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Uralte Wunder. Der immer neue Exodus in Ps 66   

Martin Brüske zum Antwortpsalm am 6. Ostersonntag der Osterzeit SKZ 16/2008

Wieso eigentlich sollen die Völker den Gott Israels preisen für längst vergangene Taten? Dazu werden sie in unserem Psalm ja mit allem Nachdruck aufgerufen (VV 1, 4, 5 und 8). Er gehört zu den Liedern Israels mit ausgesprochen universalem Horizont. Aber selbstverständlich ist das eigentlich nicht. Es mag ja noch angehen, dass Israel selbst der Taten seines Gottes gedenkt, denen es seine Volkwerdung verdankt. Aber wieso sollten die Völker da einstimmen? Und mit den «Völkern» können ja auch wir uns angeredet wissen, wir, der eingepfropfte Ölzweig, die Kirche aus den Heiden: Wieso können wir einstimmen in den Lobpreis Israels, wieso können wir dann selber wieder andere zur Einstimmung aufrufen? Und sind nicht selbst für Israel Gottes Taten immer weiter weg? In Abwandlung eines flapsigen, aber problemgenauen Hegelworts könnte man sagen: «Bei uns in Schwaben sagt man: Etwas ist schon so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Gott hat Israel schon so lange aus Ägypten herausgeführt, dass es schon gar nicht mehr wahr ist.»

Kommt, seht, staunt: Das ist der Rhythmus in V 5 und das ist die Sprache der Unmittelbarkeit. Aber wie ist sie möglich gegenüber Ereignissen, die jedes Jahr weiter in der Vergangenheit versinken? Ich glaube, unser Psalm kann als Antwort auf diese Frage verstanden werden. Die Antwort wird doxologisch formuliert: Sie vollzieht sich als Hymnus und Danklied, im Kontext von Gottesdienst also. Im Vollzug leuchtet dabei die Theologie liturgischen Gedenkens auf, in der sich Gottes Handeln (in der «Er-Perspektive»), dem unser gedenkender Lobpreis gilt, als ekklesiale (die «Wir-Perspektive») und existentielle (die «Ich- Perspektive») Gegenwart erweist.

Tatsächlich bestimmt das die Form unseres Psalms: Der Hymnus (VV 1–7) geht über in ein Danklied des Gottesvolkes (VV 8–12); diesem schliesst sich das Danklied einer einzelnen Person an (VV 13–20). Man könnte daher Ps 66 für ein ziemlich heterogenes Gebilde halten. Zwar bilden Hymnus und kollektives Danklied, wie leicht erkennbar ist, inhaltlich und formal eine Einheit – aber das individuelle Danklied scheint nur locker angefügt zu sein. Die Zusammenfügung macht dennoch Sinn. Sie ist kein Zufall, sondern vermutlich sehr bewusst erfolgt. Vergegenwärtigen wir uns nun die einzelnen Teile und ihren Zusammenhang noch ein wenig genauer!

Gott gross sein lassen: Das Gedächtnis des Exodus

Der Hymnus des ersten Teils (VV 1–7) schaut zuerst und zuletzt auf den königlich waltenden Gott. Genau das will ja ein solcher Hymnus: Gott gross sein lassen im Angedenken seiner Taten, ihrem weltweiten Herrlichkeitsglanz Raum geben im antwortenden Lobpreis. Weil nun ihr Glanz weltweit ist, sollen auch die Völker in diesen Raum einbezogen werden: Gottes Taten an Israel sollen «ein Licht, das die Heiden erleuchtet» werden, weil sie schon «Herrlichkeit, für dein Volk Israel» sind (Lk 2,32). Dort wo auch die Völker Gott gross sein lassen im Lobpreis seiner Taten, werden sie in ihren Heilsraum einbezogen: Sie gelten dann auch ihnen. Aber die Völkerwelt wird in unserem Psalm ambivalent gezeichnet. Der Möglichkeit der Einstimmung steht die Möglichkeit des Trotzes (V 7) und der Feindschaft (V 3) entgegen. Wer einstimmt, der setzt damit einen Akt der Selbstunterscheidung (V 3) angesichts der Taten Gottes. Er anerkennt, dass Gott zugunsten Israels gehandelt hat und gerade so offenbar wurde. Er tritt heraus aus dem Raum der Gottvergessenheit und ein in die Verheissung der Gottesgegenwart im Raum des Gedenkens. Solches Gedächtnis ist für die Bibel nie nur psychologisch, es überschreitet die Grenzen des blossen Bewusstseins, es führt vielmehr vor das Angesicht Gottes, der seine Heilstaten auch jetzt als gültig aufleuchten lässt. Denn er ist der treue Gott. Allerdings ist dies kein Automatismus, über den man verfügen könnte. Die Anrufung des Namens Gottes im lobpreisenden Gedächtnis seiner Taten bittet ihrerseits darum, dass Gott seiner Taten gedenken möge: In der Verschränkung von göttlichem und menschlichem Gedenken aber geschieht die Gegenwart des Heils. Unser Psalm zählt nun nicht viele verschiedene Taten Gottes auf, sondern die eine grundlegende mit ihrem zweifachen Aspekt: Befreiung aus Ägypten und Einzug in das Land der Verheissung, angedeutet durch den doppelten Durchzug durch Meer und Fluss (V 6). Sie wird aufleuchtende Gegenwart für den, der gedenkt. Sie ist das Urmodell, das immer neu in Geltung gesetzt wird, so dass die damalige Freude in die Freude der Gegenwart überzugehen vermag (ebd.). Hier wird dann auch die Wir-Perspektive ausdrücklich, die bislang nur implizit gegenwärtig war. Sie war natürlich schon da: Denn einen solchen Hymnus singt nur, wer von den Taten betroffen ist, von denen er singt; besonders gilt dies von der Aufforderung zum universalen Lobpreis, der nur so möglich ist. Sonst wäre er Lüge.

Immer neu: Freiheit und Leben

Aber zuerst in V 6, dann aber vor allem im zweiten Teil unseres Liedes (VV 8–12) wird sie ausdrücklich: Aus der Er-Perspektive des Hymnus, die von sich wegblickt auf den grossen Gott, wird die Wir-Du-Perspektive des Danklieds. Man hat sich gefragt, ob hier wiederum der Exodus gemeint ist oder nicht vielleicht eher der neue Exodus der Rückkehr aus dem Exil. Letzteres mag jedenfalls anklingen, in jedem Fall aber nehmen die VV 10–12 das Grundmodell des Exodus aus dem ersten Teil auf – und zwar eben gerade als Modell, hineingenommen in die Gegenwart des ekklesialen «Wir». Es scheint mir also müssig, eine bestimmte Situation zu suchen. Es geht viel mehr darum, dass Gottes befreiendes Handeln immer wieder im Grundmodell des Exodus geschieht: Prüfend und läuternd führt Gott in die Freiheit und ins Leben (vgl. V 9: «Er übergab uns dem Leben» übersetzt wunderbar Alfons Deissler).

Dieser immer neue Exodus aber führt in den Schlussversen des individuellen Danklieds (VV 13–20) wie im Moselied (Ex 15, vgl. dort besonders VV 13 + 17) in das Heiligtum des Jerusalemer Tempels. Was aber dort vom ganzen Gottesvolk ausgesagt wird, ist hier zugespitzt in die Existenz eines einzelnen Menschen: Hier soll das Geschehen der Befreiung und der Weg ins Leben letztlich ankommen. Hier wird es zur Toda, zum Dankopfer. Nicht gegen das ekklesiale «Wir», aber niemals ohne das Herz jeder und jedes Einzelnen.

Vieles wäre noch zu sagen – vor allem über die christologische Dimension des Psalms und wieso ihn schon die Septuaginta einen Psalm der Auferstehung nennt – aber die beste Auslegung des Psalms hat ohnehin die Liturgie gegeben. Eine der – wie ich finde – schönsten Orationen der Osternacht, aus der stadtrömischen Tradition der Altgelasiana, lautet:

«Gott, deine uralten Wunder leuchten noch in unseren Tagen. Was einst dein mächtiger Arm an einem Volk getan hat, das tust du jetzt an allen Völkern: Einst hast du Israel aus der Knechtschaft des Pharao befreit und durch die Fluten des Roten Meeres geführt; nun aber führst du alle Völker durch das Wasser der Taufe zur Freiheit. Gib, dass alle Menschen Kinder Abrahams werden und zur Würde des auserwählten Volkes gelangen.»

Deshalb können die Völker einstimmen in den Lobpreis Israels. Denn Gottes uralte Taten leuchten noch heute und schenken Leben und Freiheit.

Anmerkung der Redaktion: Zu Psalm 47 des Hochfestes Christi Himmelfahrt – identisch im Lesejahr A und C – siehe: SKZ 175 (2007), 284 (Martin Brüske).