Wir beraten

In der Mitte der Nacht liegt der Anfang eines neuen Tags   

Rita Bahn zur Lesung in der Heiligen Nacht SKZ 50/2006

Alttestamentliche Lesung: Jes 9,1–6
Evangelium: Lk 2,1–14

Wohl zu allen Zeiten erleben Menschen – individuell wie kollektiv – existentielle Nacht-Zeiten, Zeiten, in denen sie sich in Finsternis getaucht fühlen, weil Trennung und Verlust sie erschüttern, ihnen Glaube und Vertrauen abhanden gekommen und sie voller Zweifel und Fragen sind, Depression ihr Leben als endlose Reihe grauer Tage erscheinen lässt, sie ausgegrenzt und abgestempelt oder Opfer von Kriegen, Terror, der ungerechten Verteilung der Ressourcen werden.

Immer wieder sind Menschen in ausweglos erscheinenden Situationen vor die Wahl gestellt, sich der Resignation anheimfallen zu lassen oder ihrer tiefen Sehnsucht nach Licht, nach Schicksalswenden und erfülltem Leben Raum zu geben. Gelingt ihnen Letzteres, führt ihre Erwartung sie zu neuer Hoffnung und verleiht ihnen damit neue Kraft zum Handeln.

Mit Israel lesen
In eine Nacht-Zeit hinein klingen im achten oder siebten Jahrhundert vor Christus die Worte des Prophetenbuchs. Wie die vorausgehenden Verse 8,19–23 erschliessen, haben sie zum einen das Volk im von Assur besetzten Nordreich im Blick. Aber auch zahlreiche Menschen in Juda befinden sich in einer Krise: Um Gott zu befragen, haben sie sich zugunsten illegitimer magischer Praktiken von der überlieferten Weisung abgewandt und sich damit in Leere und Abseits manövriert. Dort Hilfe suchend, wo keine zu finden ist, gehen sie nunmehr haltlos, desorientiert und schwarzsehend durchs Leben. Die Heilsschilderung unseres Textes trifft also in unterschiedlichste Arten von Dunkelheit: unter einer Besatzungsmacht (über)leben zu müssen, sich durch Fehlverhalten selbst um Lebensmöglichkeiten zu bringen, sich hier wie da von Gott verlassen zu fühlen.

In diese Finsternisse hinein wird die Zusage gemacht, dass Veränderung möglich ist und geschehen wird, und zwar eine alles umkehrende, grundlegende Veränderung, die Gottes Initiative entspringt. Gott bleibt nicht länger verborgen, sondern erweist sich als der Gegenwärtige, als der, der da ist. Von ihm her kommt ein strahlendes, die Dunkelheit beleuchtendes und vertreibendes Licht. Durch die erfahrene Nähe wird Gott wieder ansprechbar; und so kann die wiederhergestellte Beziehung zwischen ihm und seinem Volk gefeiert werden wie sonst die Erntefeste und die Feiern anlässlich militärischer Siege, bei denen Gott sein lebensspendendes und befreiendes Tun verdankt wird.

Nah zeigt sich Gott in der Niederschlagung der nicht namentlich genannten despotischen Macht. Alle Werkzeuge und Symbole von Unterdrückung und Willkürherrschaft werden zerstört. Das Volk kann sich wieder aufrichten, aufatmen, ist entlastet und befreit. Kriegsausrüstung wie die militärische Überlegenheit demonstrierenden hohen Schnürschuhe der Assyrer und die im Blut der Besiegten gewälzten Mäntel werden im Feuer ausgelöscht. Und so erhalten auch die Erinnerungen an den Lärm und Gestank des Krieges und die erlittenen Traumata die Möglichkeit, langsam zu verblassen und sich zu verwandeln.

Keineswegs zum ersten Mal wird Gott so handeln: Das Gedenken an den Kampf, den Gideon einst gegen die zahlenmässig überlegenen Midianiter angeführt und gewonnen hat (Ri 6,33–7,22), bezeugt Gottes Heilswillen in der Vergangenheit und nährt die Erwartung zukünftiger Befreiungstaten.

Nah zeigt sich Gott aber auch und vor allem in der Geburt eines fürstlichen Kindes, das als Nachfolger auf dem Thron Davids ein vereinigtes Reich regieren wird. Sein Name wird allerdings nicht genannt: Mag sich die Verheissung auch möglicherweise auf König Joschija beziehen, bleibt sie letztlich offen und trägt damit das Potential in sich, sich immer wieder auf neue Weise zu erfüllen.

Allein der vierte der nach ägyptischem Vorbild und Jerusalemer Sitte verliehenen Thronnamen, «Fürst des Friedens», ist einem Menschen angemessen. Die drei anderen stehen eigentlich nur Gott zu und bezeichnen hier wohl, dass und wie Gott durch die königliche Regentschaft zu wirken gedenkt. Das Fundament des davidischen Throns wird fortan genau wie das Fundament des Throns Gottes selbst aus Recht und Gerechtigkeit bestehen. In der Tat gilt, was in Jes 7,14 verheissen wurde: Immanuel, «Gott mit uns».

Wie auch immer Israel die Erfüllung dieser grossartigen Verheissung beurteilt haben mag, wird sich die in ihr steckende befreiende Botschaft der Nähe Gottes an jedem Menschen bewährt haben, der sich – seinen Kopf, sein Herz, all seine Sinne – im Alltag wie in speziellen Nacht-Zeiten auf Gott hin öffnete.

Mit der Kirche lesen

Seit der Zeit Kaiser Konstantins feiert die römische Kirche am 25. Dezember die Geburt Jesu Christi: Das heidnische Fest der Geburt der unbesiegbaren Sonne ist zum christlichen Fest der Geburt der Sonne der Gerechtigkeit geworden.

Wiederum wird eine Nacht hell, klingt ein Heilsgesang, jener der Engel, in eine Nacht-Zeit, nicht nur in die nächtliche Wache der Hirten auf dem Feld, sondern auch in die Nacht der Fremdherrschaft Roms über Palästina. Aus christlicher Sicht hat sich nun die alttestamentliche Verheissung erfüllt: Das königliche Kind ist geboren – es ist ein göttliches Kind. In ihm kommt Gott selbst auf die Erde, rückt er den Menschen unvergleichlich nah, wird ihnen zum Du, zum unmittelbaren Gegenüber. Gott ist ganz nahe bei den Menschen, bei allen, gerade auch bei denen am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala, bei den Armen und an den Rand Gedrängten, bei denen, die ganz besonders auf die Einhaltung des Rechts und das stete Streben nach Gerechtigkeit angewiesen sind.

So wird dieses Kind auch, entgegen der Vorstellung, die der alttestamentliche Text wecken mag, nicht in einem Palast, sondern in einem Stall geboren. Eigentlich ist dieses Geschehen alltäglich, unscheinbar, armselig – seine eigentliche Bedeutung zu erkennen, bedarf es wacher Sinne, liebevoller Herzen, Menschen, die auf Gott und seine Verheissungen ausgerichtet leben. Andererseits: Wer möchte schon bestreiten, dass sich mit der Geburt eines Kindes eine Wende vollzieht, dass mit jedem Kind ein neuer Anfang gesetzt, dass ein Kind die Hoffnung stärkt und Zukunft verspricht?

Der radikale Umbruch aber, der mit der Geburt Jesu seinen Anfang nimmt, wird erst Jahrzehnte später offenkundig als sein öffentliches Wirken beginnt: Er bringt Befreiung und Frieden denen, die in sich selber gefangen waren und lässt jene aufstehen und von neuem anfangen, die auf den Trümmern ihres Lebens sassen. Hinter wem er steht, hinter dem steht Gott.Wer von ihm angeblickt wird, der wird von Gott angeschaut.

Veränderungen im kollektiven wie persönlichen Leben geschehen selten von heute auf morgen: Sie brauchen Einsicht und Hoffnung, Willen ebenso wie Gelassenheit und Geduld – und vor allem das Vertrauen auf Gott, auf seine Nähe, seine Gegenwart mitten unter den Menschen. Dies ist die bleibende Verheissung für alle Nacht-Zeiten unseres Lebens: «In der Mitte der Nacht liegt der Anfang eines neuen Tags, und in ihrer dunklen Erde blüht die Hoffnung!»