Wir beraten

Über Glück, Gegenwart und Gottesraum   

Martin Brüske zum Antwortpsalm am 3. Ostersonntag SKZ 12-13/2008

Der Mensch vor Gott in Psalm 16
Darf ich persönlich beginnen? Der ehemalige Abt der Benediktinerabtei Hagia Maria Sion in Jerusalem, Nikolaus Egender, hat mir einmal gesagt, der Kern der benediktinischen Spiritualität lasse sich in einem einzigen Punkt zusammenfassen: Sie sei «Kult der Gegenwart Gottes». Im benediktinischen Mönchtum gehe es nicht um ausserordentliche Übungen und aussergewöhnliche mystische Erlebnisse, sondern der Sinn des monastischen Lebens sei ganz einfach immer tiefer hineinzuwachsen in Gottes Gegenwart, vor seinem Angesicht zu leben, für sie wahrnehmungsfähig zu werden, sensibel, achtsam und transparent. Nun, das ist über zwanzig Jahre her. Aber es hat mich so beeindruckt, dass mich dieses Stichwort auch für meinen eigenen spirituellen Weg nicht mehr losgelassen hat, auch ausserhalb benediktinischer Klostermauern. Denn ist es nicht eine gültige Umschreibung christlicher Existenz oder besser gesagt: des Zieles, zu dem der Weg christlicher Existenz führen soll, ein Leben in Gottes Gegenwart zu führen? Die monastische Lebensform ist «nur» eine besonders deutliche, zeichenhaft sichtbare Weise diesen Weg zu gehen. Aber genau darauf macht sie uns dann auch aufmerksam: Dass es eine Lebensform braucht, auch ausserhalb von Klostermauern, damit Gott Raum gewinnen kann in unserem Leben. Wir haben das leider vielfach vergessen. Ist das möglicherweise einer der Gründe, wieso das Christentum der westlichen Welt in einer so fundamentalen Krise steckt? Ich glaube, es ist ein zentrales Merkmal eines verbürgerlichten Christentums, dass es in diese Amnesie geraten ist: Es hat vergessen, dass christliche Existenz die Kontur einer unterscheidbaren Lebensform braucht, um gelingen zu können. Nur wenn Christenmenschen (eben nicht nur Mönche und Nonnen) im «Kernbereich» solche Lebensformen in ihrer Eindeutigkeit und Verbindlichkeit zu verwirklichen versuchen, kann es auch eine liebevolle Offenheit geben für all die religiösen Tast- und Gehversuche, die es in unserer Kultur und Gesellschaft gegenwärtig gibt, ohne dabei in die Beliebigkeit zu geraten.

Die spirituelle Logik von Ps 16
Manche Leserin und mancher Leser mag sich fragen, was diese persönlichen Bemerkungen nun mit Ps 16 zu tun haben. Aber eigentlich ging es schon die ganze Zeit um genau die spirituelle «Logik», die unseren Psalm bestimmt. Denn der V 8 ist sein Zentrum, um den er sich bewegt. Darauf führt er von Anfang an hin – und von hier aus ergeben sich die Spitzenaussagen am Schluss. Er lautet: «Ich habe den Herrn beständig vor Augen. Er steht mir zur Rechten, ich wanke nicht.» – Kult der Gegenwart Gottes, «Stetigkeit des Gottesbewusstseins», wie das Manfred Oeming auf den Punkt bringt. Und: Thomas Ruster hat in einem seiner letzten Bücher zu Recht auf die Entsprechung aufmerksam gemacht zwischen den monastischen Lebensformen der Christenheit und jüdischer Existenz aus der Lebensweisung der Tora. Genau aber um solche Lebensform, die den Raum öffnet, in der Gottes Gegenwart sich ereignen, ja «verstetigen» kann, in der schliesslich Gottes Gegenwart selbst zum Lebensraum wird, geht es in unserem Psalm. Aber sehen wir zu!

Glück und Schmerz
V 1 ist schon Exposition des Ganzen: Er bittet um Behütung und Bewahrung durch den Gott, dem die Beterin oder der Beter sich anvertraut, zu dem sie/er Zuflucht genommen hat. Denn was nun folgt, ist eigentlich nur die Entfaltung dessen, was diese beiden Punkte enthalten: Sich vertrauend auf Jahwe zu verlassen und von ihm bewahrt zu werden. Es wird verdeutlicht, was dies als Lebensform bedeutet und wo ein solches Leben hinführt. Aber obwohl damit bereits das Ganze des Psalms exponiert ist, bringen V 2 und V 4 doch noch jeweils ein Stichwort, die für die ganz besondere Perspektive von Ps 16 kennzeichnend sind: Glück und Schmerz. Die positive Perspektive ist dabei vollkommen dominierend und überwölbt den ganzen Psalm (besonders deutlich V 6 und in Kulmination V 11), während der Schmerz, der hier Folge und Ausdruck verfehlter Existenz ist, eigentlich nur einmal in V 4 auftaucht. Dennoch hat er die wichtige Funktion, der Glücks perspektive sozusagen die unterscheidende Kontur zu geben. Denn sie beruht auf einer Entscheidung, in der es um das Gelingen und Misslingen menschlichen Lebens geht.

Die Verse 2–4 könnte man dann genauer unter die Stichworte «Bekenntnis – Communio – Absage» bringen: Bekenntnis zu Jahwe als einzigem Glück, Communio des Gottesvolkes, Absage an die Götter. Wie schon angedeutet, werden Bekenntnis und Absage in der besonderen Perspektive von Glück und Schmerz, Gelingen und Misslingen des Lebens formuliert. Was sich aber in dem Rhythmus von Bekenntnis – Communio – Absage und in der Perspektive des Glückens menschlichen Lebens vollzieht, ist so nichts anderes als die letzte, alle anderen begründende Grundunterscheidung der Tora, die Unterscheidung zwischen dem einen Gott Israels und den Göttern, die Unterscheidung von Gott und Welt, die Unterscheidung zwischen Gott und den Götzen. Sie zu vollziehen ist Israel tagtäglich aufgegeben, sie bringt die Communio des Gottesvolkes hervor – V 3 meint genau dies; die Heiligen sind nichts anderes als die Gemeinschaft derer, die die Grundunterscheidung der Tora tagtäglich vollziehen und so geheiligt sind –, sie eröffnet den Raum des Lebens vor dem Angesicht Gottes. Es ist also der Monotheismus des ersten Gebots, der sich hier spiegelt, der nicht primär eine theoretische Aussage macht, sondern ein Monotheismus der Praxis ist und zwar ein Monotheismus tagtäglicher Unterscheidung, die für Christinnen und Chris ten genau so verbindlich ist wie für Jüdinnen und Juden.

Die Besonderheit unseres Psalmes aber liegt nun eben darin, dass er diesen Monotheismus der Praxis mit allem Nachdruck in die Perspektive des Glücks und gelingenden Lebens stellt. Denn: Der Gott, vor dem zu leben beginnt, wer diese Unterscheidung tagtäglich vollzieht und so lebensförmig werden lässt, ist selbst das Glück und die Erfüllung des Menschen. Wenn dieser Gott V 2 dann mit «Du bist mein Herr» angeredet wird, dann hat dies schlechterdings nichts mit patriarchalen Gottesvorstellungen zu tun, sondern sagt hier: Ich lasse mich von dem ganz und gar bestimmen, der mein Glück, meine Wonne und meine Freude ist. Von ihm lasse ich mir – V 5–6 greift die Wendung von V 2 auf – Erbe und Becher, Los und Land zuteilen. Hier wird die Praxis der Landvergabe zur Metapher für die Existenz des Frommen. Wie beim Leviten ist sein Anteil Gott selbst. Gott selbst ist das schöne Land: Der gegenwärtige Gott wird zum «Lebensraum» für den, der die Tora der Unterscheidung zu seiner Lebensform macht. Aus dem Bekenntnis von V 2 – «Ich sage» – wird nun in V 6 Doxologie: «Ich preise.» Im Raum der Doxologie, die aus der angenommenen Lebensweisung aufbricht, aber schenkt sich Gottes Gegenwart in besonderer Weise: Gott steht an der Seite der/des Betenden, d. h. in der so sich öffnenden Gegenwart geschieht die erbetene Behütung vom Anfang des Psalms. Die Lebensform der Tora will in solche Gegenwart einüben und einweisen. Sie wird so zum Pfad des Lebens, der vor Gottes Angesicht endet: Freude in Fülle, Endgültigkeit der Bewahrung von Herz, Seele und Leib, anhebend im Heute – open end: Auferstehung von Toten.

Martin Brüske ist freier Mitarbeiter des Liturgischen Instituts der Deutschschweiz in Freiburg.

Anmerkung der Redaktion:Zu Psalm 118 des 2. Ostersonntags – sowohl im Lesejahr A und C vorgesehen – siehe: SKZ 175 (2007), 234 (Gunda Brüske).