe des Krieges bringt die christliche Auferstehungsbotschaft in die schwerstmögliche Krise. Eine Generation ist es her, dass der erste Osterruf erschollen ist: Jesus ist auferstanden! Aber eine Generation später ist keine allgemeine Auferstehung gekommen, kein universaler Anbruch des Gottesreiches, sondern zehntausendfaches Sterben und der Untergang Jerusalems. Müssen wir uns da nicht dem Verdacht stellen, dass die Botschaft des Evangeliums blosses Gerede war? Ist die Rede von Auferstehung und vom Gott des Lebens im Angesicht dieser Katastrophe nicht zynisch? Können wir überhaupt noch von Auferstehung reden? Oder haben wir von Auferstehung bisher eine völlig falsche Vorstellung gehabt?
Mit dem Blick auf Ostern kann in der Krise des Auferstehungsglauben, die das Markusevangelium bezeugt, eine Chance liegen. Denn Markus schreibt ja trotz allem eine Frohe Botschaft. Er kritisiert das vorschnelle Reden von Auferstehung. Aber für ihn ist die Auferstehungsbotschaft kein blosses Gerede. Aber wenn die Auferstehungsbotschaft kein Gerede war, dann muss sich die christliche Gemeinde des Markus und dann müssen wir uns mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass wir bisher vielleicht von ‹Auferstehung› eine falsche Vorstellung gehabt haben.

Die Jüngerinnen und Jünger im Markusevangelium verkörpern die Krise des Glaubens. Markus gibt dem Unverständnis und der Sprachlosigkeit der Jüngerinnen und Jünger in seinem Evangelium grossen Raum. Das Markusevangelium hört auf diese Krise, es bezeugt diese Krise, es gibt ihr Zeit und Raum.
«Er räumt der Verzweiflung ein nachvollziehbares Recht ein» Angesichts des furchtbaren Kriegstraumas sind Erstarrung, Verzweiflung und Sprachlosigkeit normal und verständlich. Und eine allzu schnelle tröstliche Antwort wäre wohl nur Vertröstung, sie würde kaum wirklich tragen. Vor den Trümmern und den Leichenbergen Jerusalems wäre eine triumphierende Auferstehungsbotschaft nur zynisch. Markus widersteht dem. Er hält das Erstarren und Verstummen seiner Hauptpersonen (und vieler seiner Leserinnen und Leser) aus. Es gibt ein Recht auf Verzweiflung für alle Trauernden.
Studien über Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden, haben deutlich gemacht, dass die Bearbeitung traumatischer Erfahrungen sehr viel Zeit braucht. Das haben auch die Fälle von sexueller Gewalt in der Kirche gezeigt, die jetzt aufgedeckt werden aber schon Jahre zurückliegen. Es braucht Zeit bis die Opfer in der Lage sind, mit ihren schrecklichen Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen.
Der Ausdruck im Markusevangelium «sie erzählten niemandem etwas davon» , gewinnt auf diesem Hintergrund neue Bedeutung. Niemand davon zu erzählen, ist eine Form, mit der sexuell missbrauchte Frauen und Männer sich schützen, mit der sie überleben. Das gilt es zu würdigen. Die Zeit, die es für die Bearbeitung von traumatischen Erfahrungen braucht, heisst theologisch Karsamstag. Das Markusevangelium gibt den Karsamstagserfahrungen von Menschen, die sich manchmal unerträglich in die Länge ziehen, ihre Zeit und ihren Raum.

Der Prediger steht hinter dem Stuhl «Wir»:

Die Fragen des Markusevangeliums und der Klagelieder sind unsere Fragen. Die Krise des Glaubens, den sie bezeugen, ist unsere Krise. Wie können wir angesichts von Katastrophen und traumatischen Erfahrungen vom Gott des Lebens reden?
Die Begegnung mit den Klageliedern und dem Markusevangelium hat gezeigt, dass diese Anfrage nicht nur auf der politischen Ebene spielt, nicht nur angesichts von Katastrophen wie der Zerstörung Jerusalems, des Erdbebens in Haiti oder Auschwitz.
Die Anfragen bedrängen uns gleichermassen bei traumatischen Erfahrungen auf der persönlichen Ebene. Als Opfer von Gewalt oder als Trauernde nach dem Verlust eines lieben Menschen.
Die Trauer braucht Zeit. Die Klage braucht Zeit. Das Verstummen hat sein Recht. Eine Abkürzung gibt es nicht. Gibt es aber Wege über das Verstummen hinaus?
Als Leitlinie aus der Auseinandersetzung mit den Klageliedern des Jeremia nehme ich mit, dass es Wege sein müssen, die das Leid nicht verharmlosen, Wege, die die Opfer nicht entwürdigen und Wege, die die Täter nicht entschuldigen.

Ich möchte morgen Schritte auf diesen Wegen versuchen.Ich danke Ihnen vielmals für ihre Aufmerksamkeit und lade sie herzlich zum morgigen Abend ein. Er steht unter dem Titel. Hören wir zum Abschluss noch einmal Musik.

Musik: Orgelillustrationen von Ralph Stelzenmüller