Wir beraten

Damit es neu anfängt. . . Zum Bibelsonntag 2006   

Dieter Bauer, SKZ 45/2006

Zum diesjährigen Bibelsonntag (19.November) wurde vom vierköpfigen ökumenischen Team der Text der Markusapokalypse ins Zentrum der Verkündigung gestellt.1 Es ist auch der reguläre Evangelientext des Lesejahres in der katholischen Kirche. Und es ist kein «einfacher» Bibeltext: Aber in jenen Tagen, nach der grossen Not, wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit grosser Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen (Mk 13,24–26).

Da wird einem Gottesdienstbesucher doch zumindest etwas mulmig dabei, wenn ausgerechnet dieser Text als Evangelium verkündet wird. Ich persönlich habe jedenfalls sehr unangenehme Erinnerungen daran, dass mir als Kind immer wieder dieser Text in den Sinn gekommen ist, wenn ich irgendwelche seltsame Himmelsbeobachtungen gemacht habe: Ist es etwa schon so weit? Kommt jetzt das Endgericht? Solche Fragen kamen mir in den Sinn, immer wieder neu geschürt durch die Verkündigung dieses Evangelientextes. Heute nach einem Theologiestudium und einer langjährigen Beschäftigung mit apokalyptischen machen mir solche Texte keine Angst mehr. Aber als ziemlich fremd empfinde ich sie immer noch. Wie kommt ein solcher Text ins Evangelium? «Evangelium» heisst ja bekanntlich «Frohbotschaft»!

Jesus und der Tempel in Jerusalem
Gleich vorweg: Auch innerhalb des Markusevangeliums, dem die obigen Zeilen entnommen sind, wirkt der Text wie ein Fremdkörper. Markus überliefert dieses Kapitel 13, meist überschrieben mit «Die Rede über die Endzeit», innerhalb seiner Passionserzählung. Das gibt uns immerhin schon einmal einen wichtigen Hinweis, wie der Evangelist dieses Kapitel verstanden haben möchte.

Die «Rede Jesu über die Endzeit» stellt nämlich nicht irgendeine dogmatische Abhandlung über «die letzten Dinge» dar, sondern ist motiviert durch Fragen der Jünger Jesu:

Als Jesus den Tempel verliess, sagte einer von seinen Jüngern zu ihm: Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten! Jesus sagte zu ihm: Siehst du diese grossen Bauten? Kein Stein wird auf dem andern bleiben, alles wird niedergerissen. Und als er auf dem Ölberg sass, dem Tempel gegenüber, fragten ihn Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas, die mit ihm allein waren: Sag uns, wann wird das geschehen, und an welchem Zeichen wird man erkennen, dass das Ende von all dem bevorsteht? (Mk 13,1–4).

Die Situation, die uns der Evangelist vor Augen stellt, ist folgende: Jesus verlässt am Abend den Tempel, der sein bevorzugter Aufenthaltsort in Jerusalem gewesen war, wie gewohnt nach Osten in Richtung Betanien, wo er während des Paschafestes Unterkunft gefunden hat. Dazu durchquert er wohl das «Goldene Tor» und überquert das Kidrontal, um dann am gegenüberliegenden Ölberg wieder aufzusteigen. Auf diesem Weg bewundern die Jünger den prächtigen herodianischen Tempel, der kurz vor seiner Fertigstellung stand. Wir können uns die Pracht dieses Tempels heute nur schwer vorstellen. Hätte er länger Bestand gehabt, wäre er sicher unter die Weltwunder gerechnet worden. Und die jüdische Überlieferung schwärmt: «Wer nicht das Heiligtum in seiner Bauausführung gesehen hat, hat niemals einen Prachtbau gesehen.»

Jesus, der mit der Verkündigung seiner Botschaft vom Anbrechen des Gottesreiches in Galiläa begonnen hatte, war als Teilnehmer am Paschafest mit seinen Jüngern nach Jerusalem gekommen. Nach der Markusüberlieferung war er gleich bei seiner Ankunft in den Tempel gegangen, um ihn zu besichtigen (Mk 11,11). Bereits am folgenden Tag kam es zum Eklat: Jesus warf in prophetischem Zorn Händler und Käufer vom Tempelgelände (11,11–15). Trotzdem hält er sich auch am folgenden Tag wieder im Tempel auf und führt vor allem Streitgespräche mit den «Hohepriestern und Schriftgelehrten», also den politischen und religiösen Autoritäten seiner Zeit. Diese hätten ihn am liebsten beseitigt, weil er das Treiben am Tempel – immerhin das Zentrum jüdischen Glaubens und höchster Wallfahrtsort – scharf angriff (11,18; 12,12).

Man muss sich vergegenwärtigen, dass es vor allem Jesu Kritik am Tempel war, die zu seinem Todesurteil geführt hat. In allen vier Passionserzählungen, die die Evangelisten überliefern, spielt ein Jesuswort gegen den Tempel den Hauptanklagepunkt: «Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen von Menschen erbauten Tempel niederreissen und in drei Tagen einen anderen errichten, der nicht von Menschenhand gemacht ist» (Mk 14,58).

Wenn Jesus also zu seinen Jüngern sagt: «Kein Stein wird auf dem andern bleiben, alles wird niedergerissen», dann sehen wir, dass er sich von diesem Prestigebau des Königs Herodes nicht blenden liess. Er hat diesen Bau, von dem alle schwärmten, als etwas sehr Vorläufiges angesehen und Steine nicht für religiös bedeutsam gehalten. Daraus haben ihm dann offensichtlich seine Gegner einen Strick gedreht. Wer es wagte, mitten in Jerusalem das religiöse, politische und vor allem auch wirtschaftliche Zentrum – die Mehrzahl der Jerusalemer lebte vom Tempelbetrieb! – so massiv anzugreifen, wie Jesus es getan hatte, musste sich Feinde schaffen.

Die Zerstörung des Tempel, durch die Römer
Jesus sollte in seiner Skepsis Recht behalten: 40 Jahre nach seinem Tod sank auch der Tempel in Trümmer. Der spätere römische Kaiser Titus hat den Aufstand der Juden gegen die römische Besatzungsmacht blutig niedergeschlagen und im Jahr 70 n. Chr. Jerusalem erobert und den Tempel niedergerissen. Kein Stein blieb auf dem anderen.

In dieser Zeit des jüdischen Aufstands lebten bereits kleine christliche Gemeinden in und um Jerusalem. Sie wurden in den blutigen Strudel der Ereignisse mithineingerissen, ohne dass sie etwas dafür gekonnt hätten, im Gegenteil: sie wollten sich am Aufstand gerade nicht beteiligen und mussten dafür – als «unsichere Elemente» – jüdische Repressalien erdulden. Und für die Römer gab es sowieso keinen Unterschied zwischen den Juden und diesen kleinen «christlichen Sekten». Die Christen sassen zwischen allen Stühlen!

In einer solchen Zeit sind natürlich die Worte Jesu über Jerusalem und den Tempel hochaktuell geworden. Angesichts der drohenden römischen Legionen war die Zerstörung Jerusalems und die frevlerische Zerstörung des Tempels einigermassen vorhersehbar geworden. Sicher haben in den christlichen Gemeinden solche Jesusüberlieferungen kursiert, wo er die Zerstörung des Tempels angekündigt hatte. Wahrscheinlich entstanden auch neue Schriften, in denen die Jesusworte für die aktuelle Situation ausgelegt wurden, als «Flugblätter» oder Ähnliches:

Gebt Acht, dass euch niemand irreführt! Viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! Und sie werden viele irreführen. Wenn ihr dann von Kriegen hört und Nachrichten über Kriege euch beunruhigen, lasst euch nicht erschrecken! Das muss geschehen. Es ist aber noch nicht das Ende. Denn ein Volk wird sich gegen das andere erheben und ein Reich gegen das andere. Und an vielen Orten wird es Erdbeben und Hungersnöte geben. Doch das ist erst der Anfang der Wehen. Ihr aber, macht euch darauf gefasst: Man wird euch um meinetwillen vor die Gerichte bringen, in den Synagogen misshandeln und vor Statthalter und Könige stellen, damit ihr vor ihnen Zeugnis ablegt. Vor dem Ende aber muss allen Völkern das Evangelium verkündet werden. Und wenn man euch abführt und vor Gericht stellt, dann macht euch nicht im Voraus Sorgen, was ihr sagen sollt; sondern was euch in jener Stunde eingegeben wird, das sagt! Denn nicht ihr werdet dann reden, sondern der Heilige Geist (Mk 13,5–11).

Die Christen sind in äusserster Bedrängnis. Bei den jüdischen Gemeinden werden sie als «Abweichler» angesehen, weil sie sich nicht am Aufstand beteiligen: sie müssen die Synagogenstrafen erleiden. Bei den Römern werden sie mit den aufständischen Juden in einen Topf geworfen und müssen sich vor den römischen Gerichten und dem Statthalter verantworten. In solcher Zeit versucht der obige Text zu trösten. Er will nicht Angst machen – die Angst ist ja bereits da –, sondern die Angst nehmen: «der Heilige Geist», der Beistand Gottes, ist mit ihnen. Auch wenn sie meinen, dass die ganze Welt in Aufruhr ist, dass sie den Boden unter den Füssen verlieren und nichts mehr Bestand hat, brauchen sie keine Angst zu haben. Ihnen wird anvertraut, dass dies erst der Anfang ist, dass es zwar eher noch schlimmer kommt. Dass das aber kein Grund zur Panik sein muss.

Die Ängste ernst nehmen
Unser Autor nimmt die Ängste seiner Leserinnen und Leser sehr ernst:

Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und die Kinder werden sich gegen ihre Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken. Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden; wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet. Wenn ihr aber den unheilvollen Gräuel an dem Ort seht, wo er nicht stehen darf – der Leser begreife –, dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; wer gerade auf dem Dach ist, soll nicht hinabsteigen und ins Haus gehen, um etwas mitzunehmen; wer auf dem Feld ist, soll nicht zurückkehren, um seinen Mantel zu holen. Weh aber den Frauen, die in jenen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen. Betet darum, dass dies alles nicht im Winter eintritt. Denn jene Tage werden eine Not bringen, wie es noch nie eine gegeben hat, seit Gott die Welt erschuf, und wie es auch keine mehr geben wird. Und wenn der Herr diese Zeit nicht verkürzen würde, dann würde kein Mensch gerettet; aber um seiner Auserwählten willen hat er diese Zeit verkürzt (Mk 13, 12–20).

Wir werden direkt mit hineingenommen in den Strudel der Ereignisse. Uns machen solche Worte Angst. Aber wir leben ja auch auf der sicheren Seite des Lebens. Für die damaligen Leserinnen und Leser waren diese Ereignisse aktuelle Wirklichkeit: der Riss ging mitten durch die Familien; wer standhaft zu seinem Glauben stand, hatte den Eindruck, alle gegen sich zu haben; «der unheilvolle Gräuel» – wahrscheinlich eine Anspielung auf die römischen Legionen und Ihre Standarten mit dem göttlichen Kaiserbild – drohte, den Tempel zu entweihen. Da war alles zu spät, da blieb nur noch die Flucht, deren Hauptopfer – heute noch (!) – vor allem die Frauen und kleinen Kinder sind. Wer würde angesichts heutiger «apokalyptischer» Bilder aus den Krisenregionen dieser Welt nicht an solche Texte erinnert? Und auch dort fragen die Menschen: «Wie lange noch?» «Wie lange kann ein Mensch das aushalten?»

Das sind Fragen, die Menschen in solcher Not seit jeher gestellt haben. Und unser Autor versucht zu trösten: es wird zwar eher noch schlimmer kommen, aber Gott selbst wird eingreifen. Wenn er das nicht täte, würden alle zugrunde gehen. Aber Gott lässt seine Auserwählten nicht im Stich. Um dieser Menschen willen wird er eingreifen!

Unser Autor hat es nicht leicht. In einer solchen Zeit bieten sich viele an, die den Weg aus der Not weisen wollen. Viele kommen mit Rezepten oder reden fromm daher, um aus der Notlage Profit zu schlagen. Es ist nicht schwer, total verängstigten Menschen die (angeblich) rettende Hand so entgegenzustrecken, dass sie sie ergreifen. Doch unser Autor warnt:

Wenn dann jemand zu euch sagt: Seht, hier ist der Messias!, oder: Seht, dort ist er!, so glaubt es nicht! Denn es wird mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet auftreten, und sie werden Zeichen und Wunder tun, um, wenn möglich, die Auserwählten irrezuführen. Ihr aber, seht euch vor! Ich habe euch alles vorausgesagt (Mk 13,21–23).

Mit der Autorität Jesu, mit der Erinnerung an seine Worte, versucht er die christlichen Gemeinden zu «impfen» gegen Falschpropheten und falsche Messiasse. Sie sollen sich durch nichts beeindrucken und vom Weg abbringen lassen.

Die Rettung steht «vor der Tür»!
Wie aber wird Gott eingreifen? Unser Autor bedient sich zur Beschreibung des Eingreifens Gottes uralter biblischer Bilder. Wo Gott begegnet, bebt die Erde, die Sonne verfinstert sich, die Sterne – vor allem die «Stars», die viele geblendet haben – werden vom Himmel fallen und dem Neuen Platz machen, das da von Gott her kommt. Ganz in der Sprache alttestamentlicher Propheten spricht unser Autor vom «Tag des Herrn»:

Aber in jenen Tagen, nach der grossen Not, wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden (Mk 13,24f ).

Und er greift die uralte Hoffnung vom «Kommen des Menschensohnes» auf, in der Bibel erstmals formuliert im Buch Daniel und schon sehr früh auf Jesus gedeutet. Wenn es jemals einen wirklichen «Menschen » gegeben hat, dann war es Jesus. Er war es, der Zeit seines Lebens nichts unversucht liess, dieser verkehrten Welt den Spiegel vorzuhalten. Er hat die um sich gesammelt, die mit ihm an das Anbrechen des Gottesreiches geglaubt haben – symbolisiert in den zwölf Jüngern, die für das neue Gottesvolk standen:

Dann wird man den Menschensohn mit grosser Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen. Und er wird die Engel aussenden und die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels (Mk 13,26 f.).

Vom Himmel her – d. h. von Gott her – wird Jesus, der Menschensohn, erwartet. Er soll diese Welt, die zumindest in Jerusalem um das Jahr 70 n. Chr. aus «Blut, Schweiss und Tränen» bestand, in Ordnung bringen. Das ist die ganze Hoffnung unseres Autors, die er seinen Leserinnen und Lesern weiterzugeben versucht. Doch woher diese Hoffnung nehmen?

Damit es neu anfängt...
Bereits Jesus selbst ist offensichtlich immer wieder gefragt worden, woher er die Hoffnung nehme, dass sich das Gottesreich schliesslich in dieser Welt durchsetzen werde. Er hat einen Vergleich mit der Natur gezogen:

Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr (all) das geschehen seht, dass das Ende vor der Tür steht. Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen (Mk 13,28–31).

Mir kommt da das berühmte Gedicht von Schalom ben Chorin in den Sinn, in dem er von seiner Hoffnung erzählt: «Freunde, dass der Mandelzweig, wieder Blüten treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?» Es ist dies kein Beweis, nicht mehr als ein Zeichen ist es, das glaubend angenommen sein will. Wir hätten gerne mehr Sicherheit.

Von daher klingen die folgenden Worte fast wie eine Antwort auf die Frage: «Wenn ich nur wüsste, wann das alles kommt, dann könnte ich mich darauf vorbereiten. Wann also soll das geschehen?» (vgl. Mk 13,4).

Das ist aber weder die Frage der Jünger Jesu gewesen, noch die Frage der im Jüdischen Krieg verfolgten christlichen Gemeinden. Das ist bereits die Frage derer, für die Markus sein Evangelium nach dem Jüdischen Krieg, nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels schreibt. Es gab Christen, die davongekommen waren. Aber der Menschensohn ist nicht gekommen, jedenfalls nicht so, wie erwartet. Wann kommt er also dann? Auf diese Frage versucht Markus die folgende Antwort:

Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater. Seht euch also vor, und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verliess, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug alle Verantwortung seinen Dienern, jedem eine bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam! (Mk 13,32–37).

Allezeit bereit zu sein, immer mit dem Eingreifen Gottes zu rechnen, die Zeichen der Zeit wirklich wahrzunehmen, das ist es, was uns das Markusevangelium empfiehlt: Damit es neu anfängt ...

Glauben an das Unmögliche
Der Glaube an ein direktes Eingreifen Gottes in unsere Geschichte, zumal in solchen politischen und kosmischen Zusammenhängen wie im obigen Text, ist bei uns Christen nicht sehr verbreitet. Das kann viele Gründe haben. Zwei davon möchte ich am Ende dieses Beitrags zum Bibelsonntag zumindest kurz benennen:

1. Seit jeher haben wir Menschen Mühe damit, uns etwas schenken zu lassen. Wir streben nach Unabhängigkeit, wir wollen selber etwas schaffen, unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen. Eigentlich glauben wir vor allem an uns selbst. Und was wir nicht schaffen können, das halten wir für unmöglich. Gott und die Möglichkeit eines Wunders sind nicht vorgesehen.

Apokalyptische Texte aber wie der oben besprochene rechnen mit dem Wunder von Gottes Eingreifen in diese Gewaltgeschichte. Können wir so etwas noch glauben, angesichts der Gräuel, die täglich auf unseren Bildschirmen zu sehen sind?

2. Vielleicht wollen wir aber auch gar nicht, dass Gott eingreift. Je nachdem, wie gut es mir nämlich selber geht, dränge ich auf eine Veränderung meiner Situation – oder auch nicht. Daher rührt zum Beispiel, dass apokalyptische Texte wie der oben besprochene, in Gegenden unserer Erdkugel, in denen Menschen unter massiver Verfolgung und Not leiden, viel unmittelbarer verstanden werden, und zwar als tröstende Texte. Diese Menschen in Afrika, in Lateinamerika, in Indien können sich eine Zukunft nur vorstellen, wenn ihre Welt sich massiv verändert, wenn das Unterste nach oben gekehrt wird, wie Maria, die Mutter Jesu, im Magnifikat singt: «Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen» (Lk 1,52). Daran haben natürlich die Mächtigen kein Interesse.

Dieter Bauer ist Zentralsekretär des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle in Zürich.

1 Bibelpastorale Arbeitsstelle SKB / Schweizerische Bibelgesellschaft (Hrsg.): Damit es neu anfängt ... Impulse aus der Markusapokalypse (Markus 13). Ökumenische Unterlagen zum Bibelsonntag 2006. Zürich-Biel 2006, broschiert, 24 Seiten, 10 Franken. Die Materialien wurden den Pfarrämtern bereits kostenlos zugesandt. Nachbestellungen bitte an: Bibelpastorale Arbeitsstelle SKB, Bederstrasse 76, 8002 Zürich, Telefon 044 205 99 60, E-Mail infobibelwerk.ch.