Wir beraten

«Nächstes Jahr in Jerusalem»   

Dieter Bauer zur Lesung am 2. Adventssonntag SKZ 48/2006

Alttestamentliche Lesung: Baruch 5,1–9
Evangelium: Lk 3,1–6

Wer träumt nicht davon: Dass alles einmal ins Lot kommt. Dass die Ungerechtigkeiten ein Ende nehmen. Gerade in Zeiten der Unterdrückung oder in Gegenden, wo Tag für Tag Ungerechtigkeiten durch die Mächtigen erlitten werden, ist dieser Traum oft das Einzige, was den Unterlegenen bleibt. Doch immer wieder steht auch jemand auf und sagt es laut: «Was krumm ist, soll gerade werden, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden» (Lk 3,5). Johannes der Täufer war so jemand. Er hat seinen Mund aufgemacht, auch angesichts der Mächtigen, die Lukas in seinem Evangelium aufzählt: «Kaiser Tiberius; Pontius Pilatus, Statthalter von Judäa; Herodes,Tetrarch von Galiläa; Philippus, Tetrarch von Ituräa und Trachonitis; Lysanias Tetrarch von Abilene; die Hohepriester Hannas und Kajaphas» (3,1f.). Er war nicht der Erste, der den Mund aufgemacht hat – und er wird hoffentlich auch nicht der Letzte bleiben.

Mit Israel lesen

Die heutige Lesung ist dem Buch Baruch entnommen. Im Buch Baruch erhebt jemand die Stimme des Propheten, indem er auf die Überlieferung Israels zurückschaut und daraus Zukunftsperspektive gewinnt. Nichts am Buch Baruch ist wirklich originell. Fast jedes Wort findet sich bereits im Alten Testament. Aber «Baruch» – ein Pseudonym aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. – will auch nichts wirklich Neues sagen. Ausgehend von der Moseüberlieferung über die Prophetentexte eines Jeremia und (Deutero)Jesaja und die Weisheitsüberlieferungen z. B. eines Jesus Sirach konzentriert er das für Israel Wegweisende. Als profunder Kenner der Tora, der Schriften und Propheten erinnert und bekräftigt er das Zentrale der biblischen Überlieferung: Obwohl Israel noch immer «im Exil», in der Diaspora lebt, steht Gott zu seinen Verheissungen, «denn Gott hat befohlen: Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, sodass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann» (Bar 5,7; vgl. Jes 40,3f.).

Jerusalem, die Stadt Gottes, wird aufgefordert: «Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht» (vgl. Jes 52,1; 61,10). Schön geschmückt soll die Stadt die aus dem Exil Heimkehrenden erwarten: «Gott bringt sie heim zu dir, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte» (vgl. Jes 66,20).

Hat sich diese Hoffnung je erfüllt? Oder hat das Volk Gottes nicht vielmehr bis heute noch unsäglich mehr Leid in der Zerstreuung erfahren müssen, als damals absehbar gewesen wäre? Und lebt der grösste Teil nicht noch immer «im Exil»?

Natürlich kann man das so sehen, dass all diese Verheissungen leere Versprechungen waren. Dass sich die Propheten (wieder mal) geirrt haben. Dass die Welt sich eben nicht ändert. Und dass nun mal die Mächtigen die Welt regieren – trotz aller Hoffnungen der Ohnmächtigen.

Mir hingegen imponiert in diesem Zusammenhang der traditionelle Abschiedsgruss der Juden: «Nächstes Jahr in Jerusalem». Er zeigt die Kraft einer Verheissung, die sie sich einfach nicht nehmen lassen.

Mit der Kirche lesen

Und was hat das nun alles mit uns zu tun? Mit uns Christen, die wir den 2. Advent feiern und wie jedes Jahr auf die Ankunft des Messias warten? Erreichen uns die Worte des Täufers noch, der an die uralte Verheissung anknüpft und sich die Hoffnung nicht nehmen lässt? «Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Strassen! Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, jeder Berg und Hügel sich senken.Was krumm ist, soll gerade werden, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt» (Lk 3,4–6).

Der Prophet Johannes hat wie vor ihm Deuterojesaja und Baruch darauf gesetzt, dass Gott zu seinen Verheissungen steht. Dass der Jetztzustand ganz und gar nicht dem Reich Gottes entspricht. Dass das Volk noch längst nicht heimgekehrt ist. Dass das Reich Gottes noch immer nicht angebrochen ist.

Die christliche Kirche sieht ihn als Wegbereiter Jesu von Nazaret, des Messias. Er wird das Reich Gottes für angekommen erklären (Mk 1,15) – nicht als «nahe herbeigekommen», wie meist – warum wohl? – übersetzt wird! Mit Jesus ist erfahrbar geworden, was diese «Heimkehr» bedeutet: «Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet» (Lk 7,22; vgl. Jes 26,19; 29,18; 35,5 f.; 61,1). Die Randständigen und Opfer der Mächtigen erhalten bei Jesus ihre Menschenwürde zurück. Sie dürfen erfahren, wie Gott sich den Menschen «von Anfang an» gedacht hat.

Wie Johannes, so muss aber auch Jesus von Nazaret die Erfahrung machen, dass die grosse Mehrheit der Menschen an solchem «Umsturz» nicht interessiert ist. Die Grossen und Mächtigen leiden nicht an all dem, was «krumm» und «uneben» ist in dieser Welt. Sie leben von diesen Ungerechtigkeiten. Und nur zu viele meinen, wenn sie sich mit diesen Mächtigen gemein machen, auch etwas von deren Brosamen abzubekommen. Und so haben sie Johannes den Täufer im Gefängnis verschwinden lassen und Jesus von Nazaret ans Kreuz geschlagen. Sie haben gemeint, dass sich das Problem der Ungerechtigkeit auf dieser Welt dadurch lösen lässt, dass man diejenigen verschwinden lässt, die darauf aufmerksam machen.

Aber – so glauben zumindest wir zusammen mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern – da haben sie sich geirrt. Noch immer ertönt der Gruss: «Nächstes Jahr in Jerusalem. » Und noch immer begehen Christen jeden Sonntag die Feier von Jesu Auferstehung. Trotz all den Kaisern und Statthaltern, Tetrarchen und Hohepriestern, Präsidenten und Wirtschaftsbossen!

Informationen zu Baruch
Das Büchlein Baruch gehört zu den deuterokanonischen Schriften, d. h. es findet sich weder im jüdischen, noch im protestantischen Kanon des ATs. Verfasst wurde es im 1. Jh. v. Chr. als eine Art «Kompendium» für das Judentum in der Zerstreuung. Für die unter griechischrömischem Kultureinfluss lebenden und unter wirtschaftlicher und politischer Herrschaft leidenden Jüdinnen und Juden war es wichtig, sich immer wieder der eigenen Traditionen und Geschichten zu vergewissern. Dazu leistete das Buch Baruch einen wichtigen Beitrag, weil es die traditionellen Formeln nicht nur repetierte, sondern sie in der Sprache der Zeit und in Bezug auf die Zeichen der Zeit aktualisierte (Thomas Staubli).

Das Büchlein Baruch ist eine pseudepigraphe Schrift, d. h. der Verfasser gibt sich als Sekretär des Jeremia aus. Dieses literarische Verfahren, das gleichzeitig auch in der apokalyptischen Literatur aufkommt, erlaubt es dem Verfasser, sowohl die Zeit des frühen Exils zu kommentieren, als auch in seinen Hoffnungsperspektiven glaubwürdig zu erscheinen. Baruch erfuhr im Judentum grosse Verehrung, was sich auch in weiteren Schriften niedergeschlagen hat, die seinen Namen tragen, z. B. zwei «Baruchapokalypsen».