Wir beraten

2. Vortrag: Kain und Abel und das letzte Abendmahl – der brennende Dornbusch und Pfingsten   

Die Bilder der Seitenaltäre in der Stadtkirche Baden

Ich begrüsse Sie zum zweiten Vortrag über die Bilder der Seitenaltäre in der Stadtkirche Baden. Auch heute will ich wieder dem Gespräch nachgehen, das diese Bilder mit den biblischen Texten führen, auf die sich beziehen und dem Gespräch, das die biblischen Texte untereinander führen. Ich erweitere den Gesprächsrahmen noch und nehme verschiedene Auslegungen der biblischen Texte mit ins Gespräch hinein, in erster Linie die jüdische Bibelauslegung, die uns ja am nächsten steht. Das christlich-jüdische Gespräch ist ein Gespräch unter Geschwistern und deswegen – alle die Geschwister haben, werden es wohl verstehen – eines der schwierigsten Gespräche, die es gibt. Unter Geschwistern gibt es die schmerzhaftesten Verletzungen. Das zeigt die Geschichte leider sehr deutlich. Deswegen stelle ich heute auch ein Bild und einen Bibeltext ins Zentrum meiner Ausführungen, bei dem es um die Beziehung zwischen Geschwistern geht, die Geschichte von Kain und Abel. Auf die anderen Bilder und Texte werden wir erst am Schluss und nur kurz zu sprechen kommen.

Ich lade Sie wieder in den Raum des Wortes Gottes ein mit den Worten des Rabbis:
Das Wort Gottes ist ein Raum. Und wir sind eingeladen, hineinzugehen, zu tasten, wahrzunehmen mit allen Fasern unseres Lebens, was das Wort uns hier und heute sagen will.

Beim letzten Mal haben wir in diesem Raum ein Grundwort und seine Entfaltungen vernommen. Auch heute gibt es ein Leitwort durch die Bilder, besser eine Leitfrage. Sie lautet: Wie sieht ein erwachsener Glaube aus?

Musik

Auf dem Weg durch den Raum des Wortes Gottes gibt es Wegweiser. Auf den Bildern sind es oft Fingerzeige. Dies Mal ist es Jesus, der uns beim Abendmahl einen Fingerzeig nach oben gibt. Folgen wir ihm. Er weist auf die Geschichte von Kain und Abel aus dem 4. Kapitel des Buches Genesis.

Wir kennen die Geschichte wohl alle und trotzdem oder gerade deswegen ist es sinnvoll einen genauen Blick auf den Text zu werfen.
Das Bild stellt ins Zentrum wie Abel Gott opfert und der Rauch seines Opfers, er opfert ein Lamm aus seiner Herde, gerade nach oben in den Himmel aufsteigt. Auf den ersten Blick scheint das nicht durch den Text gedeckt zu sein, denn der handelt in erster Linie von Kain und Gott.
Die eigentliche Erzählung umfasst 17 Verse. In 15 davon kommt Kain vor. Abel kommt nur in 5 Versen vor. 9 Verse, also mehr als die Hälfte des Textes, besteht aus dem Gespräch zwischen Kain und Gott.
Der uns so vertraute Titel der Geschichte – Kain und Abel – trifft also nicht, worum es eigentlich geht. Die Geschichte sollte besser heissen: Kain und Gott. Auf dem Bild müsste also Kain aus dem Hintergrund in den Vordergrund treten.
Im Text ist Kain der Handelnde, der Mächtige und Starke. Abel entspricht voll und ganz seinem Namen, denn Habel bedeutet im hebräischen Hauch. Im dem bekannten Vers aus dem Buch Kohelet wird dieses Wort verwendet:
«Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, das ist alles Windhauch.» (Koh 1,2)
Abel ist nur ein Hauch von einem Menschen. Zart, flüchtig, zerbrechlich, ohne Einfluss und Kraft, stärkeren Mächten ausgeliefert.
Kain ist der ältere, der stärkere Bruder Abels. Der Bibeltext richtet sich an die Menschen, die eine starke Position in der Gesellschaft haben, Macht und Einfluss.
Die Bibel richtet sich oft an die älteren Geschwister, an die Menschen mit Macht und erinnert sie an ihre besondere Verantwortung, den Schwächeren gegenüber.
Damit werden sie aufgefordert, Gott selbst nachzuahmen. Denn Gott achtet besonders auf die Abels, auf die schwachen und zerbrechlichen Menschen. Gott sagt den Mächtigen: Schau besonders auf die Schwachen. So habe ich es gemacht, als ich besonders auf Abel und sein Opfer schaute.
In der Anwaltschaft für die Schwachen, für die Opfer der Geschichte, kommt die Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck. Das haben wir letzte Woche bereits in der Geschichte von Noah gelesen.
Historisch gesehen entstand die Erzählung von Kain und Abel vielleicht in der Königszeit. Sie fordert die Könige und andere Mächtige zur gerechten Herrschaft auf.
Gerechtigkeit nach Gottes Sinn erweist sich darin, ob sie den Schwächsten der Gesellschaft gerecht wird. In der Geschichte von Kain und Abel wird also deutlich, was Gott unter Gerechtigkeit versteht. Auch das haben wir schon beim letzten Mal gesehen.

Im Zentrum des Textes werden zwei Fragen gestellt. Gott fragt Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Und Kain fragt zurück: Bin ich der Hüter meines Bruders? Nach der bisherigen Argumentation wäre zu erwarten, dass Gott hier klar sagt: Ja, du bist der Hüter deines Bruders. Du bist für ihn verantwortlich, gerade weil er der Schwächere ist. Diese Antwort gibt Gott aber gerade nicht. Vielleicht können wir aus diesem auffallenden Schweigen Gottes etwas herauslesen: Kann wirklich jemand der Hüter seines Bruders oder seiner Schwester sein? Wäre das nicht einerseits eine völlige Überforderung und andererseits eine Art Entmündigung?
Für die Beziehung von Eltern und minderjährigen Kindern stimmt es. Aber ab der Zeit, in der die Kinder mit Hilfe und Anleitung der Eltern autonome Persönlichkeiten geworden sind, stimmt es nicht mehr. Als Erwachsene sind wir «Hüter unserer selbst». Wir sind für uns selbst verantwortlich und diese Verantwortung kann uns niemand abnehmen. In der Beziehung zwischen dem erwachsenen Kain und dem erwachsenen Abel ist klar: Kain ist nicht der Hüter seines Bruders.
Interessanterweise hat sich die jüdische Bibelauslegung nicht sehr für die Frage Kains «bin ich der Hüter meines Bruders» interessiert. Sie hat etwas von der Gefahr der Überforderung und Entmündigung, die darin liegt, verstanden. In der christlichen Tradition sind wir dieser Gefahr oft erlegen, fürchte ich.

Die jüdische Tradition hat sich viel mehr für die Frage Gottes interessiert: Wo ist dein Bruder Abel? Das Wort «Ach» – Bruder, kommt 7x im Text vor. Es ist entscheidend wahrzunehmen, dass ich Brüder und Schwestern habe. Dass ich nicht alleine auf der Welt bin und sich die Welt nicht um mich alleine dreht. Dass da andere sind, mit denen ich ob ich will oder nicht, zusammen lebe. Und dass diese anderen anders sind als ich. Dass es Unterschiede zwischen uns gibt, auch Interessenkonflikte. Und dass wir diese real bestehenden Unterschiede und Interessenkonflikte regeln müssen. Dass wir Absprachen treffen und Grenzen setzen müssen, um uns in unserem Verhältnis zueinander vor unserem Gewaltpotential zu schützen. Als Einzelne, als Nationen, als Religionen. Mit der Setzung solcher realistischer Grenzen und Regeln endet ja auch die Sintflutgeschichte. So ist die Geschichte von Kain und Abel eine Geschichte, die uns darauf hinweist, wie lebensförderlich es ist, wenn wir die Unterschiede und Interessenkonflikte zwischen Menschen als Grundtatsache des Lebens akzeptieren lernen und realistisch nach Regeln des Ausgleichs von Interessen suchen, ohne einander umbringen zu müssen.

Das ist der Anfang eines gerechten Zusammenlebens. Auf dieser Grundlage ist dann noch mehr möglich. Es ist möglich, dass wir die Unterschiede nicht nur akzeptieren lernen, sondern anfangen in den Unterschieden eine kreative und fruchtbare Kraft zu sehen. Der wirklich fruchtbare Ort der Erkenntnis ist die Grenze, an der wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnen ohne unsere Grenzen zu verletzen. Eine Beziehung, die die Grenzen nicht verletzt, wird beiden Seiten gerecht. Sie erkennt die Würde des Gegenübers an und bewahrt sein Geheimnis. Die Frage Gottes: Wo ist dein Bruder Abel? Ruft danach sich dem Bruder bzw. der Schwester gegenüber zu stellen. Sie ist die Frage nach Beziehung unter Wahrung der Grenze. Für die jüdische Tradition ist die Achtsamkeit für den Anderen, der Respekt vor seinem Andersseins identisch mit Gottesdienst. Das drückt sich in einer ganz besonderen Form jüdischer Bibelauslegung aus: Im Hebräischen steht jeder Buchstabe gleichzeitig auch für eine Zahl. So kann für jeden Satz oder jedes Wort ein Zahlenwert ermittelt werden. Im Judentum gibt es die Überzeugung, dass Ausdrücke, die den gleichen Zahlenwert haben, eng miteinander verbunden sind. Die Frage « Wo ist dein Bruder Abel? Hat den Zahlenwert 87. Und die rabbinischen Gelehrten haben darauf hin gewiesen, dass das Wort avodah, Gottesdienst, genau den gleichen Zahlenwert hat. Achtsamkeit für die Geschwister ist Gottesdienst.

Die Geschichte von Kain und Abel löst oft Empörung aus: Warum schaut Gott nicht auf Kain und sein Opfer? Warum missachtet er ihn grundlos, stellt ihn wie auf dem Bild in die zweite Reihe? Warum ist Gott so ungerecht? Warum schenkt er nicht beiden die gleiche Aufmerksamkeit?
Genesis 4 gehört wie die Sintflutgeschichte zu den biblischen Urgeschichten. Die Urgeschichten gehen von grundlegenden menschlichen Erfahrungen aus.
Hier ist es die Grunderfahrung jedes Menschen: Wir alle wollen mit dem was uns wichtig ist, gesehen werden. Und wir alle bekommen weniger Aufmerksamkeit und Zuwendung als wir gerne hätten. Die Erfahrung Kains, dass Gott nicht auf sein Opfer schaut, ist unser aller Ur-Erfahrung. Und mehr noch: Wir erleben Tag für Tag, dass die Güter dieser Welt – Materielles, aber auch Schönheit oder Liebe – nicht gleich verteilt sind. Immer hat eine oder einer mehr und selten gibt es dafür einen erkennbaren Grund. Noch schmerzlicher: Auch das Unglück das uns tritt, eine Krankheit zum Beispiel, hat selten einen klaren Grund, der alle Fragen nach dem Warum unerheblich macht.
Diese Erfahrungen lösen heftige Gefühle aus. Der Bibeltext bringt sie klar zum Ausdruck: «Da überlief es Kain ganz heiss und sein Blick senkte sich» (Gen 4.5).
Grundlos benachteiligt zu werden, ist sehr schwer zu ertragen.

Als Mensch heranzuwachsen, erwachsen zu werden, macht es aber nötig, sich zu solchen Erfahrungen und zu den Gefühlen, die sie auslösen, zu verhalten. Nur wie?
Der Bibeltext weist uns einen Weg. Die Geschichte von Kain ist eine Aufforderung zu einem reifen, erwachsenen Umgang mit den Grundtatsachen des Lebens. Der Text gibt eine ganz konkrete und lebensfreundliche Anweisung.
«Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon.» sagt Gott zu Kain (4,7).
Es geht um Selbstwahrnehmung und Selbstvertrauen. Prüfe dich selbst und mach dich nicht von den Wertungen anderer abhängig.
Wer sich sicher ist, nicht willentlich Schaden angerichtet zu haben, kann Neues beginnen, auch wenn die erwartete «Belohnung» ausgeblieben ist. Gerade für den erwachsenen Gottesglauben ist eine solche Haltung zu empfehlen. Die muslische Mystikerin Rabia, die im 8. Jahrhundert in Basra, im heutigen Irak lebte, lief einmal durch die Strassen der Stadt und trug in den Händen eine brennende Fackel und einen Eimer voll mit Wasser. Als sie gefragt wurde, was sie da tue, sagte sie: Ich will mit dem Wasser die Flammen der Hölle löschen und mit der Fackel das Paradies anzünden, damit die Menschen aufhören Gott nur aus Angst vor Strafe in der Hölle oder wegen der Aussicht auf Belohnung im Paradies anzubeten.
Eine solche Gottesbeziehung wäre eine wahrhaft erwachsene Art zu glauben.

Die Geschichte von Kain geht aber bekanntlicherweise anders weiter. Kain erschlägt seinen Bruder. Und er übernimmt keine Verantwortung für sein Tun. Er weist die Verantwortung zurück in dem er sagt: «Bin ich der Hüter meines Bruders?
Mehr noch: der Täter macht sich zum Opfer. Er klagt über die Folgen seiner Tat:
«Du hast mich heute vom Ackerland verjagt und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und wer mich findet, wird mich erschlagen.» (Gen 4,14)
Dass die Täter sich zu Opfern machen ist bis heute bekannt, ist aber keine Lösung. Es ist der Versuch, sich ins Paradies der verantwortungslosen Kindheit zurückzuziehen. Ein Versuch, der nicht gelingt. Der Rückweg ins Paradies ist uns versperrt. Wir leben jenseits von Eden. Die Verheissung weist uns nach vorne, nicht zurück. Als Erwachsene leben und glauben bedeutet, dass Täter mit ihrer Tat leben und sie verantwortlich zu sich nehmen. Wie schwer das ist, davon handelt fast die gesamte Bibel. Denn eine Gewalttat hat Folgen, sie zerstört die Beziehung des Menschen zu den anderen, zur Natur, zu sich selbst, zu Gott. Das sieht Kain sehr genau.

Und trotzdem geht es weiter. Ein neuer Anfang ist möglich durch die Barmherzigkeit Gottes. Die Barmherzigkeit Gottes zeigt sich in dem Zeichen, das er Kain gibt. Das Kainsmal ist in der Geschichte oft missverstanden worden. Es ist keine Strafe, kein Zeichen der Aussonderung von Verbrechern. Es ist ein Zeichen des Lebens. Gott macht dem Kain ein Zeichen, dass er nicht erschlagen werden soll, Kain soll leben. Er soll geschützt sein vor tödlicher Rache. Gott unterbricht mit dem Kainszeichen die tödliche Spirale von Gewalt und Gegengewalt.
Die Bibelgeschichte geht weter, die Geschichte Gottes mit den Menschen ist nicht fertig, auch nicht, wenn Menschen zu Gewalttätern werden und auch nicht wenn sie ihre Verantwortung dafür nicht übernehmen.
Von den Folgen und Wirkungen der Tat wird nichts zurückgenommen. Kein Gott sagt: es war gar nicht so schlimm. Das Kainszeichen ist aber trotzdem ein Lebenszeichen. Es steht für das Leben mit und trotz Schuld. Wir können das, was wir getan haben, nicht mehr rückgängig machen, aber wir sollen damit leben können. Unser Verhalten bleibt nicht ohne Folgen. Kain trägt die Folgen seines Tuns. Aber die Erinnerung an die Schuld soll nicht das eigene Leben verhindern. Das mutet und traut Gott Kain und uns zu.
Gottes Anwaltschaft für die Opfer steht nicht dem Lebensrecht für die Täter gegenüber. Die Geschichte von Kain ist letztlich auch ein deutliches Votum gegen die Todesstrafe. Das Kainszeichen bedeutet: der Täter muss weiterleben können, seine Tat wird nicht vergessen, aber sie darf ihm nicht das weitere Leben verunmöglichen. Die Bibel erzählt, wie Kains Leben weitergeht, er liebt und zeugt Kinder, unter seinen Nachkommen sind sogar Musiker. Die Täter werden ihr Zeichen nicht los. Aber die Erinnerung an die Opfer darf den Tätern nicht das Leben und die Lebensfreude verunmöglichen. Zum Erinnern gehört auch das Vergeben und Neuanfangen.

Am Ende der Geschichte sieht also Gott durchaus auf Kain und tritt für ihn ein. Gilt das auch schon für den Anfang: Sieht Gott Kain und sein Opfer doch? Tritt Gott etwa für Kain ein, indem er nicht auf sein Opfer, sondern auf das Opfer Abels schaut?

Schauen wir nochmals auf das Bild hier über dem Altar: Wir haben ja schon an anderen Altarbildern gesehen, dass das, was sie in den Vordergrund rücken, durchaus von Bedeutung ist. Was ist, wenn das Bild zu Recht das Opfer Abels ins Zentrum stellt? Gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen den beiden Opfern?
Schauen wir den Text genau an: Bei Abel heisst es, er opfert von den Erstlingen seiner Herde und ihrem Fett. Bei Kain ist nichts dergleichen erwähnt. Dort heisst es unbestimmt, er opfert von den Früchten des Feldes.
Erstlinge und Fett – das verweist auf die Opferregeln der Bibel, wie sie vor allem in den Büchern Exodus, Leviticus und Numeri formuliert sind.
Da heisst es z.B. in Ex 13,2:
«Der Herr sprach zu Mose: Erkläre alle Erstgeburt als mir geheiligt! Alles, was bei den Israeliten den Mutterschoss durchbricht, bei Mensch und Vieh, gehört mir.»
Num 18,15 schränkt diese Regelung ein:
«Du musst aber den Erstgeborenen bei den Menschen auslösen».
Das Prinzip bleibt in Kraft: Alle Erstgeburt gehört Gott. Aber Menschenopfer sind in der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk unvorstellbar. Deswegen wird die menschliche Erstgeburt ausgelöst (durch die Zahlung eines Geldbetrages).
Abel. Der die Erstgeburt opfert, opfert also ohne sie zu kennen, schon nach diesen Weisungen der Tora, der fünf Bücher Mose.
Schaut Gott also auf Abels Opfer, weil er die Gesetze genau befolgt? Ist Gott an Menschen interessiert, die Vorschriften erfüllen?
Nein, die Gesetze in der Bibel sind kein Selbstzweck. Wir können genauer nachfragen: Wofür stehen die Regelungen?
Das Opfer der Erstlinge bzw. ihre Auslösung erkennt an, dass alles Leben letztlich Gott gehört. Symbol dafür ist die Erstgeburt, die als Bestes, Wertvollstes und Liebstes gilt. Wir schulden und verdanken alles Gott, nichts haben wir selbst geleistet und verdient. Wir sind nicht die Herren unseres Lebens und wir sind nicht die Herren der Welt. Wer sich für den Herrn über das Leben hält, stellt einen Götzen auf. Das Opfern der Erstgeburt ist Götzenkritik.
Das wird wunderbar durch eine jüdische Erzählung illustriert, die die Geschichte von Kain und Abel nacherzählt. Dabei füllt sie die Leerstellen im Bibeltext.
«Kain und Abel obwohl fast allein auf der Erde, lebten doch nicht in Eintracht und Frieden. Schon regten sich die Begier, der Neid, der Ehrgeiz in ihren Gemütern. Abel, mässiger und weiser, schlug dem Bruder ein mittel vor, jeden Grund der Zwietracht unter sich zu beseitigen. Teilen wir alle Dinge unter uns und geniessen wir jeder in Frieden seinen Teil. Der Vorschlag gefiel dem Kain und sofort schritt man zur Teilung. Kain wurde die Erde zugewiesen und alles, was beweglich ist auf der Erde, wurde dem Abel zugewiesen.
Aber der heftige Neid, der sich in dem Herzen Kains eingenistet hatte, liess ihm keinen Frieden. Und gestachelt und getrieben von jener Wut, nähert sich eines Tages jener Ruchlose dem Abel und schreit: Wo setzest du deine Füsse hin? Du setzest die Füsse auf mein Reich. Hinaus … die Erde ist mein.
Von dieser unerwarteten Aufforderung betroffen, antwortet ihm der Bruder mit sanften Worten also: Aber auch das Kleid, das du trägst, ist von der Wolle meine Schafe gemacht.
Hinaus, wiederholt wütend der Bruder, hinaus aus diesem Felde, die Erde ist mein.
Von dem grässlichen und drohenden Blicke Kains erschreckt, geht Abel rasch aus dem Felde und springt auf einen Hügel. Kain folgt ihm und ruft: Was machst du auf jenem Hügel? Die Erde ist mein. Abel flieht und springt auf einen Berg, der Bruder hinter ihm drein und ruft: Was machst du auf jenem Berge? Die Erde ist mein. Und er holt ihn ein und tötet ihn.» (Jalkut s.11a zitiert nach Texte und Kontexte 3/93, S. 16).

Wird hier etwas in den Text hineingelesen, das gar nicht drinsteht? Wenn wir wie bei Abel die Bedeutung der Namen ernst nehmen, haben wir einen Hinweis, dass diese Auslegung durchaus etwas mit dem Text zu tun hat. Der Name Kain kommt von dem hebräischen Wort, das erwerben, nachjagen, besitzen wollen bedeutet. Es passt zu Kain zu sagen: Die Erde ist mein.
Die Erde ist mein – Damit machen sich Menschen zu Herren der Welt und setzen sich an die Stelle Gottes. Die Opferung der Erstgeburt bringt dagegen zum Ausdruck: Gott allein ist der Herr der Welt und des Lebens. Im Opfer der Erstgeburt wird Abel also dem biblischen Gott gerecht.

Die Opferung der Erstgeburt bringt zum Ausdruck, dass wir uns nicht selbst das Leben gegeben haben, sondern Geborene und Geschaffene sind. Ein solches Opfer wird also auch uns als Menschen gerecht.
Die Art wie Abel opfert ist also nicht die reine Erfüllung von Vorschriften. Das Opfer Abels bringt seine Haltung Gott und dem Leben gegenüber zum Ausdruck, also seinen Glauben. Bei Kain ist davon nichts zu erkennen.
Der Hebräerbrief im Neuen Testament deutet die Erzählung entsprechend: und sagt: «Im Glauben brachte Abel ein reicheres Opfer dar als Kain. (11,4).

Abel wird Gott als Gott und sich als Mensch gerecht. Er lebt nach den Weisungen der Tora als Gerechter. Und Abel wird erschlagen. Darin kommt viel von den Erfahrungen des Volkes Israel zum Ausdruck: Wer nach Gottes Gerechtigkeit lebt, steht in dieser Welt wie sie ist in der Gefahr zu leiden und zu sterben. Das hat der Prophet Jesaja in seinen Liedern vom Gottesknecht formuliert und das haben die Jüngerinnen und Jünger Jesu aufgenommen, um seinen Tod im Licht der Heiligen Schrift zu deuten. In der herrschenden Ordnung der Welt muss der Gerechte leiden und sterben.

Die Geschichte der Menschen geht mit Kain weiter. Wir alle tragen etwas von Kain in uns. Wir alle sind Nachkommen Kains, wir alle sind Kainiten. Die Geschichte geht aber auch anders weiter. Mit Set. Eva bekommt noch ein Kind. «Sie gebar einen Sohn und nannte ihn Set (Setzling); denn sie sagte: Gott setzte mir anderen Nachwuchs ein / für Abel, weil ihn Kain erschlug» (Gen 4,25). Set erinnert an Abel. Er ist sein Stellvertreter. Wir sind auch Sets Nachkommen. Die Hoffnung für die Welt besteht darin, dass Gott immer wieder Stellvertreter für die ermordeten Gerechten setzt. Als Sets Nachkommen leben wir in den Spuren der Toten, der Opfer, die nicht vergessen werden sollen.
Zu Anfang sind es in der Bibel einzelne gerechte Menschen, Abel, Seth, Henoch, ein Ururenkel von Seth, von dem es heisst, er wandelte mit Gott. Diese Reihe geht bis Noach. Nach Noah entwickelt Gott eine neue Strategie für die Gerechtigkeit unter den Menschen: er wendet sich nicht mehr nur an Einzelne, sondern beruft ein Volk zum Segen für alle Völker. Abraham und Sara sind die Keimzelle dieses Volkes. Gott hat etwas gelernt und lehrt es uns in der Schrift: Einzelne allein und mögen sie noch so gerecht sein, haben keine wirklich dauerhafte verändernde Wirkung. Die Welt gerechter und friedlicher machen, können Menschen nur, wenn sie sich untereinander verbinden. Gottes Plan mit der Welt läuft über eine Gruppe von Menschen, ein ganzes Volk. Es geht um ein Volk nach der Art Abels, das Gott gnädig ansieht.

Dieses Volk ist und bleibt das Volk Israel, das Judentum. Wir Christinnen und Christen sind die jüngeren Geschwister in dieser Gottesfamilie.

Ich lade Sie jetzt zu einem Gang durch den Raum des Wortes ein. Ihnen steht die ganze Kirche offen. Stehen Sie ruhig auf und gehen Sie umher. Sie können aber auch sitzen bleiben und sich innerlich auf den Weg machen. Ich lade Sie ein, in Begleitung von Kain und Abel unterwegs zu sein. Was hat Kain, was hat Abel Ihnen zu sagen? Welche Wegweisung erhalten Sie von ihnen?

Längeres Musikstück zum Gang durch die Kirche

Die Geschichte der Menschheit geht mit Kain und Seth weiter. Wir sind ihre Nachkommen. Gott bleibt mit beiden verbunden. Die Geschichte von Kain und Seth geht in den drei Geschichten weiter, von denen wir hier Bilder haben. Das will ich noch skizzieren:

Beim letzten Abendmahl fordert Jesus seine Jüngerinnen und Jünger und über sie uns alle auf, uns zu erinnern: «Tut dies zu meinem Gedächtnis» weist er uns an. Wir erinnern uns an einen Gerechten in Israel, wie Abel. Er wurde Gott und den Menschen gerecht. Er lebte, um die Tora zu erfüllen, die Weisungen zum Leben. Wir stellen uns in die Tradition dieses Menschen, wir sind seine Stellvertreter. In uns setzt sich fort, wofür er gelebt hat.
Im Lukasevangelium beginnt die Erzählung vom letzten Abendmahl mit dem Satz Jesu: Ich habe mich sehr danach gesehnt, dieses Paschamahl mit euch zu essen. Am Anfang steht die Sehnsucht nach Beziehung, nach Verbindung. Ein Mensch allein kann nicht bestehen und kann nichts verändern. Ohne Beziehung kein Heil. Es braucht die Verbindung zwischen Menschen, es braucht das Volk Gottes, damit sich Gottes Gerechtigkeit durchsetzt. Dafür stehen die 12. Sie verkörpern die 12 Stämme Israel. Die 12 Stämme sind das Bild für das ganze Gottesvolk. Niemand soll vergessen gehen, niemand ist unwichtig, kein Mann, keine Frau, kein Kind aus diesem Volk. Die 12 sind ein Symbol für Ganzheit und für Vielfalt. Wenn wir sie ausschliessend verstehen und damit Menschen vom Mahl und vom Altar ausschliessen, verstehen wir sie falsch.

Das letzte Abendmahl ist noch nicht zu Ende, da entsteht am Tisch Streit. Es ist der uralte immer wieder neue und lebensbedrohliche Streit. Sie streiten, wer von ihnen wohl der Grösste sei. Jesus reagiert darauf mit Worten und mit einer Symbolhandlung. Im Lukasevangelium sagt er: «Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Grösste unter euch soll werden wie der Kleinste und der Führende soll werden wie der Diener.» (Lk 22,26). Johannes legt diesen Satz in seinem Evangelium aus und erzählt von der Fusswaschung.

Das letzte Abendmahl leitet direkt zum nächsten Bild über. Es zeigt Mose am brennenden Dornbusch. Mose begegnet Gott an diesem Ort, er erhält eine Zusage – ich bin mir dir – und einen Auftrag – geh und führe das Volk aus der Unterdrückung in Ägypten heraus.
Mit der Berufung des Mose beginnt der Exodus, der Weg ins verheissene Land. Wir erinnern uns jedes Jahr in der Osternacht an diese Befreiungserfahrung. Jüdische Menschen erinnern sich Jahr für Jahr an Pessach an den Exodus, ganz besonders in dem gemeinsamen Essen zu Beginn, dem Sedermahl. Es ist nicht ganz sicher, ob das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern ein Sedermahl war. Es fand aber wohl an Pessach statt. Die Erinnerung an die Befreiung aus der Fremdherrschaft in Ägypten, die Erinnerung an den Exodus, war ein wesentlicher Teil dieses Mahls. So kommt Mose ins Spiel.
Unser Bild zeigt Moses am brennenden Dornbusch. Die jüdische Bibelauslegung hat sich gefragt, warum Gott ausgerechnet in einem Dornbusch gegenwärtig und erfahrbar wird. Man fragte, warum Gott nicht aus der Mitte eines grossen Baumes, etwa einer Dattelpalme, sprach. Und man fand eine Antwort in einem anderen Bibeltext, dem Psalm 91: «Der Heilige, gelobt sei er, sagte: Ich bin bei euch in der Not. Das Volk Israel befindet sich in der Unterdrückung und deshalb bin ich, ihr Gott, ebenfalls im Dornbusch an einem engen Ort, der ganz aus Dornen besteht» (Midrasch Tanchuma Schemot 14, ähnlich Raschi in Kommentar zu Ex 3,2).

Mose soll Gott in dieser Beziehung gleich werden, soll seine Gottebenbildlichkeit zeigen.Er soll seine Schuhe ausziehen, denn der Ort, an dem er steht, ist heiliger Boden. Er soll das tun, denn nur, wer die kleinen Steinchen und Dornen hautnah spürt, kann mitfühlen mit den Leiden anderer. Der Satz «Wo ist dein Bruder Abel? Hat auch hier den gleichen Zahlenwert wie avodah, Gottesdienst. Im Wahrnehmen der anderen, vor allem ihrer Verletzlichkeit, stehen wir auf heiligem Boden, begegnen Gott, dem Heiligen und zeigen unsere Ebenbildlichkeit.
Für Mose ist das Einüben dieses Mitleidens ganz besonders wichtig. Denn Mose ist ein Kainite. Er hat in Ägypten einen Aufseher ermordet. Das kann nicht ungeschehen gemacht werden. Damit muss er leben. Und trotzdem tun sich für ihn neue Lebenswege auf.

Pfingsten schliesslich setzt das Abendmahl fort, das ja aus der Sehnsucht nach Beziehung entstand. Menschen verstehen sich obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen. Pfingsten macht die Folgen des Turmbaus zu Babel rückgängig. Aus der Erfahrung der Gemeinsamkeit und der Verbindung untereinander entwickelt sich gemeinsames geisterfülltes Wirken. Da wird gegenwärtig und erfahrbar, was der Prophet Joel verheissen hat. Petrus zitiert ihn:
Danach aber wird es geschehen, / dass ich meinen Geist ausgiesse über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, / eure Alten werden Träume haben / und eure jungen Männer haben Visionen.
Auch über Knechte und Mägde / werde ich meinen Geist ausgiessen in jenen Tagen. Ich werde wunderbare Zeichen wirken / am Himmel und auf der Erde (Joel, 3,1-3)
Im Raum des Geistes Gottes sind alle Ausgrenzungen aufgrund des Alters, des sozialem Status und des Geschlechts hinfällig.

Das Pfingstfest findet am 50. Tag nach Ostern statt. Es orientiert sich am jüdischen Wochenfest, das 7mal 7 und einen Tag nach Pessach stattfindet. Dieses Fest erinnert damit an eine Weisung aus der Tora, das Jobeljahr. Spätestens im 50. Jahr, nach 7 mal 7 Jahren, sollen die Menschen alle ihre Verhältnisse grundlegend neu regeln, einen Neuanfang für alle ermöglichen: Sklaven werden freigelassen, Ausländer und Asylsuchende erhalten Heimat, Schulden werden erlassen, das Land wird unter Armen und Reichen gerecht verteilt, Feinde versöhnen sich. In Leviticus 25 stehen diese Weisungen für einen gerechten Neuanfang. So soll es in Israel, im Volk Gottes sein, lautet die Botschaft von Wochenfest und Pfingsten. Wir sollen frei werden, denn zur Freiheit ist der Mensch bestimmt. Was wir sind und haben, teilen wir. So wird unser Leben neu. Das leidenschaftliche Gottesfeuer, das Mose im Dornbusch spürte, das wird jetzt im Zusammenleben von Menschen erfahrbar. Das ist wahrlich eine Verheissung und eine Herausforderung für einen erwachsenen Glauben.

Musik zum Abschluss