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Musik   

Von der heilenden Kraft der Musik

Ich weiss nicht mehr genau, wie alt mein kleiner Sohn damals war. Jedenfalls konnte er noch nicht lesen. Und ich musste ihm jeden Abend eine Geschichte aus seiner Kinderbibel erzählen. Das sah so aus, dass er sich ein schönes Bild aussuchte und dann die dazugehörige Geschichte hören wollte.
Eines Abends hatte er sich ein Hirtenbild ausgesucht. Der Text war der Psalm 23: «Der Herr ist mein Hirte ...» Und ich sagte ihm, dass das leider keine Geschichte sei, sondern eher ein Gebet oder ein Lied. Jetzt war er neugierig geworden: «Was für ein Lied denn?» Und ich erzählte ihm: «Weisst Du, als David noch kein König, sondern noch ein Kind war, da musste er immer für seinen Vater die Schafe hüten. Dabei kam er oft weit weg von daheim, und manchmal hat er sicher auch Angst bekommen. Dann hat er sich selber Mut gemacht und hat laut gesungen: Gott ist mein Hirte, und mir fehlt gar nichts. Und selbst im finstersten Tal habe ich keine Angst, weil ich weiss, dass Du, lieber Gott, bei mir bist. Du führst mich an die schönsten Plätze, und wenn ich Durst habe, lässt Du mich Wasser finden ...»
Mein Sohn war zufrieden mit der Geschichte, und eigentlich meinte ich, er würde jetzt friedlich einschlafen. Bis ich einige Zeit später an seinem Zimmer vorbeikam und ihn lauthals singen hörte. «Was singst Du denn da mitten in der Nacht?» – «Du hast gesagt, das sei ein Lied. Und ein Lied muss man singen, sonst hilft es nicht.» Etwas beschämt musste ich ihm Recht geben: Ein Lied muss man singen ...

Musik macht Schweres leicht
Mein Sohn konnte damals noch nicht wissen, dass man von David erzählt, er habe eine Unzahl von Liedern gedichtet. Viele Psalmen werden unter seinem Namen überliefert. Er dichtete ein Klagelied auf seinen getöteten Freund Jonatan und auf König Saul. Doch am eindrücklichsten sind wohl die Geschichten von ihm am Königshof. Als Knabe noch habe man ihn an den Hof geholt, weil er so gut Zither spielen konnte. Dem schwermütigen König Saul verschaffte er so Erleichterung (1 Samuel 16,23).
Ich kann mir gut vorstellen, wie der junge und schöne David mit seiner unbeschwerten Art den alten König auf andere Gedanken bringen konnte. Die Musik brachte ihn ab von seinem Grübeln und liess ihn die Welt wieder ein wenig mit anderen Augen sehen. So etwas kann nur die Musik.

Musik ist wie ein Ventil
Überhaupt scheint David ganz aus seiner Musik heraus gelebt zu haben. Als er die Bundeslade nach Jerusalem brachte, so wird erzählt, habe er im Festzug gejubelt und getanzt: David tanzte mit ganzer Hingabe vor dem Herrn her ... So brachten David und das ganze Haus Israel die Lade des Herrn unter Jubelgeschrei und unter dem Klang des Widderhorns hinauf nach Jerusalem. Als sich seine eigene Frau darüber empörte, weil sie das unschicklich für einen König fand, verteidigte sich David, er habe für Gott getanzt und nicht fürs Publikum (2 Samuel 6,14-16).
Dieser Jubeltanz Davids erinnert auch an das Lied, das Mirjam, die Schwester des Mose sang, als die Israeliten auf ihrer Flucht aus Ägypten das Schilfmeer endlich überwunden hatten und ihre Verfolger abgeschüttelt:
Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm die Pauke in die Hand und alle Frauen zogen mit Paukenschlag und Tanz hinter ihr her. Mirjam sang ihnen vor:
Singt dem Herrn ein Lied, /
denn er ist hoch und erhaben! /
Rosse und Wagen warf er ins Meer.
(Exodus 15,20f)
Die Erleichterung über die Rettung aus Lebensgefahr macht sich Luft in Jubel, Tanz und Lied. Wie ein Ventil, das dem Überdruck nachgibt, so macht sich die ganze angestaute Angst und Verzweiflung Luft: Mirjam schlug auf die Pauke, sie tanzte und sang. Sie brachte ins Lied, was andere vielleicht nur schlecht in Worte fassen konnten.

Musik kann auch Schweres zur Sprache bringen
Eine der schlimmsten Zeiten für das Volk Israel war die des Exils. Nach der Zerstörung ihrer Hauptstadt und ihres Tempels auf dem Zionsberg von Jerusalem wurden sie ins Ausland verschleppt. Wie es ihnen dort erging, erfahren wir ebenfalls in einem Lied:
An den Strömen von Babel, /
da sassen wir und weinten, /
wenn wir an Zion dachten. /
Wir hängten unsere Harfen /
an die Weiden in jenem Land.
Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, /
unsere Peiniger forderten Jubel: /
«Singt uns Lieder vom Zion!»
(Psalm 137,1-3)
Von den Verschleppten verlangte man, Heimatlieder zu singen. Die fremde Folklore, vielleicht auch die Traurigkeit dieser Lieder, hat die Peiniger fasziniert. Auch heute noch geht die Liebe zur «Zigeunermusik» nicht unbedingt einher mit grossem Verständnis für die Probleme des fahrenden Volkes der Jenischen, Sinti und Roma. Die Israeliten aber wehren sich:
Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, /
fern, auf fremder Erde?
(Psalm 137,4)
Und trotzdem tun sie es. Im Psalm 137, der auf die Qualen des Exils zurück blickt, haben die Beterinnen und Beter eine Sprache für diese leidvolle Erfahrung gefunden. Sie, die meinten, nicht mehr singen zu können, fanden in diesem Psalm Worte, um ihre Situation auszudrücken.

Mehr als Worte sagt ein Lied
Die Harfen blieben nicht an den Weiden hängen, ja durften dort nicht hängen bleiben, wenn die Geschichte weitergehen sollte. Und sie ging weiter:
Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, /
da waren wir alle wie Träumende. /
Da war unser Mund voll Lachen /
und unsere Zunge voll Jubel.
(...)
Die mit Tränen säen, /
werden mit Jubel ernten. /
Sie gehen hin unter Tränen /
und tragen den Samen zur Aussaat. /
Sie kommen wieder mit Jubel /
und bringen ihre Garben ein.
(Psalm 126)
Auch hier ist es ein Lied, das die Erfahrung Israels zum Ausdruck bringt:
Die mit Tränen säen, /
werden mit Jubel ernten.
Und diese Erfahrung, festgehalten im biblischen Buch der Psalmen, hat seither unzähligen Menschen Zuversicht in oft hoffnungslosen und tränenreichen Situationen gegeben.
Das ist das Faszinierende an der Musik: Sie ist eine Sprache, die auch dann noch etwas ausdrücken kann, wenn Worte versagen. «Mehr als Worte sagt ein Lied», heisst es in einem bekannten Kirchenlied.
Natürlich sind es auch in der Bibel, in den Psalmen, Texte, die solche Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Aber, wie sagte mein Sohn so schön: Lieder muss man singen!
Dieter Bauer