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Heimat Diaspora   

Peter Zürn zum Bibelsonntag 2008, SKZ 45/2008

Das jüdische Museum in Hohenems, im Vorarlberger Rheintal an der Grenze zur Schweiz gelegen, erinnert an die jüdische Gemeinde Hohenems und deren vielfältige Beiträge zur Entwicklung Vorarlbergs und der umliegenden Regionen. Und es beschäftigt sich mit jüdischer Gegenwart in Europa, mit Diaspora und Migration. Aus der Erinnerung an die Geschichte heraus stellt es produktive Fragen an die Gegenwart. Der Titel des gerade neu erschienenen Museumskatalogs verbindet das Anliegen des Museums mit dem diesjährigen Bibelsonntag: «Heimat Diaspora». Im Zentrum des Bibelsonntags 2008 steht der Brief des Propheten Jeremia an die aus Jerusalem und Juda nach Babylon Verschleppten (Jer 29,4–14). Mit dem babylonischen Exil begann für das Judentum das Leben in der Zerstreuung. Jeremia ruft die Verschleppten dazu auf, die Diaspora zu ihrer Heimat zu machen: «Baut Häuser und siedelt und pflanzt Gärten und esst ihre Frucht». Er ruft die Menschen in der Diaspora auf, sich für das Wohl ihrer fremden Heimat zu engagieren. «Sucht das Wohl der Stadt … und betet für sie zu mir; denn in ihrem Wohl wird euer Wohl liegen.»

Einspruch gegen die Festung Europa

Das jüdische Museum Hohenems folgt dem Aufruf Jeremias. Isolde Charim schreibt: «Das Museum Hohenems versteht sich ausdrücklich nicht als Holocaust-Mahnmal. Ja mehr noch: Sein Ziel verbietet solches geradezu. Hier meldet sich ein selbstbewusstes europäisches Judentum zurück … Der Holocaust erscheint hier deshalb als Zäsur: Es gibt ein Zuvor, aber auch ein Danach. … Nicht als Fortschreibung, nicht als Weitererzählung – die Geschichte der Hohenemser Juden endet mit ihrer Vernichtung –, sondern als ein Leben, das von diesem Bruch ausgeht. In einem doppelten Sinn: Es muss bei der Shoah ansetzen, aber es muss von dort aus auch weitergehen.»1 Was weitergeht, ist die Entwicklung einer neuen jüdischen Identität, eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins, das dem Wohl Europas dient. Womit? Mit einem Einspruch und einer Provokation: Isolde Charim: «Die Behauptung einer Differenz, die Präsentation einer nicht-vollen, nichtidentischen Identität bildet heute in der «Festung Europa» einen tatsächlichen Einspruch. Klagte man früher den Ausschluss der Juden an und forderte deren Inklusion, so lautet die politische Behauptung heute: Judentum ist das Nicht-Integrierbare der Integrierten. Das gilt es zu respektieren.» 2 Jüdisches Leben ist im heutigen Europa beheimatet. Eine Heimat in der Diaspora ist aber keine bruchlose Heimat. Sie fragt Europa an, erinnert, bricht auf, wo es zur Festung wird, sich verabsolutiert, sich abschliesst und ausschliesst. A Ein solcher Einspruch gegen das Festungsdenken dient dem Wohl Europas. Er will verhindern, dass aus der wohnlichen Stadt mit ihren Häusern und Gärten eine kalte, trutzige und lebensfeindliche Festung wird. Das Lebensmodell der Festung ist eine Täuschung, ist irreal und lebensfeindlich.

Lasst euch nicht täuschen!

heisst es auch im Zentrum des Briefes Jeremias an die Verschleppten. Worüber können sie sich täuschen? Der Brief entsteht in Zeiten einer tiefen Krise mit katastrophalen Folgen. Er wendet sich an Menschen, die zu den Verlierern dieser Krise gehören und fast alles verloren haben. Jeremia provoziert in dieser Krise. Er deutet die Katastrophe als Willen Gottes. Er ruft die Menschen im Exil dazu auf, sich für das Wohl des Staates einzusetzen, dessen Opfer sie geworden sind. «Sucht das Wohl der Stadt, in die ich euch verschleppen liess.» Und: «Lasst euch nicht täuschen von euren Propheten, die unter euch sind, und von euren Wahrsagern. Hört nicht auf ihre Träume, die ihr sie träumen lasst.» Offensichtlich gab es verschiedene Deutungen der Krise, widersprüchliche Meinungen über ihre Ursachen und unterschiedliche Optionen für die Zukunft. Offensichtlich widersprachen sich die damaligen Experten, wie sie es in allen Krisen tun. Jeremias Stimme wurde im Volk Israel besonders bewahrt. Sie hat sich offenbar bewährt, um aus der Krise heraus neue Wege ins Leben zu finden. Ihre Perspektive liegt im Wohl der Stadt und der Menschen darin. Diese Perspektive ist gerade in der gegenwärtigen ökonomischen Krise ein wichtiger Einspruch und eine Provokation, der es gilt, Gehör zu verschaff en. Jeremia lesen in der (Finanz-)Krise – allein das könnte ein lohnenswertes Unternehmen für den Bibelsonntag 2008 sein.

Lohnende Unternehmen für den Bibelsonntag

Das Schweizerische Katholische Bibelwerk und die Schweizerische Bibelgesellschaft schlagen als Termin für den Bibelsonntag 2008 den 16. November vor. Sie haben wie jedes Jahr Ökumenische Unterlagen dazu herausgegeben und skizzieren darin weitere lohnenswerte Unternehmen für diesen Tag: – Krisen als Chance zu begreifen und gestalten angesichts der Krise (volks-) kirchlicher Strukturen. «Könnte es nicht sein, dass der Gott des Lebens uns gerade dadurch «Zukunft und Hoffnung» (Jer 29,11) geben will, dass er uns «aus dem Nest wirft» und das, was bisher immer gegolten hat, radikal in Frage stellt?» 3 – Auseinandersetzung mit der jüdischen Bibelauslegung: Die Unterlagen bieten eine Auslegung des Jeremia- Textes durch die Rabbinerin Bea Wyler, die ihn in Verbindung bringt mit dem Text, der eine Woche vor dem Bibelsonntag als Wochenabschnitt in den Synagogen gelesen wird: Genesis 12,1–17,27, in jüdischer Tradition nach den Anfangsworten bezeichnet als «Lech lecha» – die Aufforderung Gottes an Abraham, auszuziehen aus dem Gewohnten und neue Wege zu gehen. Lech lecha, geh für dich, zu deinem Wohl, um zum Segen für die Völker zu werden. Unsere Auslegungen zu den Lesungstexten im Lesejahr hier in der SKZ haben uns erschlossen, wie fruchtbar die Auseinandersetzung mit der jüdischen Bibelauslegung für unseren eigenen Zugang zur Bibel ist. Sie ist uns Provokation und Einspruch gegen allzu vertraute Leseweisen. Es dient dem Wohl unserer christlichen Stadt, wenn wir ihr Raum geben, um Häuser zu bauen und Gärten zu pflanzen und gemeinsam von den Früchten zu essen (bzw. um gemeinsame Söhne und Töchter zu zeugen und zu gebären, wie es der Brief des Jeremia vorschreibt). – Selbstverständlich bietet sich auch ein Tagesausflug ins jüdische Museum nach Hohenems an. Die Öffnungszeiten sind: Dienstag bis Sonntag, 10–17 Uhr.

Unterlagen zum Bibelsonntag

Die Ökumenischen Unterlagen zum Bibelsonntag enthalten ausserdem exegetische Beobachtungen zu Jer 29, einen Predigtentwurf und liturgische Elemente, die modellhafte Beschreibung einer Exerzitienwoche mit dem Jeremiabrief und eine Bibelarbeit mit dem bewährten Dreischritt «Auf den Text zugehen», «Auf den Text hören» und «Mit dem Text weitergehen». Sie wurden im Juni an alle Pfarreien versandt. Weitere Exemplare können bei der BPA bestellt werden bzw. sind erstmals auch auf www.bibelwerk.ch als Pdf-Datei erhältlich. Die Vorstellung von der «Heimat Diaspora» ist uns Christinnen und Christen nicht neu. Bereits im Hebräerbrief heisst es: «Wir haben hier keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern wir suchen die künftige» (Hebr 13,14). Die Erfahrung einer nichtvollen, nicht-identischen Identität ist eine unserer Ressourcen. Die Welt braucht zu ihrem Wohl das Nichtintegrierbare der Integrierten, um nicht zur lebensfeindlichen Festung zu werden. Auch für die Gottesfrage ist das Unbehaustsein eine produktive Kraft: Ist Gott nur da, wo ich mich zuhause fühle? Oder ist auch Gottes Heimat die Diaspora?

1 Isolde Dharim: Diaspora. Hohenems und die Rückkehr eines jüdischen Selbstbewusstseins, in: Heimat Diaspora. Das Jüdische Museum Hohenems. Herausgegeben für das Jüdische Museum Hohen ems von Hanno Loewy. Hohenems 2008, 326–327. Die zwei Fotos sind diesem eindrücklichen Band entnommen (S. 205 und 220).
2 Ebd. 327.
3 Lasst euch nicht täuschen! Ökumenische Unterlagen zum Bibelsonntag 2008, 3.