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Innehalten auf der Schwelle   

Rita Bahn zur Lesung am 4. Fastensonntag SKZ 10/2007

Alttestamentliche Lesung: Josua 5,9a.10–12
Evangelium: Lk 15,1–3.11–32

Manchmal kann man es im Rückblick kaum fassen, welch langen Weg man zurückgelegt und bewältigt hat. Man hält inne und erinnert sich an eigene Stärke wie an eigenes Versagen. Man erinnert sich, was alles geschehen ist, an Fehlschläge und Erfolge, und wer alles dazu beigetragen hat, dass es gut ausging.

Gut ist es, die erreichte Fülle mit einem Fest zu würdigen und zum Ausdruck zu bringen. Innehalten und feiern hilft, die Vergangenheit bewusst abzuschliessen und sich zu stärken für den Schritt in die Zukunft, die immer ungewiss bleibt und weiteres Unterwegssein bedeutet – bis man (hoffentlich) beim nächsten Ziel, beim nächsten Innehalten, beim nächsten Fest anlangt.

Angekommen sein ist etwas Vorübergehendes, bedeutet ein mehr oder weniger kurzes Verweilen auf der Schwelle.

Mit Israel lesen

Ein weiter Weg liegt hinter den Israeliten: Dem Sklavenhaus Ägypten konnten sie entkommen. Lange Zeit waren sie in der Wüste unterwegs und mussten sich an neue schwierige Lebensumstände gewöhnen. Kein Wunder, dass sie Altbekanntem nachtrauerten und sich nach Gewohntem zurücksehnten! Auf ihrer Durststrecke erlebten sie aber auch die Begleitung und Hilfe Gottes, u.a. in der täglichen Gabe des Manna. Nun haben sie die Lebensfeindlichkeit der Wüste hinter sich gelassen, den Jordan durchschritten, und sind auf fruchtbarem Gebiet angekommen. Sie schlagen ihr Lager für längere Zeit auf und rasten.

Sie halten aber offensichtlich nicht nur in einer neuen äusseren Umgebung an, sondern sie halten auch inne. Sie machen Halt in ihrem Innern. Sie schauen in sich hinein und halten das, was ihnen zuinnerst ist, im Blick und im Herzen. So werden sie sich des Wesentlichen bewusst. Sie erinnern sich, woher sie kommen, wer sie sind, an die Notsituation in Ägypten und die Befreiungserfahrung des Exodus. Sie beginnen, sich intensiv auf das Paschafest vorzubereiten: Die Männer lassen sich beschneiden (Jos 5,2–8), bestätigen so zeichenhaft den Bund, den Gott mit Abraham geschlossen hat (Gen 17,10–14) und erfüllen damit zugleich eine Voraussetzung für die Feier des Pascha (Ex 12,44.48). Gemäss jüdischer Tradition hatte während der Wüstenwanderung nämlich nur einmal – im zweiten Jahr – ein Paschafest stattgefunden (Num 9,2). Eine weitere Überlieferung spricht davon, dass es in der Wüste zu gefährlich war, die Kinder zu beschneiden und deshalb das Pascha nicht mehr gefeiert werden konnte.

Nun da sie im verheissenen Land angekommen sind, wird den Israeliten bewusst, dass was einmal Demütigung und Schande für sie gewesen ist, ein Ende gefunden hat. Diese befreiende Erkenntnis schlägt sich, wie V. 9b erklärt, auch im Ortsnamen Gilgal, Wälzplatz, nieder. Ihr Fest feiert diesen Wendepunkt, gibt diesem Übergang ein bekanntes Gesicht, das des Pascha: Schon einmal ist Befreiendes geschehen. Jetzt geschieht es wieder und auch für die Zukunft darf darauf gehofft werden.

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt; vieles wird anders. Neuer Raum eröffnet sich den Israeliten. Aber es reicht nicht, die Vergangenheit zu kennen und von einer guten Zukunft zu träumen: In der Gegenwart gilt es zu handeln. Die Erfüllung der Verheissung, das Geschenk der Landgabe fordert von den Menschen, auf eigenen Beinen zu stehen. Es traut ihnen zu, dass sie sich im ungewohnten Umfeld orientieren und Neues lernen. Kein Manna fällt mehr vom Himmel, weil die Israeliten in der Lage sein werden, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, zu säen und zu ernten, sich selbständig zu ernähren.

In wenigen Sätzen verdichtet und deutet der Lesungstext eine entscheidende Epoche in der Geschichte des Volkes Israel. Das Buch Josua stellt die Landnahme in theologischer Interpretation als kriegerischen Einzug Jahwes selbst in das Land dar, das er seinem Volk zum Erbbesitz gibt. Eben weil sie als von ausserhalb kommend geschildert werden, verdanken die Israeliten das Land in besonders aussergewöhnlicher Weise Gott. Historisch betrachtet waren hingegen die nomadischen Stämme, die bislang von den Erzeugnissen der Siedlungen Kanaans profitieren konnten, durch den Niedergang der kanaanäischen Stadtkultur im 12. und 11. Jahrhundert gezwungen, sesshaft zu werden und selbst Ackerbau zu betreiben. Israel entstand als eine Mischgesellschaft, «deren Mitglieder überwiegend nicht von aussen kamen, sondern bereits vorher im Lande waren, teilweise als Halbnomaden (...), teilweise aber auch als ‹Kanaanäer›, die sich dem neuen Gesellschaftssystem anschlossen» (E. Zenger).

Mit der Kirche lesen

Ein weiter Weg liegt hinter dem jüngeren Sohn: Vielleicht hat er das Verlassen seines Vaterhauses als Befreiung aus Bevormundung betrachtet, vielleicht geht er einfach aus Neugier auf das Leben. Im fernen Land erprobt er nach eigenen Gesetzen das, was ihm als gutes Leben erscheint und lebt – so sagt es der Text – zügellos und verschwenderisch. Er durchlebt auf seine Weise eine Wüstenzeit: Im Auf und Ab der Tage lernt er nicht nur die Grenzen kennen, die seine Persönlichkeit und Lebensweise ihm setzen, sondern auch äussere in Form einer Hungersnot. Man kann sich vorstellen, wie er mit der Hast und Unruhe der Verzweiflung versucht, sich einen Ausweg zu schaffen. Als ihn aber auch seine Bereitschaft, niedere Arbeit zu tun, nicht ernähren kann, hält er inne und geht in sich. Nicht die Erfüllung, sondern die Krise wird für ihn zu einer ersten Schwelle. Sie fordert ihn gleichermassen auf, zurückzublicken wie einen Ausblick zu wagen, sich eine Zukunft zu ersehnen. Er erinnert sich, woher er kommt und bedenkt, wer er war und wer er nun zu sein glaubt: nicht mehr Sohn, sondern Tagelöhner. Er steht zu sich und zu seiner Geschichte und ist bereit, auch vor anderen die Verantwortung dafür zu übernehmen. Er macht sich wieder auf den Weg, kehrt zurück und findet neue Lebensmöglichkeiten, die alles übertreffen, was er sich vorstellen konnte.

Ohne die Spur eines Urteils oder Vorwurfs gibt der Vater ihm die Chance eines Neuanfangs und wälzt so auf beispiellose Weise die von anderen empfundene und beklagte Schande von ihm ab. Die jüngere Vergangenheit ist beendigt, an die ältere aber, an seinen Ursprung, darf der Sohn wieder anknüpfen: Er ist angekommen. Ein Fest wird gefeiert und bestätigt die neuerliche Zäsur im Leben des jüngeren Sohns. Wieder befindet er sich auf der Schwelle zu einer neuen Lebensform, anderen Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten, die einen weiteren langen Weg bestimmen werden.

Der ältere Sohn ist nicht nur die ganze Zeit an einem Ort geblieben, auch innerlich scheint er sich wenig bewegt zu haben. Dass es im Haus seines Vaters unterschiedliche Lebensmöglichkeiten, dass es Spielraum gibt, hat er nicht auszuprobieren gewagt. Dass er möglicherweise immer schon in der Fülle lebte, war ihm nicht bewusst. Jetzt wird er herausgefordert, nach innen zu schauen und auf seine eigene innere Stimme zu hören, um sich auf den Weg – seinen Weg – machen zu können.