Wir beraten

Egoismus   

Tu, was du willst

«Papa, was machst du eigentlich bei der Arbeit?» Wenn mein dreijähriger Sohn mich das fragt, dann antworte ich: ich lese mit Anderen zusammen in der Bibel. Diese Auskunft befriedigt ihn, denn wir lesen ja zuhause auch oft gemeinsam in einem (Bilder)Buch. Insofern habe ich es gut. Nicht bei allen Berufen ist es so einfach, den Kindern einen Einblick zu gewähren. Wenn Sie selber ausser Haus berufstätig sind und ihr Kind Sie auch schon gefragt hat, wissen Sie das vermutlich aus eigener Erfahrung.

Tu, was du willst!

Der spanische Philosoph Fernando Savater, der an der Universität Ethik lehrt, wurde ebenfalls einmal von seinem kleinen Sohn gefragt, was er in seinem Beruf eigentlich mache. Mit der Antwort, die ihm sein Vater damals gab, waren beide nicht recht zufrieden. Jahre später, der Sohn ist inzwischen 16, schreibt ihm der Vater einen langen Brief, in dem er noch einmal auf die Frage von damals antwortet. Fernando Savater erklärt seinem Sohn, was für ihn «Ethik» bedeutet und gibt ihm Ratschläge fürs Leben. Im Mittelpunkt steht dabei der Satz: Tu, was du willst.

Esau und Jakob

Tu, was du willst: Ist das nicht eine Anweisung zum Egoismus? Um auf diese Frage zu antworten, erzählt Fernando Savater seinem Sohn aus der Bibel und zwar die Geschichte der Brüder Esau und Jakob. Jakob, der Jüngere, hat ein feines Essen gekocht, ein Gericht aus Linsen. Esau der müde von der Arbeit nach Hause kommt und grossen Hunger hat, möchte davon essen. Sein Bruder verlangt einen Preis dafür. Esau soll ihm sein Recht als Erstgeborener abtreten. Das Erstgeburtsrecht regelt in der damaligen Kultur lebenswichtige Fragen, es geht um das Erbe und damit auch um die Verantwortung für die Zukunft der Familie. Esau entscheidet sich für das, was er jetzt im Moment will, das Essen. Er verkauft sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht. Dieser Ausdruck ist sprichwörtlich geworden.

Auch Jakob tut, was er will. Aber er denkt über sich und sein Leben in einer grösseren zeitlichen Perspektive nach. Und dazu möchte Fernando Savater seinen Sohn ebenfalls anregen. Tu, was du willst und prüfe dabei: Wie verhält sich das, was du jetzt im Moment willst zu dem, was du dir für dein späteres Leben wünschst? Was ist dir wichtiger?

Ich und Du

Esau denkt kurzfristig und er denkt allein an sich. Jakob dagegen hat auch seine Rolle und seine Verantwortung innerhalb der Familie im Blick. Familie bedeutete damals nicht einen privaten Raum innerhalb der Gesellschaft; die Familie oder Sippe war gleichbedeutend mit der gesamten Gesellschaft. Wenn also Jakob tut, was er will, dann ist er sich dabei bewusst, dass er ein soziales und politisches Wesen ist. Das ist das Zweite, was Fernando Savater seinem Sohn vermitteln will: Wir sind soziale Wesen. Einen Menschen allein gibt es nicht. Kein Mensch hat sich selbst hervorgebracht. Wir verdanken uns alle dem Ja anderer Menschen zu unserer Existenz. Von Anfang an sind wir abhängig von Anderen, die uns nähren, fördern und herausfordern. Kein Mensch lernt die Sprache des Lebens, wenn er oder sie nicht von anderen Menschen angesprochen wird. Es gibt kein «Ich» ohne ein «Du». Wer das vergisst, vergisst einen wesentlichen Teil des Menschseins. Wenn wir es nicht vergessen, erkennen wir, dass wir alle aufeinander angewiesen sind, die gleiche Würde und gleichberechtigte Wünsche haben, in erster Linie den Wunsch zu leben und uns zu entfalten. Mein Wunsch zu tun, was ich will, meine Freiheit, endet an der Freiheit der Anderen. An dieser Grenze ist Beziehung in Augenhöhe, ist wahrhaft menschliche Beziehung möglich. An dieser Grenze ist alles möglich. Der Kirchenlehrer Augustinus hat das – schon im 5. Jahrhundert – auf die Formel gebracht: «Liebe und tu, was du willst.»

Eigenverantwortung

Beziehungen in Augenhöhe fallen nicht vom Himmel. Sie zu ermöglichen und zu gestalten, ist ein lebenslanger, niemals abgeschlossener Prozess. Jede und jeder von uns trägt Verantwortung für das Zusammenleben mit Anderen. In der biblischen Geschichte ist sich Jakob –stärker als Esau – dieser Verantwortung bewusst. Aber handelt Jakob nicht trotzdem egoistisch? Er nutzt die Schwäche seines Bruders aus, überlistet ihn später nochmals und geht auch sonst einige krumme Wege. All das erzählt die Bibel im Buch Genesis ab Kapitel 25. Aber Jakob übernimmt eben auch Verantwortung für sein Leben. Das ist immer ein Risiko. Konflikte sind nicht vermeidbar, sie gehören notwendig dazu. Wer in Freiheit handelt und Verantwortung fürs eigene Leben übernimmt, macht auch Fehler, lernt dazu und ist auf Vergebung und Versöhnung angewiesen. Alle diese Erfahrung macht Jakob. Als die Konflikte mit seinem Bruder zu heftig werden, flüchtet er und geht er weg von zuhause. Viele Jahre später kehrt er zurück und stellt sich – voller Angst und Unsicherheit, aber auch kämpferisch – dem Bruder und den Konsequenzen seines Handelns.

Gottes Vorlieben

Die Botschaft der Bibel in diesen Geschichten ist klar: Jakob ist gesegnet, sein Leben, sein Handeln, steht in Beziehung zu Gott. Der biblische Gott hat eine Vorliebe für Menschen, die Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Er hat eine Vorliebe für Menschen, die tun, was sie wollen. Am Ende ruht der Segen, ruht das Wohlwollen Gottes (Gen 33,11) auch auf der Beziehung zwischen Jakob und Esau. Ihre Begegnung wird zu einer Begegnung in Augenhöhe.

Aus dem Brief Fernando Savaters an seinen Sohn ist ein Buch geworden. Es trägt den Titel «Tu, was du willst. Ethik für die Erwachsenen von morgen» und ist beim Verlag Beltz&Gelberg als Taschenbuch erschienen. Ich empfehle es sehr für Erwachsene von heute und von morgen

Peter Zürn