Wir beraten

Die Urgrossmutter von Wilhelm Tell   

Es war zu der Zeit, als die Habsburger ihre Herrschaft begannen, da war eine Hungersnot im Lande. Da zogen ein Mann und eine Frau mit ihren beiden Söhnen aus den Waldstätten in ein fernes Land, um nicht zu verhungern. Da starb der Mann dort und die beiden Söhne heirateten Frauen aus dem fremden Land. Und sie lebten dort viele Jahre. Da starben auch die beiden Söhne und die Frau machte sich auf, in die Heimat zurückzukehren, denn sie hatte gehört, dass es dort wieder Brot gebe. Und eine ihrer Schwiegertöcher begleitete sie. Sie hatten es zuerst nicht einfach, die Rückkehrerin und die Fremde, aber sie trotzen allen Widerständen und schlugen sich irgendwie durch. Und die Fremde heiratete einen Einheimischen und sie bekamen Kinder. Und die Kinder bekamen wiederum Kinder und auch diese wieder. Und eines dieser Kinder hiess Wilhelm Tell. Die Frau aus dem fremden Land war seine Urgrossmutter.

Eine Geschichte aus der Bibel und aus der Schweiz

Kommt Ihnen diese Geschichte bekannt vor? Sie steht in der Bibel. Dort handelt sie nicht von Wilhelm Tell und seiner namenlosen Urgrossmutter, sondern vom König David und seiner Urgrossmutter Rut. Nach ihr ist das biblische Buch Rut benannt und das erzählt die Geschichte, wie ich sie oben beschrieben habe. Tell und David haben durchaus Ähnlichkeiten. Beide sind zentrale Gründungsgestalten ihres Volkes oder ihrer Nation. Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte in einer Ausgabe dieser Zeitschrift zum Thema «Solidarität»? Im Moment, da ich diese Zeilen schreibe, haben die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gerade mit grosser Mehrheit einer Gesetzesänderung zugestimmt, die die Rechte von Fremden in der Schweiz einschränkt. Sie richtet sich vor allem gegen den Missbrauch des Rechtes auf Asyl. Flüchtlinge, die nicht aus politischen Gründen um Asyl nachsuchen, sondern der Armut entkommen wollen, sollen abgeschreckt oder möglichst rasch wieder abgeschoben werden. Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist diese Abstimmung vom 24. September 2006 vermutlich längst wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Vielleicht aber auch nicht. Denn auch heute verlassen Menschen aus den verschiedensten Gründen ihre Heimat. Einige davon kommen in die Schweiz und versuchen hier zu leben. Wie Einheimische mit Fremden umgehen, ist auch heute noch eine brennend aktuelle Frage. Und sie stellt sich schon seit biblischen Zeiten, wie die Geschichte der Rut zeigt.

Streit um das Zusammenleben

Die Menschen, die vor beinahe 2500 Jahren das Buch Rut geschrieben haben, lebten in einer Gesellschaft, die mit unserer gewisse Ähnlichkeiten hat. Damals wurde klar zwischen Einheimischen und Fremden unterschieden. Die Mehrheit der Einheimischen fühlte sich durch die Fremden bedroht. Sie wollten die Grenzen zu diesen Fremden klarer ziehen. Schreckliche Geschichten über ihre Sitten und Gebräuche wurden erzählt, die als Bedrohung für die eigene Kultur galten. Heiraten zwischen Einheimischen und Fremden sollten vermieden, die Fremden aus der Gemeinde ausgeschlossen, die Grenzen dicht gemacht werden. In dieser Situation erhebt sich Widerspruch. Es beginnt eine Auseinandersetzung um das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Fremden. Als Beitrag zu dieser Auseinandersetzung wird die Geschichte von Rut erzählt, die als Fremde ins Land kommt und zur Ahnin des Königs David wird. Und diese Geschichte wird in die Bibel aufgenommen, sie wird Teil der Heiligen Schriften, die man erinnert und weitererzählt und an denen man das eigene Verhalten ausrichtet, weil sie Lebenswichtiges und Heilsames enthalten. Deswegen möchte ich heute die Geschichte von Rut erinnern und sie näher zu uns holen. Es ist auch unsere Geschichte. Machen Sie den Test: Fragen Sie doch einmal die Menschen in einer beliebigen Runde, woher ihre Vorfahrinnen und Vorfahren stammen. Ich verspreche Ihnen: Spätestens in der Generation der Urgrossmütter und Urgrossväter überschreiten die Familiengeschichte die Grenzen der Schweiz. Migration und Flucht sind Teil beinahe jeder Familiengeschichte. Wir alle stammen von Fremden ab.

Wer gehört dazu?

Das Erzählen der Geschichte von Rut ist ein Akt der Solidarität. Die Geschichte stellt die Frage, wer zu uns gehört, mit wem wir verbunden sind. Sie ruft dazu auf, die Grenze nicht entlang der Abstammung zu ziehen. Denn dann bleibt nicht einmal König David einer von uns. Dann grenzen wir unsere eigenen Urgrossmütter und Urgrossväter aus. Dann vergessen und verraten wir unsere Herkunft. Das Buch Rut entwirft aber nicht das Bild einer grenzenlosen Gemeinschaft. Jede Gruppe von Menschen braucht Grenzen, braucht Abgrenzungen. Ohne Grenzen sind wir nicht erkennbar, können wir uns nicht identifizieren, wissen wir nicht, zu wem wir gehören, mit wem wir verbunden sind. Das Buch Rut fordert aber andere Kriterien für die Frage, wer dazu gehört. Nicht die Abstammung oder die Herkunft soll entscheidend sein. Was aber dann? Zugehörigkeit und Solidarität besteht nach dem Buch Rut zwischen Menschen, die Überzeugungen und Werte teilen. Die gemeinsamen Werte, um die es im Buch Rut geht, sind die Erinnerungen an die Erfahrungen des Volkes Israel mit Gott und die Gesetze und Weisungen, die sich daraus entwickelt haben. Das Buch Rut diskutiert die Frage, was es heisst, heute nach den Weisungen Gottes zu leben. Es stellt die Frage, wie man die alten Gebote und Gesetze heute auslegen und anwenden muss, damit sie ihren Sinn behalten, das Leben der Menschen in Gerechtigkeit und Friede zu ermöglichen.

Gesetze und ihre Anwendung

Zwei dieser alten Gesetze werden näher betrachtet: die Einrichtung des Lösers und die Schwagerehe. Beide sind dafür da, Menschen die in Notlagen geraten sind, aufzufangen. Muss jemand aus finanzieller Not seinen Grundbesitz verkaufen, so ist der Löser, ein Mitglied der Grossfamilie, angewiesen, das Land zu kaufen und zu bewahren, bis es der frühere Besitzer wieder zurückkaufen kann. Wurde in der damaligen Zeit eine Frau Witwe und hatte keine Söhne, so fiel sie aus dem sozialen System heraus, das die Männer der Familie verpflichtete, die Frauen zu versorgen. Darauf reagiert die Schwagerehe. Der Bruder des verstorbenen Ehemannes ist angehalten, die Witwe zu heiraten. Das Buch Rut prüft diese Regeln. Dazu erzählt es von einer Frau, deren Grundbesitz verkauft wird, die in der Fremde zur Witwe wird, deren Söhne sterben und deren Zukunftshoffnung allein auf ihrer Schwiegertochter beruht, die aber eine Ausländerin ist. Es wird also geradezu ein Extremfall gestaltet, an dem sich das Gesetz bewähren muss. Und es zeigt sich, dass die Gesetze grosszügig angewendet werden müssen, damit sie gerecht bleiben. Sie dürfen nicht dazu führen, dass sich Menschen um ihre Verantwortung drücken und sie dürfen nicht an den Grenzen der Familie und des Volkes aufhören. Deswegen tritt in der Geschichte der Grundbesitzer Boas auf, der sich von den alten Weisungen in die Verantwortung nehmen lässt. Er übernimmt die Verpflichtung des Lösers und kauft das Land – obwohl nach dem Wortlaut des Gesetzes vielleicht auch andere in Frage gekommen wären – und er heiratet Rut, obwohl er nicht ihr Schwager ist, um ihr und ihrer Schwiegermutter eine Zukunft zu verschaffen.
Für mich ist Boas ein Vorbild für uns heute, gerade für unseren Umgang mit Asylsuchenden nach der Veränderung des Asylgesetzes.

Peter Zürn