Wir beraten

Das Geheimnis unseres Lebens   

Ich möchte Sie durch eine alte Geschichte führen. Sie ist fremd und geheimnisvoll. Ich lade Sie ein. Kommen Sie mit? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es meine Geschichte ist. Ich erhoffe mir, dass Sie erleben, dass es auch Ihre Geschichte ist. Auch wenn die Geschichte uns nahe kommt, wird sie fremd und geheimnisvoll bleiben. So wie ich mir.
Alltag und Wüste
Mose hütete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Als er die Herde tief in die Wüste hineintrieb, kam er eines Tages an den Gottesberg, den Horeb. (Ex 3,1)
Mose hütet Schafe und Ziegen. Es sind nicht seine eigenen Tiere. Er steht im Dienst seines Schwiegervaters. Er geht seinem Beruf nach. Nichts Besonderes und Spektakuläres. Alltag. Dann treibt er die Tiere über die Steppe, in der sie normalerweise weiden, hinaus in die Wüste. In der Bibel finden wesentliche Erfahrungen oft in der Wüste statt. Die Wüste ist der Ort jenseits des Alltäglichen, wo nichts so ist, wie wir es gewohnt sind. Das ist bedrohlich und steckt gleichzeitig voller Möglichkeiten. In der Mosegeschichte ist die Wüste das Gegenbild zu Ägypten, wo man ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hat. Der Preis dafür ist Unfreiheit und harte Sklavenarbeit. Die Wüste dagegen ist ein Ort der Freiheit. Dort ist das Leben aber alles andere als einfach und selbstverständlich. Die Wüste macht bewusst, wie zerbrechlich und bedroht das Leben ist. Sie ist der Ort, an dem sich unser Leben auf das Wesentliche konzentrieren kann. Und der Ort, an dem wir etwas erfahren können, das uns unendlich übersteigt, uns überwältigt, aber auch trägt und zu Neuem ruft. Die Wüste ist der Ort der Begegnung mit dem Geheimnis unseres Lebens. Mit welchem Bild lässt sich das beschreiben?
Brennen ohne zu verbrennen
Dort erschien ihm der Engel des HERRN in einer lodernden Flamme, die aus einem Dornbusch schlug. Mose sah nur den brennenden Dornbusch, aber es fiel ihm auf, dass der Busch von der Flamme nicht verzehrt wurde. »Das ist doch seltsam«, dachte er. »Warum verbrennt der Busch nicht? Das muss ich mir aus der Nähe ansehen!« (Ex 3,2f)
In der Wüste macht Mose eine besondere Erfahrung. Er sieht einen Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt. Der Dornbusch in der Wüste ist ein dürres Gestrüpp. Vielleicht erkennt Mose sich selbst darin wieder. Er ist aus Ägypten geflohen, nachdem er dort einen Mann ermordet hatte. Es scheint keinen Weg zurück zu geben. Sein Alltag als Hirte wirkt nicht wie die Erfüllung seiner Träume. Dürre und Fruchtlosigkeit beschreiben auch Moses. Andererseits bildet der brennende und nicht verbrennende Dornbusch die Sehnsucht des Mose ab. Die Sehnsucht, für etwas begeistert und entflammt zu werden. Und dabei nicht auszubrennen, den Burnout zu vermeiden, lebendig zu sein und lebendig zu bleiben. Wie kann das gelingen?
Ich bin gemeint
Als der HERR sah, dass Mose näher kam, rief er ihn aus dem Busch heraus an: »Mose! Mose!« »Ja«, antwortete Mose, »ich höre!« (Ex 3,4)
Mose hört aus dem Dornbusch seinen Namen, fühlt sich bei seinem Namen gerufen. Er ist gemeint, unverwechselbar, unersetzlich. Im biblischen Verständnis kommt im Namen etwas Wesentliches zum Ausdruck: Der Name steht für die Person als Ganze. Es geht ums Ganze. Mose antwortet auf den Ruf schlicht: «Ich höre!» «Hier bin ich!» Er ist präsent, jetzt und hier. Nichts Spektakuläres, aber auch ganz und gar nichts Selbstverständliches. Es fällt uns schwer, wirklich im Moment gegenwärtig und für diesen Moment präsent zu sein. Meistens sind wir noch mit etwas anderem beschäftigt. Oder schon mit etwas anderem beschäftigt. Wir verpassen den gegenwärtigen Moment. Verpassen wir das Leben?
Gott bleibt ein Geheimnis
»Komm nicht näher!« sagte der HERR. »Zieh deine Schuhe aus, denn du stehst auf heiligem Boden.« (Ex 3,5)
Mose geht nicht ganz zum Dornbusch hin. Ein Zwischenraum bleibt. Er zieht die Schuhe aus und bringt damit zum Ausdruck, dass er auf heiligem Boden steht. Das Göttliche, das Mose erfährt, das mit ihm in Beziehung geht, bleibt gleichzeitig verborgen. Gott bleibt unverfügbar, bleibt das Geheimnis unseres Lebens. Letztlich braucht es diese Spannung auch zwischen Menschen: in Beziehung gehen und uns dabei unverfügbar lassen, uns nahe kommen und uns als heiliges Geheimnis achten. Was kann uns dabei helfen?

Auf frühere Erfahrungen zurückgreifen können
Dann sagte er: »Ich bin der Gott, den dein Vater verehrt hat, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.« Da verhüllte Mose sein Gesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzusehen. (Ex 3, 6)
Gott stellt sich vor als der Gott der Vorfahren des Mose. Leider spricht der Text nur von den Vätern, von Abraham, Isaak und Jakob. Selbstverständlich gehören auch die Mütter zu dieser Geschichte, von denen die Bibel ausführlich erzählt: Sara und Hagar, Rebekka, Lea und Rahel. Mose steht also in einer langen Tradition. Er fängt nicht völlig neu an. Er kann auf Erfahrungen anderer zurückgreifen. Er weiss darum, dass sich der Glaube an diesen Gott bereits im Leben von Menschen bewährt hat. Er ist Teil einer viel grösseren Geschichte. Wir verdanken uns anderen Menschen, ihrem Ja zu uns. Sie haben uns gezeugt und geboren, sie haben uns geliebt und gepflegt, uns ihr Lebenswissen beigebracht und uns in unser Leben, in unsere Freiheit begleitet. Unser Leben ist Freiheit in Bezogenheit. Wir sind Glieder einer langen geheimnisvollen Lebens-Kette.
Klagen und Verheissung hören
Weiter sagte der HERR: »Ich habe genau gesehen, wie mein Volk in Ägypten unterdrückt wird. Ich habe gehört, wie es um Hilfe schreit gegen seine Antreiber. Ich weiss, wie sehr es leiden muss, und bin herabgekommen, um es von seinen Unterdrückern zu befreien. Ich will es aus Ägypten führen und in ein fruchtbares und grosses Land bringen, ein Land, das von Milch und Honig überfliesst. Ich bringe es in das Land der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Ich habe den Hilfeschrei der Leute von Israel gehört, ich habe gesehen, wie grausam die Ägypter sie unterdrücken. Deshalb geh jetzt, ich schicke dich zum Pharao! Du sollst mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten herausführen.« (Ex 3,7-10)
In der Begegnung mit Gott wird Mose an die Realität seines Volkes erinnert, die er weit hinter sich gelassen hatte. Seine Geschichte holt ihn ein. Die Begegnung mit Gott öffnet Mose Sinne für die Realitäten dieser Welt. Das Elend wird sichtbar, die Klagen werden hörbar. Gleichzeitig vernimmt Mose eine Verheissung. Der Weg in ein neues Land, in ein anderes Leben wird erkennbar. In ein Traumland, in dem Milch und Honig fliessen, in ein Land, das ganz von dieser Welt ist, denn es leben bereits Menschen darin, Menschen aus verschiedenen Völkern. Damit ist das Traumland in die Realität geholt, es sind aber auch schon die Herausforderungen und Konflikte der Zukunft benannt, die bis in unsere Gegenwart reichen: Wie kann das Zusammenleben im verheissenen Land gelingen? Das ist eine Frage an uns. Wie kann unser Leben, unser Zusammenleben mit anderen gelingen? Die Antwort darauf ist unser Leben. Es ist getragen von einer Berufung durch Gott. Wir sind geschickt, wir sind ermächtigt, uns wird der Weg ins gelobte Land zugetraut. Das ist das Geheimnis unseres Lebens.

Peter Zürn