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Peter Zürn zur Lesung am 3. Sonntag im Jahreskreis SKZ 1-2/2007

Alttestamentliche Lesung: Neh 8,2–4a.5–6.8–10
Evangelium: Lk 1,1–4; 4,14–21

Die Bibel wird gelesen. Menschen lauschen mit offenen Ohren und Herzen. Sie wollen mehr wissen. Fachleute bringen ihr Wissen ein, übersetzen, erklären, legen aus. Die Menschen sind tief berührt. Einer bringt ins Wort, was alle erlebt haben: «Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren Gottes.» Er mündet in ein Freudenfest, ein Festmahl mit gutem Wein. Alles wird geteilt, «denn sie hatten die Worte verstanden». Das klingt wie die Erfüllung meines Wunschtraums als Mitarbeiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle und steht im heutigen Lesungstext Nehemia 8.

Mit Israel lesen

Die Bücher Esra und Nehemia, die ursprünglich ein einziges – Esra zugeschriebenes – Buch bildeten, gehören christlicherseits zu den unbekannteren biblischen Büchern. Auf jüdischer Seite ist das ganz anders. Hier gelten sie als Gründungsdokumente. Insbesondere die Figur des Esra geniesst hohes Ansehen. Er gilt als erster Schriftgelehrter, als sein Schüler bezeichnet zu werden, ist in rabbinischen Kreisen eine grosse Ehre (z. B. Babylonischer Talmud Sota 48b). Die Bücher Esra und Nehemia erzählen von einer entscheidenden Zeit in der jüdischen Geschichte, dem Neuanfang nach dem babylonischen Exil. Die Perser, die neue Grossmacht, erlaubten unterworfenen Völkern relativ grosse Selbstbestimmung. Sie konnten ihre eigenen Gesetze behalten und sich eine Art Verfassung geben. In Juda wird das «Gesetz des Mose» zu diesem grundlegenden Text. Ob es sich dabei bereits um die fünf Bücher Mose, den Pentateuch, oder um eine Vorform davon handelte, ist unsicher. Neh 8 erzählt von der öffentlichen Verlesung dieses Gesetzes (hebr. Tora). «Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, so dass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten» (8,8). Die spätere jüdische Tradition knüpft daran die Gestaltung der Schriftlesung in der Synagoge an: das abschnittweise Lesen, die Übersetzung in die aramäische Volkssprache (Targum) und die Auslegung und Kommentierung des Gelesenen in Predigt und Midrasch (eine Art der Bibelauslegung, oftmals in Form von Geschichten, die im rabbinischen Judentum besondere Bedeutung gewann, die es aber auch schon in der Bibel selbst gibt). Wie sich die Schriftlesung in der Synagoge historisch entwickelte, ist kaum belegt. Eines der frühesten Dokumente ist Lk 4. Sicher ist, dass die Schrift im nachexilischen Judentum immer grössere Bedeutung erlangte. Bis heute dient die Lesung der Schrift ihrer kontinuierlichen Vergegenwärtigung.

Aus Neh 8 erfahren wir wenig über die Inhalte des Gelesenen. Dafür umso mehr darüber, was dazu beiträgt, dass ein Bibeltext verstanden wird und wirkt. Dafür ist es sinnvoll, etwas über die Textabgrenzung der Lesung hinauszublicken. Nach Neh 8,1 versammelt sich das ganze Volk Jerusalems und bittet den Priester und Schriftgelehrten Esra um das Buch des Gesetzes des Mose, die Tora. Die Initiative geht also vom Volk aus. Esra liest dem ganzen Volk vor, «den Männern und Frauen und allen, die es verstehen konnten» (8,2). Es ist eine öffentliche Lesung, der Text erschliesst sich in einer Gruppe. Ganz unterschiedliche Menschen beschäftigen sich mit ihm und hören ihn vermutlich auch unterschiedlich. Das Lesen braucht Zeit, Esra liest «vom frühen Morgen bis zum Mittag» (8,3), es braucht Aufmerksamkeit, die Menschen lauschen. Liturgische und rituelle Handlungen, die auch den Körper einbeziehen, begleiten die Lesung, auch die Raumgestaltung spielt eine Rolle (8,6). Der Text wird in Abschnitten vorgelesen und erklärt (8,8), vermutlich in kleineren Gruppen, daran wirken viele Menschen mit und bringen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten ein (8,7). Die Auseinandersetzung mit dem Text zeigt Wirkung: «Die Menschen weinten, als sie die Worte des Gesetzes hörten» (8,9).Warum weinen sie? Die Verantwortlichen deuten die Tränen als Trauer. Menschen hören die überlieferten Geschichten von der Befreiung aus Unterdrückung, von mühsamen Wanderungen, Irrwegen und Rückschritten und von der Begleitung Gottes auf diesen Wegen. Sie hören vom Bund zwischen Gott und Menschen, von Weisungen, die dem Leben in Gerechtigkeit und Frieden dienen, sie hören, dass ein Land verheissen ist, Raum für das Leben miteinander. Für mich bedeuten die Tränen, dass sie in den überlieferten Geschichten ihre eigene Geschichte entdecken, sich selbst als Teil der Überlieferung erfahren und davon tief berührt sind. Dazu gehört Trauer über all das, was gescheitert oder doch nur bruchstückhaft gelungen ist, vielleicht sind auch Tränen der Wut dabei über soviel Leid – früher und heute – und auch Freudentränen, weil die Geschichte weitergeht, weil die Verbindung mit dem geheimnisvollen und lebendigen Gott nicht abgerissen ist, sondern sie jetzt und hier mit einbezieht. Esra und die anderen Verantwortlichen bringen die Erfahrung, die alle machen, ins Wort: «Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren eures Gottes» (8,9), heute sind die Worte der Schrift lebendig und gegenwärtig geworden, heute haben sie sich erfüllt. Das ist ein Grund zu Freude. Esra lädt zu einem Fest ein. Die gemeinsame Erfahrung am Platz vor dem Wassertor wirkt weiter in die Häuser der Menschen und ihre Küchen, öffnet neben den Herzen auch die Speisekammern, ermöglicht Geniessen und Teilen. «Denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen verkündet hatte» (8,12).

Mit der Kirche lesen

«Heute hat sich das Schriftwort, das ihr gehört habt, erfüllt» (Lk 4,21). Jesus, der aus dem Propheten Jesaja vorliest und das Gelesene in die Gegenwart holt, steht damit in der Tradition Esras, in der jüdischen Tradition der Schriftlesung und Schriftauslegung. Der Evangelist Lukas steht in der Tradition der Autoren der Bücher Esra und Nehemia, wenn er sich entschliesst, «allem von Grund auf nachzugehen, um es ... aufzuschreiben».

Sie alle schreiben in entscheidenden Zeiten, in Wendezeiten. Die Autoren von Esra und Nehemia schreiben für das entstehende Judentum unter der Herrschaft fremder Mächte und Kulturen (die Perser zu der Zeit, in der die Bücher spielen, der Hellenismus zu der Zeit, als sie entstehen). Für sie bezeugen Tempel und Schrift die Kontinuität zur überlieferten Geschichte. Klare Abgrenzungen sind wichtig, um die eigene Identität aufzubauen und das Wesentliche zu bewahren. Lukas schreibt für das entstehende Christentum unter den Bedingungen des römischen Reiches. Der Tempel ist zerstört, die Trennung vom Judentum schreitet voran, neue Wege eröffnen sich, andere Menschen finden Zugang zum Gott der Bibel. Lukas sieht darin die Fortsetzung der früheren Geschichte und ihr Wesentliches verwirklicht. Weder Lukas noch Esra und Nehemia betreiben Geschichtsschreibung. Sie deuten im Licht ihres Glaubens die Erfahrungen ihrer Zeit und fragen, wie sich die Geschichte Gottes mit den Menschen darin fortsetzt. Sie sind eng miteinander verbunden in der Suche danach, wie die Schrift heute gelesen werden und wie sie sich heute erfüllen kann.