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Der Kampf mit dem Schatten   

Es ist schon seltsam: Obwohl das Wort «Schatten» darin gar nicht auftaucht, ist mir beim Nachdenken über «Schatten» in der Bibel spontan die Jakobsgeschichte eingefallen. In Genesis 25-35 wird sehr ausführlich von diesem Stammvater Israels erzählt. Und vom «Schatten» ist in dieser Geschichte unglaublich viel die Rede, aber eben in übertragenem Sinn.

Im Schatten des älteren Bruders

Es beginnt schon damit, dass Jakob einen älteren Zwillingsbruder hat. Der Altersunterschied mag bei Zwillingen lächerlich erscheinen. Rechtlich stellte er allerdings für den Jüngeren damals ein Riesenproblem dar. Und Zwillinge können manchmal heute noch einiges erzählen von einer Konkurrenz, die keiner wirklich ernst nimmt. Von Anfang an jedenfalls kämpft der kleine Jakob gegen den übermächtigen Bruder: Bereits bei der Geburt hängt er an seinem Fuss und wird der «Fersenhalter» genannt. Und dass Esau, der ältere Bruder, auch noch der Lieblingssohn des Vaters ist, macht das Ganze auch nicht einfacher.
Jakob muss schauen, wo er bleibt. Und er sucht sich seine Räume dort, wo sein Bruder lieber nicht ist: im Haus bei der Mutter. Rebekka spürt dies und hilft ihm, wo sie kann. Und das auch nicht immer mit lauteren Mitteln. Als Isaak bereits alt und blind geworden ist – hat er das Problem in seiner Familie jemals wahrgenommen? –, hilft Rebekka ihrem Liebling dabei, den Vater zu betrügen. Indem er sich für den älteren Bruder ausgibt, erhält er den Segen des Vaters. Und natürlich trachtet ihm Esau, nachdem der Betrug auffliegt, nach dem Leben. Jakob muss fliehen. Und seine Mutter schickt ihn zu ihrer eigenen Verwandtschaft.
Die ganze Geschichte scheint ziemlich verkorkst. Und doch ist sie so sehr «aus dem Leben gegriffen», dass man geradezu erschrecken kann: Niemand hat sich seine Familienverhältnisse ausgesucht. An welcher Stelle der Geschwisterreihe ich geboren werde, ist Schicksal. Und doch bestimmt das oft das ganze Leben. Und selbst die Tatsache, dass Eltern Kinder bevorzugen, hat meist wenig mit den jeweiligen Kindern zu tun, aber sehr viel mit der eigenen Kindheit. Oft sehen Eltern in ihren Kindern die Möglichkeiten, die sie selbst nicht hatten oder nie leben durften. Und dann werden sie entsprechend gefördert, oder es wird von ihnen gefordert, was eigentlich nur die Eltern wollen. Wie ein Schatten liegt dies auf den Kindern, ohne dass sie etwas dafür können.
Jakob zum Beispiel wird den Schatten seines Bruders, aber auch den des erschlichenen Segens, fast sein ganzes Leben lang nicht mehr los. Auch wenn er es versucht: Er kann ihm nicht entfliehen.

Die Flucht vor dem Schatten

Jakob versucht, sich in der Fremde ein neues Leben aufzubauen. Und zunächst scheint alles wunderbar: Er lernt ein Mädchen kennen, das er liebt: Rahel. Er findet Arbeit und möchte eine Familie gründen. Doch in der Hochtzeitsnacht wird er betrogen. Auch die Frau, die er liebt, hat eine ältere Schwester: Lea. Und diese muss Jakob zuerst heiraten. Seine eigene Geschichte hat ihn wieder eingeholt. Und selbst die Tatsache, dass er dann doch noch Rahel heiraten darf, die er von Herzen liebt, ist kein wirklicher Trost. Die beiden Schwestern konkurrieren um seine Zuneigung, bis er sich kaum mehr zu helfen weiss. Und auch sein Schwiegervater Laban erweist sich als mindestens so durchtrieben wie Jakob selbst. Jakob kommt auf keinen grünen Zweig. Wieder bleibt ihm nur die Flucht. Aber wohin?

Der Kampf mit dem Schatten

Jakob bleibt nichts anderes übrig, als wieder nachhause zu ziehen, dorthin, wo er als junger Mann weggelaufen war. Wir erfahren nicht viel über seine Gefühle. Jedenfalls nicht direkt. Aber indirekt doch sehr viel: An der Grenze zu seiner Heimat liegt ein Fluss, den er erst überqueren muss. Aber irgendwie kann er das nicht. Alle bringt er hinüber: Frauen, Kinder und Gepäck, nur er selbst bleibt alleine zurück. Und es wird Nacht.
In dieser Nacht muss Jakob kämpfen. Die Geschichte selbst bleibt da sehr «im Dunklen», wer sein eigentlicher Gegner ist. Es heisst einfach, ein «Mann» habe ihn überfallen. Dieser «Mann» wird oft als Engel gedeutet, als Bote Gottes. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Gott ihn in diese nächtliche Krise führt. Schliesslich muss er am nächsten Tag seinem älteren Bruder gegenübertreten, den er so schmählich betrogen hat. Die Schatten der Vergangenheit haben ihn wieder einmal eigeholt. Mit ihnen muss er sich in dieser Nacht auseinandersetzen. Das ist sein Kampf: Mit sich selbst, mit seinem Bruder, mit dem Schatten, der wegen des erschlichenen Segens auf ihm liegt. Und er muss sich dazu bekennen. Als er gefragt wird, wer er denn sei, muss er sagen: «Jakob», der «Fersenhalter». Sein Bruder hatte das übersetzt mit: «Betrüger» (Gen 27,36). Jakob muss zu seiner Vergangenheit stehen, weil es für ihn sonst keine Zukunft gibt. Und überrascht stellen wir fest, dass er noch immer um den «Segen» kämpft. Offensichtlich hat er dem erschlichenen Segen nie getraut.
Mit seiner ehrlichen Auseinandersetzung mit sich selbst und den Schatten der Vergangenheit erwirbt er sich nun wirklich den Segen, um den er ein Leben lang gerungen hat. Und er wird ein anderer. «Israel» wird er nun genannt: «Kämpfer gegen Gott und Mensch». Und es war wahrlich ein harter Kampf gewesen. Nicht ohne Verletzungen ist er abgegangen: Jakob, heisst es, hinkte danach an seiner Hüfte. Aber er konnte die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen, und «die Sonne schien auf ihn» (Gen 32,32).

Zukunft für beide

Was nun folgt, die Wiederbegegnung der beiden Brüder, ist eine der schönsten Geschichten der Bibel. Mit offenen Armen kommt Esau seinem Bruder entgegen: «Was willst du mit dem ganzen Auftrieb?» fragt er ihn, als er die vielen Versöhnungsgeschenke sieht, die dieser ihm entgegenschickt. «Ich habe selber genug, Bruder.» Die Schatten sind wie weggeblasen. Und Jakob kann zu seinem Bruder sagen: «Ich habe dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, denn du bist mir wohlwollend begegnet» (Gen 33,11).

Dieter Bauer