Wir beraten

Jeden Morgen üben   

Peter Zürn zur Lesung am Palmsonntag SKZ 10/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 50,4–7
Evangelium: Mt 26,14-27,66 oder 27,11-54

Mit Israel lesen

Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen den ersten Vers des Lesungstextes etwas anders als die Einheitsübersetzung (EÜ):

«Gegeben hat ER, mein Herr, mir eine Lehrlingszunge. Dass ich wisse, den Matten zu ermuntern, weckt er Rede am Morgen. Am Morgen weckt er das Ohr mir, dass ich wie die Lehrlinge höre.»

Zweimal kommt die Zeitangabe «am Morgen» vor, zweimal wird geweckt, einmal eine Rede, einmal das Ohr. Diese Übersetzung kommt dem hebräischen Urtext näher, in dem sich die Worte «am Morgen» (baboqär) und «er weckt» (ja’ir) wirklich je zweimal finden. Der Doppelausdruck «baboqär baboqär» lässt sich mit «Morgen für Morgen» oder «jeden Morgen» übersetzen, aber warum weckt Gott zweimal?

Die rabbinische Auslegung geht davon aus, dass ein Wort, das mehrmals vorkommt, etwas besonders Wichtiges zum Ausdruck bringt. Das zweimalige Wecken ermöglicht das Sprechen und das Hören, also ein Gespräch. Von Rabbi Naftali von Robschitz ist folgender Ausspruch über ein inneres Gespräch am Mor gen überliefert: «Wenn ich mich in meiner Kindheit anschickte, früh zum Morgengebet aufzustehen, kam die böse Neigung zu mir und flüsterte mir liebevoll ein: ‹Warum beeilst du dich so? Draussen ist ja noch Nacht. Ausserdem ist es heute sehr kalt. Lass dir Zeit. Schlafe noch ein wenig›. Dann wandte ich mich gegen sie und sagte zu ihr: ‹Rede doch nicht so daher! Du bist ja selbst schon voll bei der Arbeit›.»2

Eines solchen Vaters Kind zu sein, ist vermutlich nicht einfach. Aber Gott weckt auch das Ohr der Kinder, damit sie ihren Eltern genau zuhören können, und er weckt stärkende Reden. Das erfährt Rabbi Naftali als er seinen zehnjährigen Sohn rügt: «Was du da getan hast, war nicht gut!» – «Vater, ich konnte nicht anders. Die böse Neigung war stärker als ich!» – «Richtig, da kannst du dir an ihr ein Beispiel nehmen: Sie verrichtet treu die Arbeit, zu der sie erschaff en wurde.» – «Ja, aber sie wird auch nicht von einer bösen Neigung daran gehindert, ihre Aufgabe zu erfüllen!»3

Das ist ein Lehrgespräch. Der Rabbi lehrt seinen Sohn klare Werte und Unterscheidungen: «Was du getan hat, war nicht gut.» Er lehrt ihn auch, die Verantwortung für das eigene Tun nicht abzugeben: «Die böse Neigung war stärker als ich.» Aber gleichzeitig lehrt er ihn mit- und weiterzudenken. Er hört zu und geht auf die Rede seines Sohnes ein. Das aufgeweckte Kind lehrt seinerseits den Rabbi, dass das Leben mit den verschiedenen vorhandenen oder fehlenden Neigungen oftmals noch eine Spur komplizierter ist als zunächst gedacht. Das kurze Gespräch ist ein Modell für die Auseinandersetzung mit dieser Komplexität. Beide sind dabei hellwach und gehen gestärkt daraus hervor.

Beide Beteiligte am Gespräch lehren und lernen, wie es für das jüdische Verständnis ganz wesentlich ist. Das kommt auch im Lesungstext zum Ausdruck: Es ist die Zunge eines Lehrlings, die den Matten ermuntert. Im Hebräischen steht an dieser Stelle das Wort «limudim». Die aramäische Übersetzung der Bibel, das Targum, verwendet dafür den Ausdruck «Lehrer – malfin». Rabbi Salomo ben Isaak (Raschi) übersetzt: «Eine Zunge, die zu unterrichten vermag.» Limudim sind also gleichermassen Lehrende und Lernende. Sie haben gemeinsam, dass sie auf das Üben angewiesen und unterscheiden sich allenfalls im Grad ihrer Geübtheit. Denn Rabbi Salomo Ibn Melech schreibt: «Bei limudim handelt es sich um ‹Lernen und Übung›». Entsprechend heisst es in einem Kommentar zum Jesajabuch von A. B. Ehrlich: «Limudim heisst nicht Jünger, sondern Geübte, in diesem Zusammenhang speziell in Reden Geübte».4

Hier wird das Üben hoch geschätzt und damit auch das Unvollendete und Vorläufige, aber auch der Lernprozess, das immer wiederkehrende Einüben – baboqär baboqär – zu dem das Fehlermachen und daraus lernen wesentlich dazugehört. Lehren und lernen bekommen die Zeit und den Freiraum, die sie eben brauchen und die heute immer weniger gewährt wird, weil die Schnelligkeit von Resutalten über alles geht und nur die möglichst perfekten Siegerinnen und Sieger wahrgenommen werden.

Die geübte Zunge stärkt. Rabbi Kimchi und Raschi bringen das hebräische Verb «la’ut –» in Verbindung mit «et – Zeit» und schreiben: ««la’ut meint, etwas zu seiner Zeit tun» (Kimchi), «sich Zeit für eine Sache einrichten» (Raschi). Um bestärkend zu wirken, braucht es (die richtige) Zeit. Es geht nicht in Eile und nicht zu jeder Zeit.

Wer sind die «Müden», die gestärkt werden sollen? In der jüdischen Auslegung sind es die Glaubensmüden, die Resignierenden. «Leute, die der prophetischen Reden überdrüssig geworden und des langen Wartens auf die Erfüllung der Verheissungen Gottes müde sind» (A. B. Ehrlich) bzw. «die Leute, deren Kraft wegen der Leiden des Exils verbraucht sind» (A. Chacham).5 Der Weckruf am Morgen ist offensichtlich nicht nur für Menschen wichtig. Es stellt sich die Frage, ob angesichts der Leiden nicht auch Gott geweckt werden muss. Die Psalmen sprechen immer wieder von einem morgenlichen Anruf an Gott (Ps 5,4; 88,14). Ps 44,23–24 ruft es klagend aus, in Worten, die den Gottesknechtsliedern nahekommen, zu denen ja der Lesungstext gehört: «Um deinetwillen werden wir getötet Tag für Tag / behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. Wach auf! Warum schläfst du, Herr? / Erwache, verstoss nicht für immer.»

Diese Verse wurden im Jerusalemer Tempel täglich von einer besonderen Sängergruppe, den «Weckenden» (me’or’rin) gesungen. Das Ritual wurde erst unter dem Hohenpriester Johannes Hyrkanus (135–104 v. u. Z.) abgeschafft, mit der Begründung: Gott, der nicht schläft (Ps 121,4), kann auch nicht aufgeweckt werden. Abgeschafft. Davon berichtet die Mischna im Traktat Sota, IX,10.

Die Vorstellung, dass Menschen Gott wecken, dass sie ihn wach- und zum Eingreifen aufrufen, entspricht einer wechselseitigen Beziehung, wie sie auch im Lehren und Lernen zum Ausdruck kommt: Gott und Mensch hören aufeinander, sprechen miteinander, lernen voneinander, sind aufeinander angewiesen, stärken einander. Dies gilt gerade angesichts der leidvollen Seiten des oft unverstehbar komplizierten Lebens und der trotzdem erhoff ten und eingeforderten Gerechtigkeit (vgl. Jesaja 50,8–9).

Mit der Kirche lesen

Am Palmsonntag, bei der Erinnerung an den Einzug Jesu nach Jerusalem, werden die Rufe der Menschen am Weg hörbar: «Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn» (Lk 19,38). Im Lukasevangelium sind es die Stimmen der Jünger Jesu. Hoffnungen auf die Erfüllung der Verheissungen, auf das Ende der Leiden, werden laut, Müde und Matte lassen sich wecken. Wieder werden Hoffnungen enttäuscht werden. Ein anderes Bild wird uns zugemutet, das des leidenden Gottesknechts aus Jesaja. Angesichts des Leidens und des Zerbrechens von Hoffnungen sprechen wir mit einer Lehrlingszunge, stammeln, sind bestenfalls Übende – baboqär baboqär. Wir stehen in Beziehung zu einem Gott, der unser Ohr weckt, damit wir genau hinhören und der geweckt werden will durch unser Rufen.

1 Die alttestamentliche Lesung des Lesejahres A ist identisch mit dem Lesejahr C, hier sei deshalb auf den Beitrag von Winfried Bader in: SKZ 175 (2007), 194, verwiesen.
2 Zitiert nach Viktor Malka: Sterne der Weisheit. Perlen jüdischer Mystik. Freiburg 2007, 72.
3 Ebd.
4 Alle Hinweise zur Übersetzung von limudim nach Roland Gradwohl: Bibelauslegung aus jüdischen Quellen Band II. Stuttgart 21995, 172 f.
5 Zitiert nach Gradwohl, Bibelauslegung, 175.