Wir beraten

Wem gehört dieses Kind?   

Winfried Bader zur Lesung an Weihnachten, Heilige Nacht SKZ 50/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 9,1–6
Evangelium: Lk 2,1–14 (Anm.1)

Menschen sind keine Nestflüchter. Ein Neugeborenes überlebt nur durch die Fürsorge anderer. Das ermöglicht dem Kind, von diesen Bezugspersonen in den ersten Jahren die entscheidende Prägung für sein Menschsein zu bekommen. Wem gehören also die Kinder, von denen die Lesungstexte heute erzählen?

Mit Israel lesen

Jüdische Schriftauslegung ist strikt textimmanent, das heisst kanonisch, und erklärt Texte durch Verweis auf andere, teilweise sehr entlegene Texte. Mit dieser Methode sollen heute hier die beiden Lesungstexte, zwischen denen wahrscheinlich auch eine literarische Abhängigkeit besteht, erklärt werden.

Beide Texte nennen ein Volk, bei Jesaja sehr distanziert und nicht weiter beschrieben, bei Lk 2,1 sind es die zu zählenden Bewohner, als Folie für die Erzählung, und dann aber fast im Mittelpunkt des Geschehens, das Volk, dem eine Freude zuteil wird, in der Rede des Engels (Lk 2,10), der sich dem Hirtenvolk in der Dunkelheit als grosses Licht zeigt (Lk 2,9).

Das Licht nennt auch Jesaja. Die grosse Freude kommt bei ihm von einem Du. Zunächst noch unbestimmt, wer dieses Du ist – erst später erkennt man, dass es ein Herrscher über Schöpfung und Geschichte ist (Jes 9,2.3) –, wird es als Beziehungswesen charakterisiert. Man freut sich in seiner Nähe. Diese Beziehung betriff t ein Wir, denn das Tragholz nimmt das Du von «unserer Schulter» (Jes 2,3).

Der verheissungsvolle Schlusspunkt bei Lk 2,14 ist «der Friede auf Erden». Die lokalen Lesetraditionen vieler Pfarrgemeinden, ausgerechnet den Vers Jes 2,4, der in einem eindrücklichen Bild den Beginn des Friedens malt, bei der Lesung auszulassen, ist unverständlich. – Stört da das Blut in diesem Bild ausgerechnet in der liturgischen Nacht, wo es um eine menschliche Geburt geht? – Der Stiefel des Kriegers und sein blutiger Mantel sind verbrannt, ohne diese Ausrüstung zum Kriegführen herrscht Frieden.

In diesen Frieden hinein verkündet Jesaja die Botschaft, die ein weiterer Grund (die Freude aus Jes 9,2 wird mit dreimaligem «denn» jeweils am Beginn von Vv 3.4.5 begründet) der Freude ist: «Ein Kind ist uns geboren!» Es geht wieder um eine Beziehung, nicht mehr Volk und Gott, sondern Kind und Wir – oder ist beides das Gleiche?
Ein sprachliches Detail führt zu interessanten Interpretationsüberlegungen.

«Ein Kind wurde geboren für uns!» ist eine formelhafte Wendung, die man häufig in der Hebräischen Bibel findet: «Das Kind X wird geboren für Y». Das Kind kann namentlich genannt sein (Gen 4,18) oder es wird als Sohn (Gen 4,26) oder Tochter (Gen 34,1) bezeichnet. Steht das Verb im Aktiv, dann ist die gebärende Mutter das Subjekt (Gen 21,9). Mit «für Y» wird ausgedrückt, wem das Kind gehört. In den allermeisten Fällen ist es die Angabe des Vaters (Gen 10,21), selten die Grossmutter (Rut 4,17) oder die ganze Sippe (1 Kön 13,2). Nimmt man den sprachlichen Befund Ernst, heisst das «für uns», die Wir im Text sind die Väter oder Grossmütter dieses Kind. Das bestätigt der nächste Satz, wo das Kind explizit als Sohn bezeichnet wird: «Ein Sohn ist gegeben für uns» (Jes 9,5). Der unbekannte Vater wird also durch Wir ersetzt. Das Kind ist nicht nur von aussen geschenkt, sondern es kommt aus dem Wir hervor. Die ganze Fürsorge und Pflege, die jedes Kind nötig hat, wird dem Wir in der Funktion des Vaters übertragen. Wenn diesem Kind die Herrschaft auferlegt wird, dann kann es diese nur mit Hilfe des Vaters tragen. Die Einseitigkeit, dass dieses Kind in seinem Reich Recht und Gerechtigkeit herstellt und wir geniessen dürfen, wird aufgebrochen. Als Väter, Grossmütter und Verwandte des Kindes sind wir Verantwortlich, es zu Recht und Gerechtigkeit zu erziehen.

Mit diesem geschärften Blick fällt im Lukasevangelium auf, dass bei der eigentlichen Geburt (Lk 2,6–7) kein Vater genannt wird, dem dieses Kind gehört. Das wird aber sofort durch den Engel nachgeholt: «Heute ist für euch der Retter geboren» (Lk 2,11). Die Väter sind nun genannt: Es sind die Hirten auf freiem Feld, die Randständigen der Gesellschaft, die mit viel Vertrauen auf die Natur Tag für Tag von der Hand in den Mund leben. Ihnen wird die Vaterfunktion für das Kind übertragen.

Die Namensgebung erfolgt in diesen formelhaften Geburtsnotizen, falls der Name nicht gleich genannt wird, meist unmittelbar danach durch die gebärende Frau selbst (Gen 38,4), oder durch den Vater (2 Sam 12,24). Mit dem Namen ist das Kind eindeutig bezeichnet. Mit dem Namen kann es angesprochen und bei anderen eindeutig identifiziert werden. Den formelhaften Wendungen folgend, würde man bei Lk 2,7 erwarten: «Sie gebar ihren Sohn – und gab ihm dem Namen Jesus.» Der zweite Teil steht aber nicht da, weil bereits in der Engelsankündigung der Name genannt war (Lk 1,31) und nachher bei Simeon im Tempel feierlich die Namensgebung erfolgt (Lk 2,12). Stattdessen steht: «... und wickelte ihn in Windeln». Es wird dem Kind zur Identifizierung kein Name verliehen, sondern in gleicher Formulierung die Tatsache geschildert, dass es wie jedes Menschenkind in Windeln gewickelt ist. Das ist sein Name und Vorbild ist auch hier Jes 9,5, wo dem Kind auch kein Name im eigentlichen Sinn, sondern besondere Eigenschaften und Merkmale als Name zugesprochen werden. Der Engel bei Lukas greift das auf, um den Hirten das Kind eindeutig zu bezeichnen. Statt eines Namens bezeichnet der Engel das Kind, als «in Windeln gewickelt» (Lk 2,12). Was sagt das über das Kind aus?

Zurück zu Jesaja, wo das Kind etwas später explizit einen Namen erhält, die wir von der grossartigen Chorfuge aus Händels Messias im Ohr haben, durch diese freudig triumphierende Musik zwar die Botschaft schon richtig verstanden haben, die Variationsmöglichkeiten des hebräischen Textes aber übersehen. Welchen Namen trägt das Kind? Ist es wirklich ein Gott? Einige Ausleger meinen: Nein. Der Name des Kindes ist nur «Friedefürst» und wird ihm verliehen von einem Gott Namens «Wundervoller Ratgeber Gott und Ewiger Vater».

Andere Auslegungen sehen drei bis acht Namen für das Kind – das Hebräische lässt off en, wie aus den acht Wörtern «Wunder, Ratgeber, Gott, Held, Vater, Ewiger, Fürst, Frieden» Wortgruppen zu bilden sind. Jüdische Ausleger, die – in Abgrenzung zur christlichmessianischen Deutung der Stelle – von einem schon geborenen Kind ausgehen (die Verbform heisst: wurde geboren), sehen in der Fülle der Namen Amtsbezeichnungen, die dem erwachsenen Kind bei seiner Thornbesteigung verliehen werden, auf den Thron in einem Reich des Rechtes und der Gerechtigkeit.

Mit der Kirche lesen

Die Interpretation der Jesajaverkündigung und der Lukaserzählung ist mit den obigen Andeutungen noch lange nicht ausgeschöpft. Gezeigt wurde, wie ein genaues Lesen der Texte den Blick für den jeweils anderen schärfen kann. Es macht deutlich, was Lukas in seiner Komposition mit den vielen Anspielungen und Zitate, aus den reichen Texten seiner hebräischen Bibel mitteilen will.

1 Der Text Jes 9,1–6 wurde in SKZ 175 (2006), Nr. 50, 835, von Rita Bahn mit dem Titel «In der Mitte der Nacht liegt der Anfang des neuen Tags» ausgelegt. Darauf sei verwiesen. Die Auslegung hier wird andere Aspekte des Textes hervorheben.