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Nur eine Frage der Sichtweise?   

An den Strömen von Babel

An den Strömen von Babel,
da sassen wir und weinten,
wenn wir an Zion dachten.
Wir hängten unsere Harfen
an die Weiden in jenem Land.
Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder,
unsere Peiniger forderten Jubel:
«Singt uns Lieder vom Zion!»
Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn,
fern, auf fremder Erde?

So beginnt einer der berühmtesten Psalmen der Bibel, der Psalm 137. In diesem Psalm klagen die nach Babel verschleppten Judäer, dass sie fern der Heimat keine Lieder mehr haben. Und doch werden solche Lieder von ihnen verlangt: «Singt uns Lieder vom Zion!» «ˆ’ Folklore als Unterhaltung für die Unterdrücker!

Dunkle Zeiten

Es war eine grausame Zeit, von der dieser Psalm spricht. Jerusalem war 586 v. Chr. von den Babyloniern zerstört und die einheimische Bevölkerung nach Babel verschleppt worden. Das ist dort, wo heute der Irak ist. Die Judäer hatten nicht nur ihren König, ihr Land und ihre Heimat verloren, sondern auch ihren Tempel. Alles, woran sie sich bisher gehalten hatten, galt nun nicht mehr. Bis dahin hatten sie fest geglaubt, dass Gott sein Volk und seine Stadt Zion – Jerusalem – vor diesem Schicksal bewahren würde. Sicher war der Untergang Jerusalems damals für viele Judäer der Beweis, dass es diesen Gott nicht gibt. Für sie war ihre Welt in ein Chaos versunken.

Es werde Licht!

Nicht alle aber dachten so. Wir wissen das, weil wir neben dem Psalm 137 auch noch andere Texte aus dieser Zeit in der Bibel haben. Einer der schönsten ist das Schöpfungslied, mit dem unsere Bibel beginnt. In sieben Strophen wird darin Gottes wunderbare Schöpfung besungen.
Nun kann man sich natürlich fragen, wie jemand in diesen dunklen Zeiten auf die Idee kommt, Gottes wunderbare Schöpfung zu preisen. Die Antwort darauf ist relativ einfach: Weil es gerade in solchen Zeiten wichtig ist, die Welt mit anderen Augen zu sehen!
Liest man die Schöpfungserzählung auf diesem Hintergrund, dann fällt als erstes auf, dass das Chaotische dieser Welt durchaus vorkommt, auch das Dunkle:
Im Anfang, als Gott Himmel und Erde schuf, war die Erde wüst und wirr (Tohuwabohu), Finsternis lag über der Urflut …
All das steht am Anfang. Aber es ist nicht das Ende. Gott wird nämlich besungen als derjenige, der Ordnung in dieses Chaos bringt. Immer wieder trennt er das, was nicht zusammen gehört: Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land … Schritt für Schritt wird alles heller, geordneter, freundlicher. Das ursprünglich Dunkle wird nicht einfach abgeschafft, aber es erhält seinen Ort und seine Grenzen. Und so wird alles «gut», wie es immer wieder heisst, ja «sehr gut».

Eine Art Seh-Hilfe

Die Dichter dieses Schöpfungsliedes wussten natürlich um das Dunkle und Chaotische dieser Welt, das gerade in ihrer Zeit übermächtig empfunden wurde. Aber sie wollten bei diesem Vordergründigen nicht stehen bleiben. Sie wollten ihren Hörerinnen und Hörern die Augen dafür öffnen, dass das nicht alles ist. Wenn man genau hinschaut – so wollen sie sagen – ist eine wunderbare Ordnung zu erkennen. Es ist nicht einfach alles nur dunkel und chaotisch. Es gibt da einen Gott, der hinter allem steht. Dieser Gott ist grösser, als der Gott, an den sie bisher geglaubt hatten, der Gott, der im Tempel von Jerusalem thronte. Der Gott, von dem im Schöpfungslied die Rede ist, hat nicht nur Israel und sein Volk in seiner Hand, sondern die ganze Welt.

Die Welt mit neuen Augen sehen

Wer dies zu sehen vermag, für den erhält die Welt ein neues Gesicht. Das Schöpfungslied lädt geradezu dazu ein, genau hinzuschauen, wie wunderbar sich eins ins andre fügt. Nichts ist sinnlos, alles hat seinen Ort: die Sonne für den Tag und der Mond für die Nacht, Tiere und Pflanzen, Wassertiere, Landtiere und Vögel, und schliesslich auch der Mensch, als Mann und Frau, Ebenbilder Gottes. Alles steht unter dem allumfassenden Segen Gottes, der es für «gut», ja «sehr gut» befunden hat. Und selbst die Zeit steht in seinen Händen: Im Rhythmus von Tag und Nacht, im Rhythmus der Siebentagewochen, im Rhythmus von Arbeit und Unterbrechung – am Sabbat.
Diese Ordnung – so sind die Dichter des Schöpfungsliedes überzeugt – steht nicht in unserer Verfügung, sondern ist göttlicher Art. Oder anders gesagt: Wo der Mensch versucht, daran etwas mutwillig zu verändern, schadet er sich selbst.

Ist das nicht naiv?

Ist das nicht naiv? So fragen sich vielleicht manche. Dieser uralte Text wusste doch nichts davon, wie die Welt wirklich entstanden ist. Da war kein Gott – so sagen viele, sondern eine Zusammenballung von Materie, die schliesslich in einem Urknall auseinander stob und Galaxien entstehen liess. Und beweist nicht die Geschichte, dass der Mensch Herr dieser Welt ist?
Das mit dem Urknall mag ja sein. Und sicher werden wir von den Naturwissenschaften über die Jahre immer mehr über die Entstehungsbedingungen unserer Welt erfahren. Aber ist das denn ein Widerspruch zu einem Glauben an Gott?

Gottes Spuren sehen

Wie ich die Welt sehe, bestimme ich immer noch selbst. Wenn ich die Augen öffne und Gottes Spuren in seiner Schöpfung entdecke, dann kann mir das niemand nehmen. Für mich ist das Schöpfungslied eine Einladung genau diese Spuren zu entdecken. Und das gerade in Zeiten, in denen mir das vielleicht besonders schwer fällt, wenn alles dunkel und chaotisch erscheint. Dann kann etwas so «einfaches» wie die Tatsache, dass die Sonne morgens über dem Horizont erscheint, zum Zeichen werden, dass es selbst in meiner gerade sehr ungeordneten Welt etwas Grösseres gibt, eine Ordnung, die unzerstörbar ist und auf die ich mich verlassen kann. Ich kann fixiert sein auf das Dunkel, aber ich kann die Augen auch für das Helle öffnen – es ist wirklich nur eine Frage der Sichtweise!

Dieter Bauer