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Unterwegs sein und ankommen   

Josef-Anton Willa zum Antwortpsalm (Psalm 23) am 4. Ostersonntag SKZ 14-15/2008

«Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir diesen Trost nicht gegeben, den mir dies Wort der Bibel gab.» Immanuel Kant spricht hier von Psalm 23, der am 4. Ostersonntag als Antwortpsalm vorgesehen ist. Das biblische Lied zählt zu den bekanntesten Psalmen und zu den beliebtesten Bibelversen überhaupt.

Die archaischen Bilder des Psalms (grüne Auen, Wasser, Pfade, finstere Schlucht, gedeckter Tisch usw.) entsprechen grundlegenden menschlichen Erfahrungen und Hoffnungen und begleiten darum bis heute viele Menschen durch persönliche Lebenssituationen. Die christliche Liturgie verwendet den Psalm häufig, denn in ihm begegnen wir Motiven der Taufe und Eucharistie. Im Lesejahr A kommt er gleich an vier Sonntagen vor.

Vertrauenslied

Psalm 23 bildet eine kunstvolle, in sich geschlossene, sechs Verse umfassende Einheit und kann als Vertrauenslied sowohl eines einzelnen Beters als auch der Gemeinschaft des Gottesvolkes gedeutet werden. Er gliedert sich in zwei Teile, die wiederum je zwei Abschnitte umfassen. Im ersten und letzten Abschnitt (V. 1–3 bzw. V. 6) redet der Psalmist von Gott in der 3. Person, wobei Motive der Ruhe und Geborgenheit vorherrschen. In den mittleren Abschnitten (V. 4 u. 5) wendet sich der Beter direkt an Gott und spricht auch die Gefährdungen seines Lebens an. Der Psalm als Ganzer ist vom Unterwegssein und Ankommen geprägt. Im Hintergrund stehen die Weg-Erfahrungen des Volkes Israel: der Auszug aus Ägypten (mit der Wanderung durch die Wüste ins verheissene Land) und die Rückkehr aus dem babylonischen Exil.

Gott als Hirte

Eröffnet wird der Psalm mit einem Bekenntnis des Beters zu Jahwe, und damit implizit gegen andere Götter und Mächte: «Der Herr ist mein Hirt» und niemand sonst. Das Bild des Hirten wurzelt in der Lebenswelt der israelitischen Halbnomaden, die in den Sommermonaten unterwegs waren auf der Suche nach Weideplätze für ihre Herden. Das war mit zahlreichen Schwierigkeiten und Gefahren verbunden. Hirte zu sein hatte nichts Idyllisches an sich, sondern erforderte viel Geschick und einen hohen Einsatz. Im Alten Orient wurden Könige und Herrscher als Hirten bezeichnet, denn sie sollten ihr Volk sicher leiten und für dessen Wohl sorgen.

Von den orientalischen Völker hat nur Israel das Bild des Hirten auf Gott übertragen. Das biblische Volk hat Gott immer wieder als guten, verlässlichen Hirten erfahren. Er handelt so, wie es seinem Namen (d. h. seinem Wesen) entspricht (V. 3), so wie er sich Mose offenbart hat: als ein Gott der da ist und mit seinem Volk mitgeht (V. 4). Entsprechend steht der Gottesname am Beginn und am Ende des Psalms.

Einmalig für das Alte Testament ist die persönliche, intime Gottesbeziehung, die in Psalm 23 mit der Bezeichnung «mein Hirte» zum Ausdruck gebracht wird. Diese Vertrautheit finden wir auch im Evangeliumsabschnitt des 4. Ostersonntags, wo Jesus vom Hirten sagt: «Er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen . . . die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme» (Joh 10,3.4). Parallel zur Ausschliesslichkeit, die im ersten Psalmvers zum Ausdruck kommt, versteht Jesus sich selbst als der gute, d. h. der richtige, (einzig) wahre Hirt (Joh 10,11.14; vgl. den Ruf vor dem Evangelium), der sogar sein Leben für seine Schafe einsetzt (Joh 10,11). Mit dem Hirtenmotiv bereitet der Antwortpsalm auf die nachfolgenden Lesungen vor.

Durch den Tod zum Leben

Dass der Beter des Psalms Gott als treuen Hirten erfährt, bedeutet nicht, dass er selber passiv bliebe und nur blindlings zu folgen hätte. Ab Vers 4 wird er selber aktiv. Das Vertrauen in Gott, der ihm zur Seite steht, macht ihn erst wirklich handlungsfähig. Er schreckt nicht zurück vor der «finsteren Schlucht», sondern geht mutig hindurch. Er stellt sich der Alltagswirklichkeit, tritt den Widerwärtigkeiten des Lebens, dem Lebensfeindlichen, Tödlichen entgegen (V. 5).

Die Christen verbinden das Bild vom Durchschreiten des dunklen Tales mit dem Pascha Jesu und dem Geschehen der Taufe. Wie Jesus Christus den Weg durch Leiden und Tod zur Auferstehung gegangen ist, so wird auch der Täufling mit Christus begraben, um zur Fülle des Lebens zu erstehen (vgl. Röm 6,4).

Gott als Gastgeber

Im zweiten Teil des Psalms ändern sich die Bilder und Rollen. Gott wird vom Hirten zum Gastgeber, der Beter ist nicht mehr das Schaf, das vor oder hinter dem Hirten herläuft; er erfährt sich als ehrenvoller Gast, dem sich der Gastgeber zuwendet. Der Beter ist angekommen im Haus Gottes, wo ihn ein üppiges Festmahl erwartet (V. 5).

Gemäss altägyptischen Zeugnissen wurde dem Gast beim festlichen Mahl ein so genannter Salbkegel mit Öl auf den Kopf gebunden. Im Laufe des Mahls erfrischte und kühlte das herabfliessende Öl das Haupt des Gastes und strömte einen wohlriechenden Duft aus. Eine solche Wohltat empfängt der Beter des Psalms. Gott erhöht den von «Feinden» Bedrängten und Niedergedrückten.

Mit Öl gesalbt wurden im Orient aber auch Könige, Priester und Propheten bei der Einsetzung in ihr Amt. Der Beter, der dem Hirten gefolgt ist, wird nun selber zum Hirten! Eine christologische Deutung des Psalms sieht im Beter Jesus Christus, den Gesalbten Gottes (Lk 4,18). Seinem Gebet schliessen sich die Christgläubigen an, die durch die Taufe mit Christus «königliche» Würde erhalten haben.

Hinausgehen – zurückkehren

Im letzten Abschnitt des Psalms (V. 6) blickt der Beter in die Zukunft. Gestärkt wagt er sich wieder ins Leben hinaus im Wissen um die ständige Begleitung Gottes und um die Möglichkeit, im Haus des Herrn zu «wohnen» (oder nach genauerer Übersetzung: ins Haus des Herrn zurückzukehren). «Lange Zeit» meint die (unendliche) Zeit Gottes, die menschliches Zeitmass übersteigt. Hier wird Hoffnung geweckt auf eine dauerhafte Heimat bei Gott über den Tod hinaus. In dieser Perspektive versinnbildlicht der gedeckte Tisch im Haus des Herrn die vollendete, ewige Tischgemeinschaft mit Gott im Himmel. Für die Christen wird diese Gemeinschaft vorweggenommen in der Feier der Eucharistie, zu der sie als Getaufe immer wieder eingeladen sind und «zurückkehren».

Dem Hirten und Gastgeber nachfolgen
Psalm 23 ist ein «epiphanisches Gedicht» (Paul Konrad Kurz). Ein rein analytischer Zugang wird ihm nicht gerecht. In ihm scheint eine tiefgründige Glaubenswirklichkeit auf, die auch heute die Menschen ergreifen will. Wenn die christliche Gemeinde diesen Psalm im Gottesdienst singt, geht sie mit dem Psalmbeter mit und hat Anteil an der langen Geschichte des Heils zwischen Gott und seinem Volk. Sie kann im Psalm Trost finden und Kraft für ihre eigene Berufung, in der Nachfolge des einzig wahren Hirten selber gute Hirtin und Gastgeberin für andere zu sein.

Psalm 23 als Gesang

Die liturgische Bedeutung von Psalm 23 kann eigentlich nur angemessen zum Ausdruck kommen, wenn der Psalm gesungen wird. Für die Ausführung des Antwortpsalms bietet das Kirchengesangbuch leider nur das Modell einer Gemeindepsalmodie an (KG 611). Eine Vortragspsalmodie (nach Eugen Ruckstuhl / Bruno Zahner aus dem KGB-Vorsängerbuch) mit dem Leitvers KG 641 findet sich im Cantionale, doch fehlen darin einige wichtige Textaussagen. Für weitere geeignete Singweisen des ganzen Psalms muss man andere Kantorenbücher heranziehen (z. B. Münchener Kantorale). Als Kehrvers eignet sich auch der Kanon KG 556.

Das Kirchengesangbuch enthält zwei Lieder zu Psalm 23: KG 545 ist eine textgetreue, KG 555 eine freiere Psalmparaphrase. Letztere wurde als Kinderlied gedichtet und verzichtet weitgehend auf die Bilder aus der Hirtenwelt. Motive aus Psalm 23 finden sich auch in anderen Kirchenliedern, etwa im Gesang zum Taufgedächtnis «Du öffnest, Herr, die Türen» (KG 37,2) oder im Osterlied «Halleluja, lasst uns singen » (KG 454,3). Auch das Lied «Du bisch bi mir» aus der Kinderliedsammlung «Liechtblick» (Nr. 5) nimmt Bezug auf Psalm 23.

Dr. theol. Josef-Anton Willa ist Mitarbeiter am Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz in Freiburg.