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Glauben und Rechnen   

In unserer Alltagssprache ist «glauben» gleichbedeutend mit «etwas für wahr halten». Und zwar etwas, das sich nicht beweisen, nicht logisch begründen lässt. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Für mich ist diese Gleichung verheerend. Sie geht nicht auf für den einzelnen Menschen, der versucht, gläubig zu sein. Und sie ist eine Katastrophe für das gesamte Christentum in unserer Kultur, von dem man annimmt, dass diese Art zu glauben dort zuhause ist und verlangt wird. Die Gleichssetzung von Glauben und Für-wahr-halten ist nicht zuletzt völlig unbiblisch. Wenn Sie von diesem Artikel nur einen einzigen Inhalt behalten, dann bitte diesen: Die Bibel erzählt Glaubensgeschichten. Aber dabei geht es NICHT um das «Für-wahr-halten-von-Etwas».

Um was geht es dann?

Mir hat zur Klärung dieser Frage ein Vergleich geholfen, der Vergleich zwischen Glauben und Rechnen. «Glauben heisst nicht, dass einer die Frage, ob es einen Gott gibt, wacker mit Ja beantwortet. Das wäre zu wenig. Damit fängt Glauben überhaupt erst an. Auch Rechnen heisst nicht, dass einer die Existenz von Zahlen anerkennt, sondern dass er addiert, substrahiert, multipliziert und dividiert, wo und wann es nötig ist. Glauben heisst, dass ich mich von Gott, dieser Wirklichkeit, die der Ursprung von allem ist und der ich mein Dasein verdanke, tragen lasse und mich an ihr festhalte, weil ich darauf vertraue, dass sie mich trägt – egal, in welche Hochs oder Tiefs mich das Leben führt.» (Josef Dirnbeck, Gott lacht. Ein fröhlicher Crashkurs des christlichen Glaubens, Pattloch 2006, S. 31)

Glauben ist also eine Art und Weise zu leben, eine Art und Weise sich dem Leben gegenüber zu verhalten. Glaube ist eine Fähigkeit, die Fähigkeit zu rechnen, mit etwas zu rechnen, mit einer Wirklichkeit, die mir vorausgeht und die mich trägt. Glauben im biblischen Verständnis bedeutet dem Leben und dem göttlichen Geheimnis des Lebens zu vertrauen. Glauben ist ein Verb, ein Tätigkeitswort genau wie Rechnen. Beide müssen gelernt werden. Beides kann gelernt werden und zwar durch Anleitung und durch Übung. Das klingt nach Schule und das passt auch: Glaubenlernen geschieht in der Schule des Lebens. Glauben ist dabei eine ganz besondere Tätigkeit. Sie besteht letztlich darin, nicht alles von sich selbst zu erwarten, sondern sich voller Vertrauen in einen grösseren Zusammenhang hineinzubegeben, in dem nicht alles von mir abhängt, sondern ich getragen bin von Anderen und Anderem.

Glauben = Vertrauen

Glaube ist die Fähigkeit zu vertrauen und «Vertrauen» wäre die viel bessere Übersetzung von Glauben als das Für-wahr-halten. Mit der Gleichsetzung von glauben und vertrauen kommen wir dem biblischen Verständnis viel näher. Die Bibelübersetzung in gerechter Sprache, die in diesem Jahr erschienen ist, übersetzt an vielen Stellen des Neuen Testamentes das griechische Wort «pistein», glauben, mit vertrauen und erschliesst so einen neuen und zugleich ursprünglichen Zugang zum Text. Ein Beispiel dafür. Im Markusevangelium wird im Kapitel 9 (Verse 14-29) die Geschichte einer Heilung erzählt. Ein Junge, der an Epilepsie leidet, wird geheilt und wenn man die Geschichte genau liest, auch sein Vater. In der Heilungsgeschichte geht es – wie bei den meisten biblischen Heilungsgeschichten – weniger um medizinische Fragen als um Beziehungen. Die Beziehung zwischen dem Vater und seinem Sohn und die Beziehung des Vaters zum Leben bedarf der Heilung. Ich würde sogar sagen, dass die Symptome, die der kranke Sohn zeigt, sehr genau die Probleme all der anwesenden Personen zum Ausdruck bringen. Die Geschichte erzählt von gestörter, ja eigentlich verhinderter Kommunikation. Die Kommunikation der Menschen untereinander, ihre Beziehung zueinander bedarf der Heilung. Aber zurück zu unserem Thema, dem Glauben. In dieser Geschichte fallen zwei Sätze, die in der Formulierung de Einheitsübersetzung zu den bekanntesten biblischen Zitaten gehören. «Alles kann, wer glaubt», sagt Jesus (9,23). Und der Vater des kranken Jungen reagiert darauf mit den Worten: «Ich glaube, hilf meinem Unglauben» (9,24).

In der Übersetzung der Bibel in gerecher Sprache lauten diese Verse so:
«Alles ist möglich für die, die vertrauen» und «ich vertraue, hilf meinem Mangel an Vertrauen». Der zweite Satz klingt sperrig. Der Ausdruck «Mangel an Vertrauen» ist im Alltag kaum gebräuchlich, auch damals nicht. Schade, dass nicht übersetzt wurde: «Ich vertraue, hilf meinem Misstrauen». Oder für mich noch treffender: «Hilf meiner Angst vor dem Leben!» Entscheidend ist die Ersetzung von Glauben durch Vertrauen. «Alles ist möglich für die, die vertrauen» – alles, das ganze Leben mit seinen Hochs und Tiefs ist möglich für die, die vertrauen. Alles kann gelebt, durchlitten, gefeiert werden. Und zwar nicht als blindes Schicksal, nicht als Zufallsprodukt der Evolution, nicht als fremdbestimmtes Leben bei dem ich nur das Opfer der Umstände bin, sondern als MEIN Leben, in das ich mit meinem Namen gerufen wurde und zu dem ich berufen bin, als mein Leben, in dem ich begleitet bin vom göttlichen Geheimnis. Das Vertrauen darauf wird mich vor nichts bewahren. Alles kann mir zustossen, vieles wird mir zustossen. Es wird nicht einfach werden. Die Schule des Lebens hält überraschend viele Unterrichtsfächer bereit und sie dauert ein Leben lang. Ich glaube daran, dass heisst ich vertraue darauf, dass ich in meinem ganzen Leben, von Anfang an, so wie ich bin und egal, wie ich mich entwickle, getragen bin von der Wirklichkeit, die religiöse Menschen Gott nennen – und dass diese lebendige Beziehung auch mit dem Tod nicht endet, wie immer sie sich dann auch gestalten wird.

Glauben + Zweifeln

Auf die tragende Kraft Gottes, der in der Bibel mit seinem Namen «Ich-bin-da» (Exodus 3) bekannt gemacht wird, vertraue ich – immer wieder. Und daran zweifle ich immer wieder. Beides gehört untrennbar zusammen. Und so leihe ich mir die Worte des Vaters im biblischen Text aus und bete: «Ich vertraue, hilf meinem Misstrauen».

Peter Zürn