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Kaleidoskop   

Lässt sich die Bibel mit einem Kaleidoskop vergleichen? Auf diese Frage möchte ich mit einem klaren Nein und einem genauso klaren Ja antworten. Und ich möchte meine Antworten mit Beispielen aus den Familiengeschichten im ersten Buch der Bibel begründen; den Geschichten von Abraham, Sara und Hagar, ihren Kindern und Enkeln (Genesis 12-36).

Ein klares Nein

Die Bibel lässt sich nicht mit einem Kaleidoskop vergleichen. Kaleidoskop bedeutet wörtlich übersetzt «Schönbildseher». Es zeigt ständig neue, aber immer schöne Bilder. Das tut die Bibel nicht. Sie ist oft gnadenlos ehrlich und zeigt das, was wirklich ist. Dabei nimmt sie keine Rücksicht auf grosse Namen. Von Abraham, der als das grosse Vorbild im Glauben dargestellt wird, erzählt sie eben auch, dass er aus Angst vor mächtigen Männern seine Frau Sara verleugnet. Und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal (Gen 12 und 20). Und auch in der Dreiecksgeschichte zwischen Abraham, Sara und Hagar macht er keine gute Figur. Er drückt sich um jede Verantwortung herum. Die kinderlose Sara übergibt Abraham ihre Sklavin Hagar, damit sie so zu einem Kind kommen. Das war zur damaligen Zeit eine gebräuchliche Form der Leihmutterschaft. Nachdem Hagar schwanger wird, verschieben sich die Rollen innerhalb der Dreiecksbeziehung, Hagar beginnt auf Sara herabzuschauen. Abraham zieht sich aus dem Konflikt heraus, der eskaliert und Hagar sieht keinen anderen Ausweg mehr als die Flucht in die Wüste (Gen 16). Die Bibel erzählt eine zweite, genauso unschöne Variante der Geschichte. Nachdem Abraham und Sara doch noch der langersehnte gemeinsame Sohn geboren wird, fordert Sara ihn auf, Hagar und ihren Sohn wegzuschicken. Abraham willigt ein und tut es (Gen 21). Beide Male braucht es das Eingreifen Gottes, um Hagar und ihren Sohn vor dem sicheren Tod zu retten. Die Bibel ist also keine Schönbildseherin, sie nennt Unrecht beim Namen und verschweigt auch die Schattenseiten und krummen Wege ihrer Heldinnen und Helden nicht. Aber so werden mir Abraham und Sara erst wirklich zum lebendigen Vorbild im Glauben.

Ein klares Ja

Die Bibel lässt sich mit einem Kaleidoskop vergleichen. Bibel und Kaleidoskop funktioneren gleich: In einem Kaleidoskop befindet sich eine Vielfalt von Gegenständen mit verschiedenen Formen und Farben, die mehrfach gespiegelt werden. In der Bibel ist es genauso. Die «Gegenstände», von denen die biblischen Familiengeschichten handeln, sind vielfältig, es sind die alltäglichen Erfahrungen von Familien: von Paar- und Dreiecksbeziehungen, von erfüllten und unerfüllten (Kinder-)Wünschen, von Eltern mit ihren Kindern und von Kindern, die selbständig werden, vom Streit ums Erbe, von den Schwierigkeiten der Versöhnung und vom Umgang mit dem Alter. In diesen Familiengeschichten erzählt die Bibel davon wie Menschen Gott begegnen, wie sie ihr Leben im Licht ihres Glaubens deuten. Der Alltag von Familien ist der Spiegel, in dem sich Gott vielfältig zeigt. Und weil die Geschichten und die Menschen in den Geschichten so verschieden sind, gibt die Bibel das Bild Gottes mehrfach gespiegelt wieder. Wir erfahren nichts über Gott an sich, wir erfahren etwas über die vielfältigen Erfahrungen von Menschen mit Gott. Die Sklavin Hagar, die aus der Unterdrückung in die Wüste flieht, macht eine tiefe Erfahrung an einem Brunnen. Sie stellt sich der Wahrheit ihrer Lebensgeschichte. Die Bibel beschreibt das in einem Bild. Der Engel Gottes fragt Hagar: «Hagar, Sklavin Saras, woher kommst du und wohin gehst du?» (Gen 16.8). Der Engel schickt sie zurück zu Abraham und Sara, zurück in die Unterdrückung. Sie erkennt, dass darin ihre einzige Überlebenschance liegt. Für sie ist die Begegnung am Brunnen die Begegnung mit einer lebensrettenden Kraft, die Begegnung mit «dem Lebendigen, der nach mir schaut» (Gen 16,14). Die Bibel erzählt in dieser Geschichte eindeutig, dass Gott auf Seiten der geflohenen Sklavin steht. Die Geschichte wird in einer Gemeinschaft erzählt, für die Abraham und Sara die grossen Vorbilder im Glauben sind. Sie wirkt so als Mahnung, dass jeder Glaube, selbst der scheinbar vorbildlichste in die Irre gehen kann und sich jeder Glaube daran messen lassen muss, ob er zu Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit beiträgt.

Die Bilder In einem Kaleidoskop zeigen durch ihre Spiegelung eine symmetrische Ordnung. Ist bei aller Vielfalt und Spiegelung auch in der Bibel eine Symmetrie, eine Ordnung erkennbar? Ich erkenne sie gerade darin, dass in allen Geschichten, bei allen Erfahrungen, bei beglückenden und bei leidvollen , auf krummen und geraden Wegen, die Begegnung mit Gott möglich ist. Die Bibel erzählt davon, dass Gott «da ist», mit uns und bei uns ist, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht oder wenn die Erfahrung unserem bisherigen Bild von Gott nicht entspricht oder gar widerspricht. Und ich erkenne sie darin, dass in der Bibel erzählt wird, wie die Begegnung mit Gott dem Leben dient, wie sie neue Lebensmöglichkeiten eröffnet, unerwartete Wege erschliesst und Kräfte freisetzt.

Peter Zürn

Zu den Bibeltexten dieses Beitrags sind in der Bibelpastoralen Arbeitsstelle zwei aktuelle Materialien erschienen:

Bibelpastorale Arbeitsstelle (Hg.), Verheissung im Plural. Eine Geschichte von Abraham, Sara, Hagar, Ismael und Isaak (Gen 21). Unterlagen zum Bibelsonntag 2005, Fr. 10.00
Dieter Bauer, Christa Breiing, Peter Zürn, Auf krummen und geraden Wegen. Biblische Familiengeschichten erzählen. Reihe WerkstattBibel Band 9, Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart 2005, Fr. 21.50
Sie sind erhältlich bei: Bibelpastorale Arbeitsstelle, Bederstr. 76, 8002 Zürich, Tel. 044 205 99 60, Mail: info@bibelwerk.ch