Wir beraten

Den Zugang zur Heiligen Schrift weit öffnen. Biblische Erwachsenenbildung in der Schweiz   

Dieter Bauer, Rundbrief Nr. 75 der TheBe (2005)

Vor genau 40 Jahren wurde das II. Vatikanische Konzil abgeschlossen. Eines der letzten Konzilsdokumente, die verabschiedet wurden, war die dogmatische Offenbarungskonstitution «Dei Verbum», die von vielen als das eigentlich wichtigste Konzilsdokument erachtet wird.

Der Impuls des Konzils durch «Dei Verbum»
In «Dei Verbum» (DV), wurde erstmals deutlich formuliert, dass Offenbarung, also auch das, was in der Heiligen Schrift niedergelegt ist, «Selbstmitteilung Gottes» sei, und nicht eine blosse Ansammlung von Sätzen «über» Gott und seine Heilsabsichten. Vom Lehramt wurde gesagt, es sei «nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm» (DV 10) und «jede kirchliche Verkündigung (muss) sich von der Heiligen Schrift nähren und sich an ihr orientieren» (DV 21). Die Verkündigung der Heiligen Schrift wurde als «Tisch des Wortes» dem «Tisch des Brotes», der Eucharistie, gleichgestellt (DV 21). Und es wurde betont, dass die Bibel als «bleibendes Fundament» jeder Theologie diene (DV 24). War die bisherige Dogmatik stets von einer kirchlichen Lehrvorlage ausgegangen, um im Anschluss daran einen «Schriftbeweis» nachzuliefern, so wurde dies nun geradezu umgekehrt: Zuerst soll die Bibel betrachtet und befragt werden, und erst daraus kann sich die Tradition entfalten. Besonders wichtig für die Bibelauslegung war, dass die Öffnung gegenüber den Erkenntnissen historisch-kritischer Exegese weitergeführt wurde. Die formgeschichtliche Methode, welche die literarischen Gattungen ernst nimmt, wurde ausdrücklich gefordert, aber auch die Berücksichtigung von «Inhalt und Einheit der ganzen Schrift» (heute: Kanonische Exegese; DV 12).

Die Katholische Bibelbewegung
All dies hatte eine Vorgeschichte: Seit dem Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatte die Katholische Bibelbewegung eine neue Grundeinstellung zur Heiligen Schrift vorbereitet. Immer selbstverständlicher griff man in Theologie und Frömmigkeit auf die Bibel zurück. Die Katholische Bibelbewegung war dann – zusammen mit der Liturgischen Bewegung – unmittelbar in die Beratungen des II. Vatikanischen Konzils eingemündet, die diese Vorarbeiten nur aufnehmen und vertiefen mussten.
Besonders durch die Formulierung des Konzils: «Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offen stehen» (DV 21) und seine Forderung, die Kirche müsse «geeignete (bibelpastorale) Institutionen» schaffen «und andere Hilfsmittel» bereitstellen (DV 25), bekamen die Bibelwerke einen wichtigen Impuls für ihr Wirken.

Bibelarbeit in der Schweiz
In der Schweiz, wo bereits 1935 ein Bibelwerk gegründet worden war, konstituierte sich 1968 auch die Katholische Weltbibelföderation (WCFBA; heute: KBF). 1973 gab sich das Bibelwerk eine Bibelpastorale Arbeitsstelle, welche die nötigen strukturellen Grundlagen schaffen sollte, damit die Bibel auch bei den Gläubigen ankam. Während die Bibelübersetzung und -verbreitung in Händen der katholischen Verlage lag – die Einheitsübersetzung wurde unter Federführung des Verlags Katholisches Bibelwerk Stuttgart erarbeitet –, konzentrierte sich die Bibelpastorale Arbeitstelle auf die biblische Erwachsenenbildung.
Der erste Stellenleiter Anton Steiner erarbeitete zusammen mit dem reformierten Kollegen Volker Weymann Grundlagenliteratur für die praktische Bibelarbeit in der Buchreihe «Bibelarbeit in der Gemeinde», die jeweils vorab in einem ökumenischen Arbeitskreis nach modernsten erwachsenenbildnerischen Methoden erprobt worden waren – bis heute «Klassiker» der bibelpastoralen Literatur. Ein Lateinamerikaaufenthalt von Anton Steiner hatte auch in der Schweiz praktische Auswirkungen, als verstärkt Impulse aus der Befreiungstheologie und speziell der Ansatz von Carlos Mesters «Vom Leben zur Bibel – von der Bibel zum Leben» im westeuropäischen Kontext aufgenommen wurden. Seine Nachfolgerin Silvia Schroer brachte dann verstärkt die Sichtweise der Frauen in die Bibelarbeit ein, schuf aber auch mit dem dreibändigen Grundlagenwerk «Damit sie Leben haben», das in einem grossen Arbeitskreis von Theologinnen und Theologen erarbeitet wurde, Materialien für die biblische Vorbereitung von Sonntagsgottesdiensten – bis heute eine unerschöpfliche Fundgrube für praktische Bibelarbeiten. Da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle längst nicht alle Anfragen wahrnehmen konnten, die aus den Gemeinden kamen, begann man in den 90er-Jahren mit Ausbildungskursen für Leiterinnen und Leiter der Bibelarbeit. Unter Federführung des Stellenleiters Daniel Kosch gab es unter dem Motto «Gemeinsam die Bibel leben und erfahren» regionale Bibelwerkstätten. Zusammen mit der Universität Luzern und Fachleuten für Erwachsenenbildung wurde ein Kurskonzept «Biblische Kurs- und Bildungsarbeit leiten» entwickelt, das bisher dreimal erfolgreich zur Durchführung kam. Die «Dossiers» für die «Bibelwerkstätten» wurden inzwischen überarbeitet und als Buchreihe «WerkstattBibel» im Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart veröffentlicht (bisher 9 Bände).

Neue Herausforderungen: einfachere Zugänge
Doch bei all dem wurde eines mit der Zeit immer deutlicher sichtbar:
Die erwachsenenbildnerischen Methoden, so erfahrungsbezogen sie auch waren, sprachen meist nur eine ganz bestimmte Schicht des «Bildungsbürgertums» an. Es waren die Leute, die auch sonst erwachsenenbildnerische Angebote wahrnahmen, die irgendwann auch einmal einen Glaubenskurs oder gar den «Theologiekurs für Laien» (jetzt: Studienkurs Theologie) besuchten.
Zweitens zeigte sich, dass von einer «Expertokratie» in Sachen Exegese bei allen redlichen Bemühungen der Erwachsenenbildner einfach nicht wegzukommen war. Zumindest das Vorurteil, ohne exegetische Kenntnisse könne man sowieso nichts von der Bibel verstehen, hielt sich hartnäckig.
Es war klar, dass die Forderung des Konzils «Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offen stehen» nach neuen Anstrengungen verlangte.

Bibel teilen
Bereits in den 80er-Jahren hatte das «Bibel teilen» – ursprünglich aus dem LUMKO-Institut in Südafrika stammend – eine gewisse Verbreitung auch in Westeuropa gefunden. Die meist verwendete «Sieben-Schritt-Methode» liess auch für nicht theologisch Vorgebildete einen eher meditativen Zugang zur Bibel zu. In der «Bibel teilen Gruppe» konnte zudem die Erfahrung gemacht werden, dass die Gemeinschaft der Bibellesenden auch eine Interpretationsgemeinschaft darstellt, die durchaus «Lebenshilfe» zu geben vermochte, wo sie Bibel und Leben in Beziehung setzte. Und der emanzipatorische Ansatz eines (zumindest angestrebten) rollierenden Wechsels in der Leitung dieser Gruppe machte erfahrbar, dass jede und jeder Verantwortung übernehmen konnte.
Doch das Misstrauen – v. a. der exegetischen Fachleute – gegenüber solch «einfachen Zugängen» blieb. Dabei muss man ganz klar festhalten, dass Methoden wie das «Bibel teilen» es für sehr viele Menschen erst möglich gemacht hatten, die Bibel ganz konkret für ihr Leben als hilfreich zu erfahren. Und in vielen, die in einer «Bibel teilen Gruppe» erste Schritte mit der Bibel unternommen hatten, wuchs die Sehnsucht danach, mehr über dieses Buch zu wissen und zu erfahren. Sie meldeten sich irgendwann auch zu Bibel- und Glaubenskursen.

Ein pastoraler Ansatz aus Asien: AsIPA
Doch nicht nur in Westeuropa hatten die Methoden des südafrikanischen LUMKO-Institutes Fuss gefasst. Auch die asiatischen Bischofskonferenzen liessen sich davon inspirieren und adaptierten sie für ihre Verhältnisse. Heraus kam AsIPA, ein integraler pastoraler Ansatz, dessen vorrangiges Ziel die mitverantwortliche Gemeinde aller gläubigen Männer und Frauen ist. In einer bibelgeleiteten Spiritualität geht es auf der Basis des Bibel-Teilens um die Reflexion des je eigenen Lebens im Licht des Evangeliums und um die sozialen Aspekte einer christlichen Lebenspraxis. Dem dient ein partizipatorisches Modell von Gemeindeleitung, in dem sich GemeindeleiterInnen mehr und mehr als BegleiterInnen, ModeratorInnen und AnregerInnen denn als MacherInnen verstehen.
Was ist daran für die Bibelarbeit in der Schweiz so spannend?
Zum einen ist jeder Ansatz zu begrüssen, der von der Bibel geleitet Männer und Frauen ermächtigt, als «Hörerinnen und Hörer des Wortes» eigenständig Antworten zu suchen auf die Fragen, die unsere Welt und Kirche umtreiben. Und jede Form von Gemeindeleitung, die – sich an Jesus orientierend – ernst nimmt, dass alle Getauften teilhaben am Geist und an der Würde und Sendung Jesu, hilft, Widerstände gegen die «Expertokratie» der TheologInnen abzubauen.

Zum Schluss
In fast 25 Jahren bibelpastoraler Arbeit bin ich mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass es nur Gottes Wort selbst sein kann, das uns Wege aus der Krise weist. Ich glaube, dass nicht die neue Orientierung an Katechismen und die Einschärfung kirchlicher Instruktionen weiterhilft, sondern allein das «Hören auf Gottes Wort». Das will gelernt, eingeübt und vorgelebt sein. Und da überlasse ich gerne das Schlusswort (dem jungen) Josef Ratzinger in seinem Kommentar zu «Dei Verbum»: «Gerade ... die Bereitschaft, den Samen des Wortes Gottes in der Bibel freigebig und furchtlos auszustreuen, auch wo man das, was daraus wächst, nicht überwachen noch kontrollieren kann, ist ein volles Ja zum universalen Sinn und zur inneren Kraft des Gotteswortes, das nicht fruchtlos zurückkehrt (Jes 55,10f).»