Wir beraten

1. Vortrag: Die Verkündigung an Maria und die Arche Noah – Die Geburt Jesu und die eherne Schlange   

Die Bilder der Seitenaltäre in der Stadtkirche Baden

Musikalische Einstimmung

Ich begrüsse Sie ganz herzlich zum ersten der drei Vorträge über die Bilder der Seitenaltäre in der Stadtkirche Baden. Sie stehen unter dem Titel: Gegrüsset seist du Maria auf der Arche. Die Bilder der Seitenaltäre bringen jeweils eine Szene aus dem Neuen Testament mit einer Szene aus dem Alten Testament in Verbindung. Das grosse Bild unten zeigt die neutestamentliche Szene, das kleine Medaillon oben die Alttestamentliche. Es beginnt ganz links aussen mit der Verbindung zwischen der Verkündigung an Maria und der Arche Noah. Die Bilder bringen Maria und die Arche miteinander in Beziehung: Gegrüsset seist du Maria auf der Arche. Was Maria mit der Arche verbindet, was die alttestamentlichen Szenen mit den Neutestamentlichen verbindet, das wird Thema meiner drei Vorträge sein.

Zu Beginn möchte ich Ihnen sagen, was ich bin und was ich nicht bin.
Ich bin kein Kunsthistoriker. Ich werde die Bilder der Seitenaltäre nicht in die Kunstgeschichte einordnen oder ihre Gestaltungselemente analysieren oder gar ihre künstlerische Qualität bewerten.
Und ich bin kein Kirchengeschichtler. Ich werde nicht die Frage ins Zentrum stellen: Was wollten die Künstler in ihrer besonderen Zeit mit diesen Bildern und ihrer Anordnung aussagen?

Was bin ich nun:
Ich bin ein Bibelleser. Die Bilder sind von biblischen Texten angeregt worden. Ich lese die Bilder als Gespräch mit den biblischen Texten. Damit setzen sie ein Gespräch fort, das bereits innerhalb der Bibel geführt wird. Denn ich lese die Bibel als ein langes Gespräch zwischen Texten und zwischen den Menschen, die diese Texte geschrieben, verändert und ausgelegt haben. Kurt Marti hat das wunderbar formuliert. Die Bibel ist «ein Bücherbuch vieler Stimmen, die nacheinander, nebeneinander, durcheinander, gegeneinander, miteinander reden, singen, murmeln, beten.»
Ich lese die ganze Bibel als ein Buch. Altes und Neues Testament erzählen eine Geschichte. Die Bibel erzählt von unterschiedlichen Erfahrungen mit dem gleichen Gott. Erfahrungen, die miteinander im Gespräch stehen.
Und ich bin Theologe, Schriftgelehrter und Seelsorger. Ich möchte glaubenden und suchenden Menschen heute, also Ihnen und mir, Zugänge zur jüdisch-christlichen Tradition eröffnen, zur Tradition, wie sie in diesen Bildern und in den Bibeltexten, auf die sie sich beziehen, Gestalt angenommen hat. Diese Tradition, die bis heute weitergeht, ist für mich ein Raum, in dem wir dem Wort Gottes begegnen können. Ich möchte Sie in diesem Raum einladen. Ich tue das mit den Worten eines Kollegen, der vor langer Zeit auch als Theologe, Schriftgelehrter und Seelsorger tätig war. Es handelt sich um einen jüdischen Rabbi, dessen Name nicht überliefert ist. Dieser Rabbi sagte einmal zu Menschen, die ihm zuhörten:
«Wisst ihr, das Wort Gottes ist keine Lehre. Wenn wir es lesen oder hören, sind wir nicht gescheiter als vorher. Es ist auch nicht eine Stimme, obwohl die Stimme seiner Wahrheit schon näher kommt. Nein! Das Wort Gottes ist eher ein Raum. Und wir sind eingeladen, hineinzugehen, zu tasten, wahrzunehmen mit allen Fasern unseres Lebens, was das Wort uns hier und heute sagen will.»
Ich möchte Ihnen diese Einladung weitergeben. Sie sind eingeladen, in den Raum des Wortes Gottes. Sie können wahrnehmen, was das Wort Ihnen hier und heute sagen will. Sie nehmen es wahr, wenn Sie es mit den Fasern ihres Lebens verbinden, also mit ihren Lebenserfahrungen und ihrer ganz besonderen Lebensgeschichte.

Ich verstehe mich als Reiseführer auf diesem Weg. Ich kann Sie auf einige der bekannten und weniger bekannten Sehenswürdigkeiten hinweisen.

Ich schlage vor, dass wir uns für unseren Weg im Raum des Wortes Gottes eine Begleitung suchen. Damit stehen wir in guter biblischer Tradition. Als der junge Tobias sich im Buch Tobit auf einen langen und nicht ungefährlichen Weg machen soll, rät ihm sein Vater: «Such dir jemand, der mit dir auf die Reise geht!» Und dann heisst es wunderbar einfach: «Tobias ging auf die Suche nach einem Begleiter und traf dabei Rafael. Rafael war ein Engel, aber Tobias wusste es nicht.» (Tobit 3-4).

Ich schlage vor, dass wir uns hier in der Badener Stadtkirche, eine andere Begleitung suchen. Ich schlage vor, dass wir Maria fragen, ob sie uns begleiten will. Sie sehen selbst: Der Engel ist dann gar nicht weit.

Maria bietet sich als Begleiterin auf unseren Wegen durch den Raum des Wortes Gottes auch deswegen an, weil sie liest. Vor ihr liegt ein aufgeschlagenes Buch. Das Motiv eines aufgeschlagenen Buches gibt es auf vielen Bildern von Maria. In der Ökumenischen Bibelrunde Baden haben wir uns einmal ein halbes Jahr lang mit der lesenden Maria beschäftigt.
Vermutlich soll das offene Buch in diesen Bildern sagen: mit der Verkündigung an Maria und ihrem Ja dazu, erfüllen sich die Verheissungen der Heiligen Schrift, dass der Messias, der Retter geboren wird.
Maria liest also in der Bibel. Sie liest in der Heiligen Schrift, in Texten, die von alten Erfahrungen mit Gott erzählen. Vielleicht fragt sich Maria: Haben diese alten Geschichten etwas mit mir, mit meinem Leben hier und heute zu tun? Wollen diese alten Worte mir etwas sagen? Und wenn ja, was?

Maria, du stellst dir die gleichen Fragen wie wir. Können wir mit dir zusammen in den Raum des Wortes hineingehen? Bist du mit der Gegend dort vertraut? Kannst du die alten Wegweiser lesen und verstehen? Sie sind in Sprachen geschrieben, die wir heute nicht mehr kennen oder doch nur sehr bruchstückhaft.
Ich glaube, dass Maria auf unsere Frage mit den gleichen Worten antwortet, mit denen der Engel Rafael auf die Frage des Tobias antwortet: «Ich will mit dir reisen. Ich kenne den Weg.» (Tobit 5,6).

Musik

Maria als unsere Reisebegleiterin im Raum des Wortes Gottes wird uns sehr schnell auf einen ersten Wegweiser aufmerksam machen, der in diesem Bild auch extra ins Zentrum gestellt wurde: auf den Finger des Engels. Dieser Finger zeigt nach oben. Worauf weist er hin? Auf die Taube, die über der Szene schwebt? Auf das Bild von der Arche Noah, das über der Szene angebracht ist? Warum nicht auf beide, denn sie hängen miteinander zusammen.
Die Taube zeigt uns, dass das Gespräch zwischen biblischen Texten sich nicht nur auf die hier abgebildeten Szenen beschränkt. Jeder Bibeltext steht mit vielen anderen Bibeltexten im Gespräch. Die Taube zum Beispiel spielt eine wichtige Rolle bei der Taufe Jesu, die im Markuseangelium anz am Anfang der Geschichte von Jesus steht (Mk 1,9-11). Bei Lukas ist die Verkündigung an Maria die Anfangsgeschichte, bei Markus die Verkündigung an Jesus. Wir werden heute noch weiteren Anfangsgeschichten begegnen.

Im Markusevangelium heisst es: Nachdem Jesus sich von Johannes im Jordan hatte taufen lassen, «sah er, dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.»
Ist das nicht bei der Verkündigung an Maria genauso? Öffnet sich nicht auch der Himmel über Maria und ein Engel tritt ein? Hört Maria nicht die gleiche Botschaft wie Jesus? «Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade bei Gott gefunden» (Lk 1,30). Du bist ein Mensch, an dem Gott Wohlgefallen hat, eine geliebte Tochter Gottes. Auf beide, auf Jesus und auf Maria kommt der Geist wie eine Taube herab.
In der Antike symbolisierten Tauben die Botinnen der Liebesgöttinnen. Sie eignen sich gut als Botinnen des biblischen Gottes der Liebe für Botschaften an seine geliebten Töchter und Söhne.

Die Botschaft des Wortes Gottes an uns alle ist: Wir werden geboren als geliebte Kinder. Wir treten mit unserer Geburt ein in eine Fülle von Beziehungen, die uns ganz ohne unser Zutun, ganz ohne unser Verdienst, ganz ohne unsere Leistung geschenkt werden. Menschen, die uns nähren und pflegen, die uns ansprechen und uns berühren. Und auch diese Menschen sind in geschenkte Beziehungen hineingeboren worden und auch deren Vorfahrinnen und Vorfahren und so leben Menschen immer schon aus dem Geschenk von Beziehungen. Diese Grunderfahrung des Lebens ist in das Wort Gott eingeflossen. Gott ist der Name für unverfügbare und geschenkte Beziehung als Grundlage jeden Lebens.

Das Grundwort im Raum des Wortes Gottes ist: Du bist geliebte Tochter. Du bist geliebter Sohn. Dieses Grundwort wird im Gespräch zwischen Bibeltexten weiter entfaltet:

Die Himmelstimme im Markusevangelium zitiert mit den Worten vom geliebten Sohn, an dem Gott Wohlgefallen gefunden hat, einen Text des Propheten Jesaja, bringt also zwei Bibeltexte miteinander ins Gespräch. Bei Jesaja ist die Rede vom Knecht Gottes, an dem Gott Gefallen hat (Jes 42,1). Mit dem Knecht Gottes ist das Volk Israel gemeint, mit dem Gott sich in besonderer Weise verbunden hat. Gott hat an diesem Volk Gefallen, am ganzen Volk und an jedem einzelnen Menschen aus dem Bundesvolk.
Eine Frau aus dem Volk Gottes ist natürlich die Magd Gottes. Das bringt uns zurück zu Maria. Sie nennt sich ja selbst so: Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe, wie du gesagt hast» (Lk 1,38).
Der Ausdruck Knecht Gottes ist ein biblischer Ehrentitel und eine Ermächtigung. Paulus gebraucht ihn so. Er nennt sich Knecht Gottes und Knecht Jesu Christi. Für Paulus ist klar: Wer Knecht Gottes ist, hat ausser Gott keinen anderen Herrn über sich. Für den Knecht Gottes sind Machthaber, alle Kaiser und Könige, alle Herren der Schöpfung relativiert und entmachtet. Warum sollte es für Mädge Gottes anders sein. Nach der Verkündigung durch den Engel betet Maria, die Magd Gottes:
«Der Mächtige hat Grosses an mir getan und sein Name ist heilig … Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten. Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.
Das ist das wirkmächtige Wort Gottes, nach dem es Maria, der Magd Gottes, geschehen soll.

Der Raum des Wortes Gottes ist politisch. In diesem Raum steht zentral die Frage nach Gerechtigkeit, nach gerechten Beziehungen. «Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen» formuliert das Buch Deuteronomium (16,20) als Auftrag Gottes an das Volk Israel. Das ist die erste Entfaltung des Grundwortes. Es geht darum, die Beziehungen zwischen Menschen gerecht zu gestalten. So zu gestalten, dass sie allen, besonders den Machtlosen, gerecht werden.

Und die Arche? Die Taube verweist ja auch auf die biblische Geschichte von der Sintflut und der Arche Noah. Das Buch Genesis erzählt: als das Wasser der Flut abgenommen hat, lässt Noah zuerst einen Raben und dann eine Taube fliegen. Beim ersten Mal findet sie keinen Halt für ihre Füsse, beim zweiten Mal bringt sie einen frischen Olivenzweig mit zurück. Neues Grün, das Zeichen für neue Lebensmöglichkeiten. Das Verlassen der Arche ist wie eine neue Geburt.
Im Bilderhimmel der Kirche von Hergiswald wird Maria als Taube Noahs bezeichnet (Süd 56). Das Bild dort zeigt die Arche auf dem Berg Ararat. Auf der Arche sitzt eine Taube mit Ölzweig im Schnabel. Darunter steht auf einem Spruchband: Pacem fero. Ich bringe Frieden. An der Taube, die mit dem Ölzweig zurückkehrt, erkannte Noah, dass zwischen Gott und der Welt wieder Frieden eingekehrt war. Die Taube ist eine Friedensbotin. Deswegen ist sie Sinnbild für Maria als friedensstiftende Fürbitterin.
Und auch die Arche selbst ist ein traditionelles Symbol für Maria.

Das Bild hier auf dem Seitenaltar stellt aber nicht die Arche ins Zentrum, sondern die Ertrinkenden der Sintflut.
Einer steht noch aufrecht, sein muskulöser Körper strotzt vor Kraft. Kämpferisch ballt er die Fäuste. Sein Blick verrät aber schon die Angst vor dem, was kommt. Ein andrer liegt am Boden. Eine Frau reckt flehend die Hände zum Gebet. Ihre Gesichter sind von Verzweiflung geprägt. Schon bald werden sie in den steigenden Fluten versinken. Das Bild wurde 1813 gemalt. Ich kann mir vorstellen, dass darin etwas von dem zum Ausdruck kommt, wie viele Katholiken diese Zeit erlebt haben. Die moderne Gesellschaft machte sich frei von kirchlichem Einfluss im Schulwesen, in der Moral, in der Politik. Kurze Zeit später wird sich das im Kulturkampf dramatisch zuspitzen und unter anderem zur Schliessung der Klöster im Aargau führen.
Vielleicht soll das Bild sagen: Wer sich von der Arche abwendet, wird ertrinken. Wer sich von der Mutter Kirche abwendet, mit dem geht es nicht gut aus. Die einzige Hoffnung auf Rettung vor den Stürmen der Gegenwart heisst Maria, die bergende Arche.

Was aber erzählt die biblische Geschichte genau? Für das Verständnis eines Bibeltextes hilft es sich klarzumachen, wo er in der Bibel steht. Die Sintfluterzählung ist Teil der sogenannten Urgeschichte. Die Urgeschichte erzählt von Anfängen, aber nicht von Einmaligen, sondern von sogenannten mitlaufenden Anfängen – wie es Hubertus Halbfas genannt hat. Sie erzählt nichts Einmaliges, sondern Allmaliges. Sie beschäftigt sich mit den Grundfragen der menschlichen Existenz zu allen Zeiten, mit den grossen Fragen des Lebens: Ist diese Welt Zufall oder steckt ein Sinn in ihr? Warum gibt es Männer und Frauen? Wie entsteht Gewalt? Wie kann das Leben gelingen? Die Fragen sind die menschliche Urfragen zu allen Zeiten. Die Urgeschichte gibt Antworten auf diese Fragen in Form von Erzählungen.

Die Sintflutgeschichte bildet zusammen mit der Schöpfungsgeschichte einen Rahmen um die Urgeschichten. Schöpfung und Flut hängen zusammen. Die Sintfluterzählung übernimmt zahlreiche Worte und Wendungen aus der Schöpfungsgeschichte. Es handelt sich letztlich um zwei Schöpfungsgeschichten. Um eine erste und eine zweite Schöpfung. Die erste Schöpfungsgeschichte entwirft das ideale Bild der Welt, in der alles gut, ja sogar sehr gut ist. Das zweite Bild von der Schöpfung in der Sintflutgeschichte ist realistischer geworden. Sie zeigt ein Bild von der Welt, wie sie wirklich ist. Die Fluterzählung verarbeitet die menschliche Erfahrung, dass Ideale scheitern. Sie spricht davon, dass Gott unter diesem Zustand leidet, aber wie am Ende seine Bundeszusage gilt und zwar der Welt, wie sie nun einmal ist. Die Sintfluterzählung antwortet also auf Fragen wie: Steht Gott auch angesichts von Scheitern und Gewalt zu seiner Schöpfung? Oder ganz persönlich: steht Gott angesichts meiner dunklen Seiten und meines Scheiterns zu mir? Wodurch ist das Leben bedroht und gefährdet? Wie lässt sich diese Bedrohung begrenzen oder gar aufhalten?

Welche Antwort gibt die Bibel auf diese Fragen. Sie gibt nicht eine Antwort, sondern mehrere. Besser: Sie führt ein Gespräch zwischen verschiedenen Antworten. Es gibt nicht die EINE Antwort. Es gibt das bis heute andauernde Ringen um die Grundfragen in der Beziehung zwischen Menschen und in der Beziehung zu Gott.
In der Sintflutgeschichte, wie sie heute in der Bibel steht, sind zwei Erzählungen mit verschiedenen Antworten verbunden worden.
Die ältere Sintfluterzählung endet mit folgenden Worten Gottes: «Nicht noch einmal will ich den Erdboden verfluchen um des Menschen willen! Auch wenn das Sinnen des menschlichen Herzens böse ist von Jugend an. Nicht noch einmal!» (Gen 8,21).
Bei den Menschen hat sich also nichts geändert durch die Flut. Wer sich verändert hat, ist Gott. Die Flut hat Gott verwandelt. Er ist zur Welt gekommen und er ist zum Menschen gekommen. Wodurch hat sich Gott verändert? Durch seine Beziehung zu Noah, hebräisch Noach. Der Name Noach besteht hebräisch aus den beiden Buchstaben nun und chet. Das sind die beiden hebräischen Buchstaben aus denen das Wort Gnade, Zuwendung besteht. Gnade im biblischen Sinn bezeichnet ein gegenseitiges Geschehen – jemanden für sich einnehmen. Das tun Gott und Noah hier. Sie nehmen sich gegenseitig füreinander ein. Noach ist also dem Namen nach voller Gnade. Das verbindet ihn mit Maria – auch sie ist voll der Gnade, gratia plena.

Gott geht in Beziehung und wird durch die Beziehung verändert. Das ist die theologische Antwort dieser ersten Sintfluterzählung: Sie erzählt nicht von einem strafenden, sondern von einem sich zuwendenden Gott. Sie verkündet Gottes grosse Geduld den Menschen gegenüber – wie sie auch sein mögen. Sie verspricht: die Bosheit und die Gewalt wird die Welt nicht zugrunde richten. Sie wird bestehen und Gott wird mit ihr sein. Die Zuneigung zwischen Gott und den Menschen seiner Gnade sorgt dafür, dass sich der Segen über der Schöpfung immer wieder erneuert und vergegenwärtigt: «Seid fruchtbar und mehret euch und bevölkert die Erde.» (Gen 8,1). Das ist die zweite Entfaltung des Grundwortes.
Lesen wir den Bibeltext genau: Wir sind mit Fruchtbarkeit und Vermehrung gesegnet. Jede neue Geburt, jedes neue Leben, aber auch jede andere Form von Fruchtbarkeit und schöpferischem Tun ist Ausdruck dieses Segens. Jeder Neuanfang erneuert den Schöpfungsssegen.

Die zweite, die jüngere Sintfluterzählung (Gen 6,9-22) beginnt mit einer Beschreibung Noahs und stellt heraus, wie gerecht er ist. Die Erde dagegen ist erfüllt von Gewalttat. Die Schöpfungsordnung hat sich umgedreht. Im Schöpfungsbericht ist die Erde erfüllt mit Leben, jetzt mit Gewalttat. Auch dieses Gewaltpotential besteht nach der Sintflut weiter. Die Utopie der gewaltlosen Schöpfung scheint verloren. Aber Gott, der Liebhaber des Lebens, findet Wege seine Utopie von der guten Schöpfung weiter zu verfolgen: Die Schöpfung braucht Regeln für das Zusammenleben. Ohne klare Regeln funktioniert es nicht. Es braucht einen realistischen Blick für das bestehende Gewaltpotential. Zuerst wird das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren neu gedacht. Dort hält die Gewalt Einzug. Die Tiere werden den Menschen zur Nahrung gegeben. Das paradiesische Ideal vegetarischer Ernährung wird aufgegeben. Furcht und Schrecken kommt zwischen die Tiere und die Menschen. Die Bibel hält die Erinnerung daran wach, was unsere Essgewohnheiten für Tiere bedeuten.

Anders soll es aber zwischen den Menschen sein. Drastische Worte warnen vor Mord und Gewalt. Und ganz entscheidend: Gott macht sich zum Anwalt jedes Gewaltopfers.
«Wenn aber euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft, und zwar für das Blut eines jeden von euch. … Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder. … Denn: als Abbild Gottes hat Gott den Menschen gemacht.

Der Schlusssatz erinnert an den Schöpfungsbericht. Die Menschen sind als Abbild Gottes geschaffen. Unsere Gottebenbildlichkeit zeigt sich, wenn wir wie Gott für die Opfer von Gewalt eintreten. Das Wort Gottes an seine Ebenbilder lautet: Vergesst die Opfer nicht, vergesst das Mitleiden mit den Opfern von Gewalttaten nicht. Bleibt in Beziehung. Das ist die dritte Entfaltung des Grundwortes.

In der Geschichte von der Sintflut, von Noah und der Arche kommen Gott und die Menschen zur Welt, zur wirklichen Welt, wie sie nun einmal ist. Sie werden realistischer. Sie verlieren die Utopie aber nicht aus den Augen: Sie arrangieren sich nicht einfach mit dem, was ist, sondern bewahren den Blick für das, was sein kann. Sie wandeln sich sozusagen von idealistischen Utopisten zu realistischen Utopisten. In diesem Sinne – davon bin ich überzeugt – sind wir heute herausgefordert, das Verhältnis zwischen uns Menschen und den anderen Lebewesen weiter zu denken in Richtung von Ökologie und Ökumene, einem gerechteren und friedlicheren Zusammenleben im oikos, im gemeinsamen Welthaus.

Die Sintfluterzählung spricht von einem Neuanfang, einer zweiten Schöpfung, einer zweiten Geburt. Gott kehrt um und kommt zur Welt.
Sollte er nicht auch den Menschen die Gelegenheit zur Umkehr einräumen?
Für die Ertrunkenen der Sintflut, für die drei Menschen auf unserem Altarbild, kommt das zu spät. Bei aller Freude über den Neuanfang ist die Totenstille der Toten ein grosses Problem der göttlichen Gerechtigkeit:
Die jüdische Bibelauslegung hat das tief empfunden und darüber nachgedacht. Sie hat dabei an die Erzählung vom Auszug aus Ägypten angeknüpft, wo ja auch Tote zurückbleiben, wo ja die Befreiung der einen auf Kosten der anderen geht, die in den Fluten ertrinken. Die Mischna erzählt die Geschichte weiter:
Als die Israeliten durch das Meer gezogen waren und die Ägypter in den Wassermassen ertrunken waren, wollten die Engel anfangen zu jubeln wegen der Rettung des Volkes Israel. Gott untersagte ihnen diesen Jubel aus Trauer um die Ägypter, denn «auch sie (die Ägypter) sind das Werk meiner Hände – und ihr wollt Jubelgesänge anstimmen?».
Das ist keine endgültige Antwort. Es bleibt eine offene Frage, eine radikale Anfrage an Gottes Gerechtigkeit. Die jüdische Bibelauslegung fordert uns auf, uns dieser Frage zu stellen. Sie lädt uns ein damit untereinander und mit Gott ins Gespräch zu kommen.

Musik

Ich möchte das Gespräch jetzt mit dem Blick auf zwei andere Bilder fortführen. Mit dem Blick auf ein weiteres Gespräch zwischen Bildern und Texten. Es handelt sich um die Altarbilder ganz rechts aussen.

Nach all dem, was bereits über Anfangsgeschichten, über das zur Welt kommen und das Geborenwerden gesagt wurde, ist es keine Überraschung, dass das nächste Altarbild eine Geburtsszene zeigt. Im Raum des Wortes Gottes entsteht neues Leben.
Welchen Namen trägt denn das neue Leben: es heisst Jesus, Gott rettet. Der Name ist im biblischen Verständnis ein Ausdruck des Wesens, eine Verdichtung und Vergegenwärtigung des Wesentlichen. Das Wesentliche, das sich in Jesus vergegenwärtigt heisst: Gott rettet.
Was heisst das denn konkret?
Diesmal ist es Josef, der uns zum Wegweiser wird. Er ist hier der Engel, der Bote, der nach oben zeigt, der uns auffordert, das Bild oben mit ins Gespräch einzubeziehen.

Über der Szene von der Geburt des neuen Lebens, das der leibliche Ausdruck dafür ist, dass Gott rettet, ist die Geschichte von der ehernen Schlange gemalt und erzählt? Sie steht im Buch Numeri (21,4b-9) und lautet:

Die Israeliten brachen vom Berg Hor auf und schlugen die Richtung zum Schilfmeer ein, um Edom zu umgehen. Unterwegs aber verlor das Volk den Mut,
5 es lehnte sich gegen Gott und gegen Mose auf und sagte: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig.
6 Da schickte der Herr Giftschlangen unter das Volk. Sie bissen die Menschen und viele Israeliten starben.
7 Die Leute kamen zu Mose und sagten: Wir haben gesündigt, denn wir haben uns gegen den Herrn und gegen dich aufgelehnt. Bete zum Herrn, dass er uns von den Schlangen befreit. Da betete Mose für das Volk.
8 Der Herr antwortete Mose: Mach dir eine Schlange und häng sie an einer Fahnenstange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht.
9 Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben.

Das Volk Israel ist unterwegs in der Wüste. Es ist schon lange unterwegs. Die Erfahrung der Befreiung aus der Unterdrückung, des Exodus, ist schon beinahe Geschichte. Eine alte Erinnerung. Sie trägt kaum noch auf den gegenwärtigen Wegen. Das Ziel, das gelobte Land ist eine Verheissung. Aber nichts davon ist sichtbar und spürbar. Eine Situation wie wir Sie wohl auch kennen.
In dieser Situation steigen tiefsitzende Fragen und Ängste auf, verkörpert von den Schlangen. Die Ur-Frage, das Ur-Misstrauen: Steckt wirklich ein Sinn hinter all dem? Sind wir wirklich Gottes geliebte Kinder oder sind wir von allen Göttern verlassene Waisen?
In diese Situation hinein steckt Mose die kupferne Schlange auf die Stange.
Es wäre jetzt möglich, dass wir uns näher mit der Schlange beschäftigen und die verschiedenen Bedeutungen von Schlangen in der Bibel untersuchen.

Ich möchte aber lieber dem Hinweis des Altarbildes von der Sintflut folgen. Es stellt ja die Menschen in den Vordergrund, Menschen, die Täter sind und Opfer werden. Auch hier stehen Menschen im Vordergrund, eine bunte Schar von Männern, Frauen und Kindern. Menschen wie sie nun mal sind. Menschen wie wir.

Auch die jüdische Bibelauslegung hat in der Geschichte die Gefahr gesehen, das Schlangenbild magisch misszuverstehen. Darum hat auch sie den Blick von der Schlange weg auf die Menschen gerichtet. In der Mischna heisst es: «Konnte die Schlange töten oder am Leben erhalten? Sie war nur dazu da, euch zu lehren, dass sobald die Israeliten ihre Gedanken in die Höhe richteten und ihre Herzen in Unterordnung unter ihren himmlischen Vater hielten, wurden sie geheilt; anderenfalls wurden sie vernichtet.» (Mischna rosch ha-Schana 3,8).
Die Schlange ist also ein Wegweiser – wie der Engel und Josef für uns – für den Blick nach oben, für unsere Beziehung zu Gott.

Eine andere Stelle in der Mischna liest den Text ganz genau und bemerkt, dass die Menschen nach den Bissen der Schlangen sehr schnell reagieren und vor Mose ihr Fehlverhalten bekennen und dass Mose daraufhin sofort für das Volk zu Gott betet. Die Mischna legt das so aus: «Kaum noch hatten die Menschen gegen Mosche rebelliert, als sie auch schon bereuten und ihn baten, für sie zu beten, was er seinerseits nicht zögerte zu tun (21,7). Daraus lernen wir zweierlei: die Bescheidenheit Mosches und die Kraft der Reue. Und auch, dass derjenige, der ernsthaft um Vergebung gebeten wird, nicht zornig bleiben sollte» (Midrasch BemidbarRabba 19,26).

Die Geschichte von der ehernen Schlange handelt also nach dieser Auslegung von Reue und Umkehr, und von der Bereitschaft anderen die Möglichkeit zur Umkehr einzuräumen. So ist die Erzählung von der ehernen Schlange die Auslegung eines anderen Bibeltextes, der von den Namen Gottes spricht: «Gott ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue» (Ex 34,6)

Das ist ein letztes zentrales Wort im Raum Gottes: Du hast jederzeit die Möglichkeit, dich zu ändern, ein anderer, eine andere zu werden. Keine Entscheidung, die du getroffen hast, kein Umweg oder Irrweg, den du gegangen bist, ist endgültig und macht die Beziehung zu Gott und zu deinen Mitmenschen unmöglich. Du kannst umkehren und du kannst Umkehr gewähren. Die Bibel unterscheidet sich radikal von der antiken Tragödie. Nichts ist unausweichlich. Es gibt kein unabwendbares Verhängnis. Es gibt nichts im persönlichen Leben und nichts in der Politik, was nicht auch hätte anders sein können. Nichts, was nicht anders werden kann. Das ist begründet in der wesentlichen Eigenschaft Gottes: Der Barmherzigkeit. Die Barmherzigkeit lässt Gott umkehren und eröffnet den Menschen die Möglichkeit neu anzufangen. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit Rachamim ist mit dem Wort rechem verwandt. Rechem bedeutet Mutterschoss. Zu diesem Mutterschoss der göttlichen Barmherzigkeit können wir jederzeit zurückkehren. Ein Neuanfang, eine neue Geburt, ist immer möglich. Das bedeutet: Gott rettet.

Soweit unser heutiger Weg durch das Gespräch zwischen diesen Bildern und den Bibeltexten. Es sind Bilder und Geschichten von Anfängen und Neuanfängen, vom Geborenwerden. Es sind Bilder und Geschichten, die ein dauerhaftes Gespräch miteinander führen und offen dafür sind, dass wir uns an diesem Gespräch beteiligen.

Verabschieden wir uns von Maria, unserer Begleiterin auf diesem Weg. Maria ist eine Lesende. Sie ist eine Geborene. So ist sie unterwegs im Raum des Wortes Gottes. Sie ist ansprechbar vom Wort Gottes. Sie öffnet sich für das, was das Wort ihr hier und heute sagen will: «Mir geschehe nach deinem Wort», sagt sie.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören und Mitgehen. Ich freue mich, wenn Sie bei der Weiterführung des Gesprächs nächste Woche dabei sind. Hören wir zum Abschluss dieser Bild- und Textbetrachtungen noch einmal ein Musikstück.

Musik zum Ausklang