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Der Skandal des Kreuzes   

Winfried Bader zum Evangelium am Karfreitag: Johannes 18,1–19,42 SKZ 11/2010

Für die Juden sei es ein gotteslästerlicher Skandal, für die Heiden barer Unsinn, meint Paulus in seinem Brief an die Korinther (1 Kor 1,23). Er schreibt diese Worte über die Kreuzigung Jesu, den er als den gesalbten Herrn, den Christus, den Sohn Gottes verkünden will. Da aber das historisch Sicherste, was über Jesus auch von ausserbiblischen Quellen bezeugt wird, diese seine Kreuzigung ist, kann Paulus an der Tatsache nicht vorbei. Er muss sich 25 Jahre nach der Hinrichtung in seinem Glaubenszeugnis an die Menschen von Korinth damit theologisch auseinandersetzen.
Wir haben uns heute an das Kreuz gewöhnt. In jeder Kirche, an vielen Weggabelungen, in manchen Wohnungen unzählbar oft ist es zu sehen und wird von uns nach ästhetischen Kriterien beurteilt. Uns heute geht es umgekehrt wie Paulus: Die Sichtweise auf das Kreuz als Skandal und Unsinn ist uns fremd.

«…was in den Schriften geschrieben steht»
Johannes, der Evangelist, berichtet uns in vielen Details sehr getreu und kenntnisreich von der historischen Tatsache der Hinrichtung am Kreuz. 100 Jahre später hat sich für ihn die Spannung von Skandal und Unsinn etwas gelegt, und er bereitet bereits uns den Weg zu einer «sauberen» theologischen Verarbeitung: Christus wird am Kreuz erhöht, gewinnt hier seine königliche Hoheit.
In dieser theologischen Verarbeitung knüpft Johannes an Sprachspiele aus der jüdischen Bibel an. Für seine heidenchristlichen Adressaten konstruiert er innerhalb seines Evangeliums zur Zeichnung der Figur Jesu viele textliche Bezüge und Querverbindungen. Hierzu Beispiele:
«Nach diesen Worten ging Jesus mit seinen Jüngern hinaus, auf die andere Seite des Baches Kidron. Dort war ein Garten; in den ging er mit seinen Jüngern hinein» (Joh 18,1). Johannes ist der einzige Evangelist, der den Wadi Kidron, das Tal zwischen Stadt und Ölberg, benennt. Damit beweist er nicht nur seine Ortskenntnis, sondern vor allem seine Kenntnis der Schriften. Im zweiten Samuelbuch versucht Davids Sohn Abschalom den Putsch gegen seinen Vater. Er schart in Hebron Gefolgsleute und Krieger um sich und lässt sich zum König ausrufen. David flieht daraufhin mit seinen Anhängern aus Jerusalem. Bevor er den Kidron überschreitet, bleibt er «am letzten Haus stehen» (2 Sam 15,17) und liess das Volk vorbeiziehen: «Die ganze Erde weinte mit lauter Stimme, und alles Volk zog vorbei im Wadi Kidron. Und der König überschritt das Wadi Kidron, und alles Volk und der König zogen vorbei auf dem Weg zur Wüste» (2 Sam 15,23 LXX). In Jesus überschreitet also der wahre König David den Kidron, der wie sein Vorbild trotz des Verrats freiwillig als König seinen Weg geht.
Jesus erhält in der Verhandlung eine Ohrfeige (Joh 18,22). Mit dieser Anspielung führt uns Johannes zu den Gottesknechtsliedern des Jesaja. «Meinen Rücken gab ich den Geisselhieben hin, meine Wangen den Backenstreichen» (Jes 50,6 LXX). Die Verspottung durch die Soldaten mit Dornenkrone und Purpurmantel in Joh 19,1–3 verstärkt dies: Verachtet und misshandelt, das ist der Gottesknecht im vierten Gottesknechtslied bei Jes 53. Damit ist aber auch die Anspielung auf die Zukunftsperspektive vorhanden, die uns Jesaja gibt: «Aber der Herr hat Gefallen an ihm, … er erblickt das Licht» (Jes 53,10.11). Der Spottgruss der Soldaten an den «König der Juden» wirft in dieser Sicht den Hohn auf die Soldaten zurück.
«Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben» (Joh 19,7) ist die Entscheidung der Hohenpriester. «Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen (Lev 24,16) ist die gesetzliche Grundlage. Aber Todesurteile durften die unterdrückten Juden selbst nicht sprechen. Jesu Weg führt so zu den Heiden. Es kommt zur Überlieferung an die Römer und so zur Kreuzigung, die römische Hinrichtungsart für Aufrührer.
«So sollte sich das Wort Jesu erfüllen, mit dem er angedeutet hatte, auf welche Weise er sterben würde» (Joh 18,32). Dies weist zurück auf frühere Jesusworte: «Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden» (Joh 3,14). «Da sagte Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass Ich es bin» (Joh 8,28). «Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen» (Joh 12,32). Johannes konstruiert so den Zusammenhang seines ganzen Werks. Das Kreuz ist die Erhöhung des Königs. Es soll die «Heiden» überzeugen, dass er nicht barer Unsinn ist, sondern dass eine innere Logik besteht.
In der Schilderung der eigentlichen Kreuzigung, der jüdische Skandal für einen Messias, versucht Johannes nun massiv auf die alten Schriften zurückzugreifen. Gleich viermal heisst es: «Damit sich die Schrift erfüllte.» Kleine Details werden an die alten Schriften zurückgebunden. Die Psalmzitate deuten das Geschehen als das Leiden eines unschuldig Verfolgten. «Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand» (Joh 19,24; Ps 22,19). «Die Zunge klebt mir am Gaumen» (Joh 19,28; Ps 22,16). «Für den Durst reichten sie mir Essig» (Joh 19,29; Ps 69,22). Und der «Ysopzweig», der in seiner botanischen Erscheinung als büschelartiges, knapp einen halben Meter hohes Gewächs für den beschriebenen Vorgang ungeeignet ist, enthält die Deutung: «Entsündige mich mit Ysop, dann werde ich rein» (Joh 19,29; Ps 51,9). Genau darum geht es im Sterben Jesus, um das Reinwaschen der Sünden.
Jesus, dessen Tod zeitgleich geschieht mit dem Schlachten der Paschalämmer, ist selbst ein Paschalamm: «Ihr sollt keinen Knochen des Paschalammes zerbrechen» (Joh 19,33.36; Ex 12,46).
Mit dem «Aufschauen zu dem, den sie durchbohrt haben» (Joh 19,37; Sach 12,20) zitiert Johannes einen endzeitlichen Text, der das Geschehen deutet: «An jenem Tag wird das Haus David an ihrer Spitze wie Gott» (Sach 12,8). Der König ist wie Gott, meint Sacharja. Johannes überträgt dies auf seinen König am Kreuz. Weiter spricht Sacharja: «An jenem Tag wird für das Haus David und für die Einwohner Jerusalems eine Quelle fliessen zur Reinigung von Sünde und Unreinheit» (Sach 13,1). Damit sind Blut und Wasser aus der Seite Jesu gedeutet.

Mit Johannes im Gespräch
Johannes versucht den Skandal für die Juden durch den Rückgriff auf die Schriften erklärend zu mindern, und den baren Unsinn für die Heiden durch den Gesamtaufbau seines Werks in Verständnis ändern.
Wir kommen für uns dann zu einem tieferen Verständnis, wenn wir durch das Kreuz uns wieder wachrütteln lassen. Das Kreuz zeigt uns den Skandal, der bis heute besteht, wenn unschuldige Menschen misshandelt, gefoltert und getötet werden. Es zeigt uns Jesus in seinem körperlichen Mit-leiden mit der leidenden Welt. Wenn uns das Bild des Königs heute nicht mehr unmittelbar anspricht, so hallt aber die offene Frage des Pilatus bis heute noch laut nach: Was ist Wahrheit? Worauf es damals und heute nur eine Antwort gibt: Das ist der Mensch – Ecce homo!

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Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet nun als Pastoralassistent in Sursee.