Wir beraten

Ein Blick in die Zukunft   

Winfried Bader zur Lesung am 1. Adventssonntag SKZ 47/2006

Alttestamentliche Lesung: Jer 33,14–16
Evangelium: Lk 21,25–28.34–36

Der Alltag heute ist voller Zukunftsorakel: Da werden um diese Jahreszeit in jedem kleinen Verein, in jeder organisierten Gemeinschaft, in jeder Gemeinde bis hin zur Bundesregierung Budgets für das nächste Jahr verabschiedet, die alle die Zukunft voraussagen, indem sie behaupten zu wissen, wie hoch die Einnahmen im nächsten Jahr sind. Die Horoskopspalten sind inzwischen aus den Boulevardblättern in die Tageszeitungen gewandert und gelten als seriös, Kartenleger haben Hochkonjunktur und für Trendprognosen wird in Werbung und Politik viel Geld ausgegeben. Die einen, welche unternehmensstrategische Entscheidungen zu treffen haben, glauben an die Vorhersagen, weil sie nichts anderes haben, die anderen belächeln die Versuche und leben weiter wie bisher, und insgeheim wünscht sich jeder Börsianer den Aktienkurs von Morgen zu wissen.

Mit Israel lesen

Einen Blick in die Zukunft wagt auch Jeremia im Text der heutigen Lesung.

«Seht her», bittet Jeremia im Jetzt ganz gegenwärtig um Aufmerksamkeit für sein Wort, das durch die Zeitangabe, die unmittelbar folgt, in eine unbestimmte Zukunft gesetzt wird: «Die kommenden Tage». Das führt zur Grundspannung dieses Textes sowohl in seiner historischen Situation wie auch für uns heute. Warum machte es gerade in diesem Moment damals Sinn, von diesen unbestimmt kommenden Tagen zu reden? Wann erwarten wir Ausblicke in die Zukunft?

Einen ersten Hinweis auf Antworten zu diesen Fragen geben die folgenden beiden Sätze des Tages, sofern man sie nicht als übliche Floskel zur Einführung eines Prophetenwortes liest:

Spruch YHWHs, Verlautbarung von dem Gott, dessen Namen wir wissen, ist der Absenderstempel, den Jeremia seinen Worten aufdrückt. Die Beziehung zu Gott ist der Rahmen, in dem es auch in düsterer Gegenwart Sinn macht, über Zukunft nachzudenken. Auf der einen Seite Gott und auf der anderen Seite Israel und Juda sind die Kommunikationspartner, die zueinander reden («das ich – Gott – zum Hause Israel und zum Hause Juda gesprochen habe»), die miteinander in Beziehung stehen. Mit diesen Adressaten ist in der historischen Situation ein Programm verbunden. Das Nordreich Israel war längst untergegangen, das eigentliche Problem war das Überleben des kleinen Juda.Was also ausgedrückt wird, ist eine Hoffnung, die das aktuell Vorstellbare sprengt.

Versprochen wird, dass dieses «gute Wort aufsteht» – um das wörtliche Bild aus dem Hebräischen zu nehmen – dass es auf sich aufmerksam macht, von allen gesehen wird und wieder ins Bewusstsein kommt. Das ist also nicht ein «Erfüllen» – wie üblicherweise übersetzt wird – das von aussen geschieht, sondern es ist ein Prozess, der nur dann beginnt, wenn ein solches Wort in den Köpfen vorhanden ist, wenn es bekannt gemacht wird, wenn es Leuten wichtig wird. Nimmt man diesen Ansatz ernst, ist es nicht nur eine weitere Antwort auf die Eingangsfrage, sondern auch ein Hinweis, dass dieser Blick in die Zukunft keine billige Vertröstung ist. Es ist in einer realen schlechten Situation der Aufruf zu einem Gedankenwechsel, einem «mind shift»: Nehmt dieses gute Wort wichtig und sorgt dafür, dass es aufsteht und wirkt. Schon ein Perspektivenwechsel kann konkret befreiend wirken; denn wie bei unternehmerischen oder politischen Prognosen, wie beim Vorausahnen des Aktienkurses, man bekommt immer nur die Antwort auf das, wonach man fragt. Die Kunst ist es also, die richtige und wichtige Frage zu stellen. «Ein Spross wird hervorsprossen für David» ist die nächste Botschaft, die das Bild des Wachsens, Aufstehens und grösser Werdens fortsetzt. Es ist die grosse Hoffnung auf die Fortsetzung des davidischen Königtums, das die beiden Reiche Juda und Israel umfasste. Als politischen Traum der historischen Situation könnte man es heute schnell abtun, der Inhalt, mit dem es gefüllt wird, ist aber heute aktueller den je: Recht und Gerechtigkeit auf der Erde soll er herstellen, Rettung für Juda und Sicherheit für Jerusalem.

Abschliessend wird diese Situation mit einem Namen versehen – bis heute ein übliches Verfahren von Politikern, komplexe Situationen mit einer einfachen Bezeichnung zu benennen, um damit umgehen und sie handhaben zu können. Die beschriebenen Verhältnisse des Sprosses aus dem Davidsgeschlecht, dem Vorhandensein von Recht und Gerechtigkeit auf der Erde und von Rettung und Sicherheit für Juda und Jerusalem, werden durch Kurzformel gefasst: YHWH ist unsere Gerechtigkeit. Für uns wird es das geben, wenn wir in Beziehung sind zu diesem Gott, von dem wir sogar den Namen wissen.

Mit der Kirche lesen

Stellt man Jeremia das heutige Evangelium gegenüber, ist man erstaunt: Ausgerechnet die Frohe Botschaft kommt uns mit einem düsteren und Angst machenden Blick auf die Zukunft entgegen. Diese Spannung gilt es auszuhalten und darf nicht zu Gunsten des üblichen Klischees – das bedrohliche Alte Testament und das frohe Neue – wegdiskutiert werden.

Das Evangelium nimmt den menschlichen Wunsch auf, in die Zukunft zu sehen. Es geht darin über den Jeremia-Text hinaus, indem es typisch für die Apokalyptik konkrete Zeichen nennt, an denen man die eintreffende Zukunft erkennen kann, die auch hier durch eine Person beschrieben wird: Der Menschensohn, der in Macht und Herrlichkeit kommt. Bezieht man den Spross Davids aus Jeremia auf Jesus aus dem Stamme Davids – und oben wurde klar, dass man damit auch die für uns Christen wichtige Aussage des Textes verkürzt – so wird deutlich, dass Recht und Gerechtigkeit nicht als friedvolle Gemütlichkeit zu verstehen sind, sondern Engagement und einen grossen Einsatz verlangen.

Beide Texte werfen aber zu Beginn des Advents für uns die Frage auf:Was wollen wir von der Zukunft – ausser den Börsenkursen – denn überhaupt wirklich wissen?

Informationen zur historischen Situation
In der heute gängigen hebräischen Fassung des Jeremiabuches, hat Jeremia diese Verheissung in absolut aussichtsloser Situation gesprochen: Im 10. Jahr Zidkijas, dem König von Juda, und im 18. Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel – also im Jahr 586 – als das Heer der Babylonier Jerusalem belagerte, und Jeremia selbst im Wachhof Zidkijas eingesperrt war, weil er angeblich die Kampfmoral der Einwohner Jerusalems unterwandert hatte durch seine schlechten Prognosen (Jer 32,1–3). Es ist also wenige Tage vor der endgültigen Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier. Zidkija, der von Nebukadnezar selbst als judäischer König nach der ersten Eroberung und Deportation im Jahre 597 eingesetzt worden war, hatte aus der Vergangenheit nichts gelernt. Er hatte wieder versucht mit Ägypten zu koalieren, das aber zu schwach war, um nun zu helfen.

Weit verbreitet ist die Meinung, dass der Text von einem Redaktor nach dem Exil stammt, der als Motivation für den Aufbau des Landes und als Ziel für die Zukunft die theokratische Regierung des Landes durch einen davidischen König und levitische Priester in Aussicht stellte, es sich also um ein konkretes politisches Programm handelt, von dessen Erfüllung man aber noch weit weg war.