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Die Premiere des Christentums   

Wann hatte das Christentum Premiere? Wer spielte dabei die Hauptrolle(n)? Wie stand es mit dem Lampenfieber der Beteiligten? Diese Fragen zu beantworten ist nicht ganz einfach. Womit begann denn das Christentum? Mit Jesus von Nazaret, dem jüdischen Wanderrabbi, der keine neue Religion gründete, sondern dem Volk Israel den Gott der Bibel wieder neu vergegenwärtigte? Mit Paulus und den vielen anderen Apostelinnen und Aposteln, die die Botschaft vom Gekreuzigten und Auferstandenen zu den Menschen im Römischen Reich brachten und neue Wege suchten für die, die nicht aus dem Judentum stammten? Das Christentum hat nicht nur einen Anfang. Ich möchte die Frage nach der Premiere des Christentums aber trotzdem stellen und zwar so: Wann wurde zum ersten Mal nach aussen sichtbar, dass nach der brutalen Hinrichtung Jesu nicht alles zu Ende war, was er verkündet, wofür er gelebt und was er verkörpert hatte? Wann wurde öffentlich erkennbar, dass die Jesusbewegung in die Bewegung seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger einmündete, die verkündeten, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, dass Jesus Christus als Auferstandener unter ihnen lebt und die lebendige Kraft Gottes in ihnen weiterwirkt? Ich suche nach Antworten auf diese Fragen in den Schlusskapiteln der vier Evangelien. Wer spielt die Hauptrollen? Wo spielt die Szene?

Der Schlussakt der vier Evangelien

 Im ältesten Evangelium, nach Markus, sind es drei Frauen. Sie werden am leeren Grab mit der Botschaft konfrontiert, dass Jesus nicht tot, sondern auferstanden ist. Sie werden gemeinsam mit den anderen Jüngerinnen und Jüngern nach Galiläa verwiesen, dorthin, wo ihre Geschichte mit Jesus begann, zurück zum Anfang (Mk 16,1-8).
 Im Matthäusevangelium schicken die Frauen (es sind jetzt nur noch zwei) die Jünger nach Galiläa. Die Frauen selbst verschwinden ohne Angabe von Gründen aus der Geschichte. Die Jünger, die nachher als die Elf bezeichnet werden, erhalten auf einem Berg den Auftrag, die Botschaft Jesu zu allen Völkern in die Welt hinaus zu tragen (Mt 28).
 Im Lukasevangelium spielt sich alles in Jerusalem und der näheren Umgebung ab (Lk 24). Zwei Menschen auf dem Weg nach Emmaus werden besonders herausgestellt, die Elf und die anderen Jüngerinnen und Jünger sind in Jerusalem zusammen und versammeln sich immer wieder im Tempel zum Gebet.
 Das jüngste Evangelium nach Johannes folgt zunächst Lukas und bleibt in Jerusalem. Die Jüngerinnen und Jünger versammeln sich allerdings nicht im Tempel, sondern hinter verschlossenen Türen. Das später angefügte Schlusskapitel (Joh 21) spielt dann in Galiläa und hebt 7 Jünger – darunter fünf namentlich genannte Männer, besonders heraus. Die zwei Personen ohne Namen halten die Szene für weitere Mitspielende offen. Ihre Rollen können von den Leserinnen und Lesern – aus der Gemeinde des Johannes bis hin zu uns heute – übernommen werden.
Der Blick auf die Schlussszenen der Evangelien zeigt: Das Christentum hat nicht einen einzigen Anfang, keine einzelne Premiere, sondern mehrere, an verschiedenen Orten, bei denen unterschiedliche Personen die Hauptrollen spielten. Das Christentum war von Anfang an eine pluralistische Bewegung. Die Frage nach dem Anfang ist sogar noch komplexer, weil sich auch nach dem Tode Jesu zunächst noch alles innerhalb des Judentums abspielte, also Teil des noch grösseren jüdischen Pluralismus war. Die Trennung vollzog sich erst später in einem längeren Zeitraum über mehrere Generationen hinweg.

Die Premiere an Pfingsten

Besonders prägend für unsere Vorstellung vom Anfang des Christentums war der Evangelist Lukas. Er schreibt als Fortsetzung seines Evangeliums die Apostelgeschichte, die Apostel bekommen also die Titelrolle. Zu den Aposteln rechnet Lukas die zwölf Jünger (nach dem Tod des Judas wird Matthias in diesen Kreis gewählt) und Paulus. Die beiden Hauptrollen spielen Petrus und Paulus und entsprechend lässt Lukas die Frauen zunehmend in den Hintergrund treten. In der Apostelgeschichte wird das Pfingstfest als Premiere des Christentums inszeniert. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu, etwa 120 Personen (Apg 1,15), versammeln sich im Obergemach eines Hauses. Sie bleiben dort zusammen und beten. Am Pfingsttag treten sie dann spektakulär an die Öffentlichkeit. Erfüllt vom Heiligen Geist verkünden sie in fremden Sprachen die grossen Taten Gottes, so dass die Menschen in Jerusalem, die aus allen Ländern der Welt zusammen gekommen sind, sie verstehen. Manche aber spotten auch: «Sie sind vom süssen Wein betrunken» (Apg 2,13). Da tritt Petrus auf und hält eine grosse Rede mit starker Wirkung. Sie trifft die Menschen ins Herz (Apg 2,37) und führt dazu, dass Tausende sich taufen lassen. Es bildet sich die erste christliche Gemeinde.

Ausgerechnet Petrus

Wie ging es Petrus vor dieser Rede? Vor diesem wichtigen öffentlichen Auftritt, von dem so viel abhing? Hatte er Lampenfieber? Ich kann es mir nicht anders vorstellen.
Ausgerechnet Petrus! Alle vier Evangelien berichten ausführlich von seiner unrühmlichen Rolle bei der Festnahme Jesu. Dreimal verleugnet er, etwas mit Jesus zu tun zu haben, Markus berichtet sogar dass er flucht und schwört, diesen Jesus nicht zu kennen (Mk 14,71). Auch in etlichen anderen Szenen spielt Petrus keine besonders glückliche Rolle. Ausgerechnet dieser Petrus hält also jetzt die erste grosse öffentliche Rede nach dem Tod Jesu. Mir scheint, man merkt dem Beginn der Rede deutlich die Nervosität des Petrus an. Sein Argument gegen den Verdacht der Trunkenheit – «es ist ja erst die dritte Stunde am Morgen» (d.h. etwa 9.00 Uhr nach unserer Zeitrechnung) zeigt ihn selbst als redlichen Mann, ganz überzeugend ist es nicht. Petrus spürt wohl, dass seine eigenen Worte allein hier nicht reichen werden. Er leiht sich die Worte eines anderen, er zitiert aus der Schrift des Propheten Joel (Apg 2,17ff). Dessen Worte, dessen Sprachbilder über den grossen und herrlichen Tag Gottes bringen viel besser zum Ausdruck, was die Erfahrungen dieses Pfingsttages für Petrus bedeuten, als seine eigenen Worten es könnten. Das aufgewühlte Innere des Petrus, seine Ängste und seine schuldbeladene Finsternis, die Trauer über den Verlust des Menschen, von dem er seine Berufung erhalten hatte und auf den er die grössten Hoffnungen setzte, auch die Wut darüber allein gelassen worden zu sein und die Scham über seinen Verrat, klingen in den Bildern an: Blut und Feuer und qualmender Rauch. Es sind aber nicht nur Worte für Petrus, es sind auch Worte für seine Zuhörerinnen und Zuhörer. Die meisten von ihnen kennen die Verheissung des Joel vermutlich. Und die Worte beziehen sie alle ein, Junge und Alte, Männer und Frauen, Söhne und Töchter, Knechte und Mädge...

Das Spiel unseres Lebens

Petrus stellt sich, seine Zuhörerinnen und Zuhörer und die Ereignisse in Jerusalem in einen grösseren Zusammenhang, unter einen weiten Horizont. Die Geschichte Gottes mit den Menschen, von der uns unsere Vorfahrinnen und Vorfahren in den alten Texten erzählen, ist nicht zu Ende, sondern aktuelle Gegenwart. Es ist auch unsere Geschichte, es ist die Geschichte unseres Lebens. Es ist ein dramatisches Stück, in dem wir mitspielen, es geht ums Ganze, um die Wahrheit unseres Lebens. Es ist viel mehr als ein Spiel, die Art wie wir es spielen, hat existentielle Bedeutung. Die Geistkraft Gottes ist über uns ausgegossen, wir alle sind berufen, Prophetinnen und Propheten zu sein, wir haben Träume und Visionen vom erfüllten Leben und wir sollen diese Träume und Visionen nicht in uns begraben. Wir dürfen und sollen aufstehen, wie Petrus, mit Lampenfieber, mit unserer ganzen Vorgeschichte und Gottes grosse Taten verkünden. Wir können unsere eigenen Worte dafür finden oder wir können uns Worte ausleihen, zum Beispiel aus dem grossen Textbuch der Bibel. Wir sind wie Petrus nicht allein. Neben ihm stehen zahllose Frauen und Männer aus der grossen Bewegung Gottes mit den Menschen, die immer wieder neue Premieren feiert.

Peter Zürn