Wir beraten

Menschen der Bibel: zum Beispiel Lydia   

Dieter Bauer, forum 7/2006: S.25

Und Lydia öffnete ihr Haus

Momentan ist viel vom «christlichen Europa» die Rede. Man meint, christliche Werte gegenüber anderen Kulturen wie der muslimischen verteidigen zu müssen, und beruft sich dabei auf Freiheit und Menschenrechte.
Angesichts solcher Diskussionen ist es vielleicht hilfreich, einen Blick auf die Anfänge des christlichen Europa zu tun. Interessanterweise begann nämlich das christliche Europa mit einer Frau. Wir erfahren davon in der Apostelgeschichte des Lukas, wo ein Augenzeuge von der Ankunft des Apostels Paulus in Europa berichtet:
Wir gingen nach Philippi, in eine Stadt im ersten Bezirk von Mazedonien, eine (römische) Kolonie. In dieser Stadt hielten wir uns einige Tage auf. Am Sabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss, wo wir eine Synagoge vermuteten. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die sich eingefunden hatten. Eine Frau namens Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; sie war eine Gottesfürchtige und der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie den Worten des Paulus aufmerksam lauschte. Als sie und alle, die zu ihrem Haus gehörten, getauft waren, bat sie: Wenn ihr überzeugt seid, dass ich fest an den Herrn glaube, kommt in mein Haus und bleibt da. (Apg 16,12-15)
Interessant ist, dass sich in der Synagoge von Philippi offensichtlich ausschliesslich Frauen eingefunden hatten. Und in dieser Gemeinde religiös interessierter Frauen scheint Lydia eine wichtige Rolle zu spielen. Als einzige wird sie mit Namen genannt. Und wir erfahren, dass sie eine Geschäftsfrau aus dem lydischen Thyatira war, deren Handelsbeziehungen sie nach Griechenland in die aufstrebende römische Stadt Philippi geführt haben. Der Handel mit dem absoluten Luxusartikel Purpur führte nämlich über die Haupthandelsstrasse «Via Egnatia» ins Zentrum der damaligen Welt, nach Rom. An dieser Strasse lag Philippi und wohl auch das Geschäft der Lydia.
Als «Gottesfürchtige» war sie (noch) keine Jüdin, aber offensichtlich vom jüdischen Glauben fasziniert und dann auch von der christlichen Auslegung des jüdischen Rabbis Paulus sehr angetan, so sehr, dass sie sich spontan zur Taufe entschloss mit ihrem ganzen «Haus», was wohl alle ihre Angestellten mit einschloss.
So wie diese Frauengemeinde die missionierenden Männer Paulus, Silas und Timotheus aufgenommen hatte, so stellt Lydia auch ganz selbstverständlich ihr Haus für die neu entstehende christliche Gemeinde zur Verfügung. Wir dürfen davon ausgehen, dass sie als Hausherrin auch ganz selbstverständlich den christlichen Gottesdiensten vorgestanden hat und die kleine Gemeinde geleitet, nachdem die Missionare weiter gezogen waren.
Immer wieder kommt der Apostel Paulus in seinen Briefen auf diese «erste Liebe» in Europa zu sprechen. Keine andere Gemeinde durfte ihn zum Beispiel finanziell unterstützen, nur Lydia und ihre kleine Gemeinde in Philippi. Lydia und die Frauen von Philippi haben bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Und wenn wir heute darüber nachdenken, wie ein «christliches Europa» beschaffen sein könnte, dann wäre es sicher hilfreich, uns diese Anfänge dieses Christentums vor Augen zu halten. Es begann mit sehr lebendigen und wachen Frauen, die ganz selbstverständlich Verantwortung für die noch junge Kirche übernommen haben. Mit Lydia, der Geschäftsfrau und Gemeindeleiterin von Philippi, hat das christliche Europa eine Gründungsgestalt, die Vorbildcharakter für die Rechte der Frauen in diesem Europa haben könnte. Und zwar nicht nur für die herzlich willkommenen Muslime, sondern auch für unsere eigene Kirche.