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Peter Spichtig zum Antwortpsalm am Ostersonntag SKZ 11/2008

Psalm 118 und Sequenz

Die Sequenz als mystagogische Hinführung zur Osterbotschaft
Vorbemerkung:

Die aktuelle Auslegungsreihe der SKZ widmet sich den alttestamentlichen Texten. In der Osterzeit tritt an die Stelle der alttestamentlichen Lesung die Apostelgeschichte. Auch dieses Jahr ist dies Anlass, den alttestamentlichen Antwortpsalm exemplarisch zu erschliessen. Diese Aufgabe wurde wiederum dem Liturgischen Institut übertragen.

Der Antwortpsalm der Festmesse an Ostern ist derselbe in jedem Lesejahr und wurde letztes Jahr bereits besprochen (SKZ 175 [2007], Nr. 13, 216; vgl. auch die Erwägungen zu Ps 118 als Lieddichtungen in Nr. 14-15, 234). Deshalb sei an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf die Sequenz gerichtet.

Vom Jubilus zum Kirchenlied: die Sequenz
Die Messgesangsgattung Sequenz ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. Am Anfang steht der Jubilus, der improvisierte, später notierte ausladende Melodieschluss über dem letzten a des Halleluja-Verses. Diese «Fortsetzung» (sequentia) wird in spätkarolingischer Zeit mit Texten unterlegt, die sich zunehmend vom Halleluja emanzipieren (wichtigstes Zentrum: St. Gallen). Anfänglich für die Festtage gedichtet, verbreiten sie sich im Spätmittelalter immer mehr und gehören fortan zu praktisch jeder Messe. Die Popularität dieser Gattung ist denn auch Wurzelgrund der deutschen Kirchenliedtradition. Die Fülle der tausenden Sequenzen wird durch die Tridentinische Liturgiereform jäh auf die verpflichtenden an Ostern und Pfingsten und die fakultativen an Fronleichnam und der Totenmesse hinuntergestutzt. Das Stabat Mater kommt 1727 als fünfte noch hinzu. Im Messbuch von 1975 wurde die Sequenz nunmehr vor das Halleluja gesetzt.

Victimae paschali laudes – Aufbau und Inhalt
Die Ostersequenz ist die älteste der übernommenen Sequenzen. Sie wird Wipo von Burgund zugeschrieben, der kurz vor 1000 bei Solothurn geboren wurde und um 1050 als Eremit starb. Seine Sequenz ist heute integraler Bestandteil des Wortgottesteils der Messe am Ostermorgen. KG 433 bietet den lateinischen Text mit der überlieferten Melodie. Ein deutscher Text fehlt dort. Im Lektionar ist eine moderne, recht freie Übersetzung abgedruckt (EGB 1972).

Die Dichtung verbindet thematisch das Lob des Paschalammes mit der Visitatio se pulchri. Eine einleitende Strophe ruft die Christen auf zum Osterlob (zum Lobopfer vgl. Ps 50,14 und Heb 13,15). Ein erstes Strophenpaar (2./3.) verdichtet das Ostergeschehen. Die Begrifflichkeit ist vorerst biblischer Theologie entnommen: Lamm, Schaf, Schuld, versöhnen, Sünder, Vater. Die poetische dritte Strophe spitzt das dramatische Bild des Zweikampfes zwischen Tod und Leben auf ein Paradoxon zu: der starb, herrscht nun – lebend. Das zweite Strophenpaar (4./5.) ist auf einer völlig anderen Ebene situiert, was auch durch die tiefer liegende Melodieführung unmittelbar deutlich wird. Wir, die Mitfeiernden, befragen hierin (4.a) die Zeugin der Auferstehung, Maria von Magdala, nach ihrer Ostererfahrung. Diese antwortet (4.b, 5.) mit einer antizipierenden Zusammenfassung des Osterevangeliums, das ja gleich darauf verkündet werden wird (im Lektionar sind zwei Verspaare vertauscht: «Sah Engel ...» muss nach «... umflossen» stehen).

Vom abschliessenden Strophenpaar (6./7.) ist der erste Teil weggefallen. Der deutlich antijüdische Akzent dieses Vers paares hatte bereits 1570 (!) zu dessen Tilgung geführt: Credendum est magis soli Mariae veraci quam Judaeorum turbae fallaci. Die entstandene Lücke brach somit die ursprüngliche Text- und Melodiestruktur auf. Diese muss nunmehr so verstanden werden: a-b-b-c-c-d. Eine Eingangs- und eine Schlussstrophe rahmen zwei inhaltlich stark profilierte Strophenpaare ein, wobei der Schluss (d) sich melodisch nahe an 4./5. (b-b) anlehnt. Im deutschen Text hingegen hat man mit einer Neufassung der 6. Strophe den Versuch unternommen, die Struktur beizubehalten: «Lasst uns glauben, was Maria den Jüngern verkündet. Sie sah den Herren, den Auferstandenen.» Mit den Juden fällt auch der Komparativ weg. Aus dem Material der 4. Strophe wird Maria nochmals als die Zeugin der Auferstehung herausgestellt. Diese Textfassung ist mit der dafür angepassten ursprünglichen Melodie (etwas holprig zwar) zum Singen eingerichtet worden (GL 216). Die abschliessende Strophe formuliert das Osterbekenntnis in deutlicher Abhängigkeit zum Griechischen Ostergruss «Christos aneste!»

Mystagogisches Osterkerygma
Beim genaueren Hinsehen erschliesst sich einem die Komposition der Sequenz als Hinführung zum Osterevangelium. Auf den Aufruf zum Lob (1.) folgt die Begründung (2./3.). Diese ist wohl bibeltheologisch ausgesagt, aber eben doch theologisch. Und als wenn es der Aussage im Augenblick der Behauptung klar würde, dass sie spekulative Theologie bleibt, evoziert sie das Bild des Zweikampfes von Tod und Leben. Das tut ganze Fässer an suggestiven Bildern auf; jede Seite der Bibel variiert dies Thema. Auf den poetischen Punkt gebracht, konfrontiert das Kerygma der dritten Strophe die Mitfeiernden mit diesem Lebenden: «der Fürst des Lebens – gestorben – herrscht jetzt lebend!» – Präsens. An dieser Stelle nun (4./5.) befragen wir die Zeugin. Hier geschieht Verschränkung der Zeit. Das Dies ist der Tag (Kehrvers des Antwortpsalms) ist ernst genommen. Die Feier der Mysterien kennt keinen Chronos, im Feiern ist synchrone und diachrone «katholische» Gemeinschaft durch Christus. Maria kann und will uns also direkt Auskunft geben. Der Duktus der Sequenz hat uns inzwischen dahin gebracht, selber zu Zeugen der Auferstehung zu werden. Vom anfänglichen Aufgefordert-werden hat uns die Sequenz – «geerdet» durch die uns direkt ansprechende Apostelin der Apostel – zum Bewusstsein der Zeitgenossenschaft mit dem Lebenden gebracht, sodass wir am Schluss in das Wir der Bekennenden hineingenommen sind.

Das sich sofort anschliessende Halleluja erscheint nun evident. Der Boden ist bereitet zur fruchtbaren Aufnahme der an uns gerichteten Osterbotschaft (jetzt zwingend in der langen Fassung!).

Rezeption im deutschen Kirchenlied
«Christ ist erstanden» (KG 436), dem ältesten erhaltenen deutschen Kirchenlied überhaupt, ist die Abhängigkeit von der Ostersequenz unmittelbar anzuhören (vgl. auch KG 439!). Eine Kombination beider Gesänge drängt sich förmlich auf und kann die Sequenz zur fruchtbringenden, gemeinschaftlich vollzogenen Vorbereitung auf das Osterevangelium werden lassen. Indem nach der 3. und nach der 5. Strophe und am Schluss je eine Strophe von «Christ ist erstanden» eingefügt wird, endet die nun wechselgesangliche Sequenz mit der Halleluja-Strophe der ganzen Gemeinde.

Sequenz und Gotteswort
Sequenz ist Dichtung. Deshalb habe sie, so könnte man puristisch argumentieren, im Wortgottesteil der Liturgie nichts zu suchen. Der «Kahlschlag» von 1570 ist denn sicher auch als Ausdruck einer Übersättigung von (allzu) subjektiver Frömmigkeit im Kontext der zentralen Feier der Liturgie der Kirche zu werten. Obige Analyse hat aber vielleicht auch zeigen können: gute Dichtung kann mystagogische: zum Mysterium hinführende Wirkung entfalten.

P. Peter Spichtig op, lic. theol., ist Leiter des Liturgischen Instituts der deutschsprachigen Schweiz in Freiburg.