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Joachim Kügler / Werner H. Ritter Hrsg.), Auf Leben oder Tod oder völlig egal. Kritisches und Nachdenkliches zur Bedeutung der Bibel   

Buch des Monats September 2005

Joachim Kügler / Werner H. Ritter Hrsg.), Auf Leben oder Tod oder völlig egal. Kritisches und Nachdenkliches zur Bedeutung der Bibel LIT-Verlag Münster 2005, 208 S., Pb., 19,90 € [D] / 20,50 € [A] ISBN 3-8258-8476-7

Es ist die berühmte Zwickmühle, die im «Jahr der Bibel 2003» wieder besonders deutlich geworden ist: So sehr es wünschenswert ist, dass Menschen die Bibel lesen und die Ergebnisse dieser Lektüre auch Einfluss auf unser individuelles und öffentliches Leben nehmen, so machen wir doch auch die Erfahrung des Missbrauchs. Nur allzu leicht kann die Bibel auch zur Totschlag-Waffe werden, wie zum Beispiel die Auseinandersetzungen in Israel oder der Krieg gegen die «Achse des Bösen» demonstrieren. Die Frage nach einem menschenfreundlichen Umgang mit der Bibel jenseits von totalitären Lesarten (»auf Leben und Tod») und liberalistischer Vergleichgültigung (»völlig egal´´) ist jedenfalls eine echte Herausforderung mit hoher Relevanz für Kirchen, Politik und Gesellschaft. Diese Herausforderung nehmen die Autorinnen des vorliegenden Buches in bewährt interdisziplinärer Weise auf: Das Spektrum reicht von Analysen des Umgangs mit Ketzern, Muslimen und Bibel im Mittelalter über die Frage nach einem angemessenen Verständnis «gewalttätiger Texte» in der Bibel (»Opfert ein liebender Gott seinen Sohn?», «Bibel und Gewalt») bis hin zu wissenssoziologischen Beobachtungen zur Bibel in unserer pluralen Gesellschaft. Die Beiträge sind hervorgegangen aus einer Ringvorlesung «Religion am Donnerstag» im Wintersemester 2003/2004 in Bayreuth. Die Beiträge sind deshalb durchweg verständlich geschrieben, was angesichts der anspruchsvollen Themen nicht ganz selbstverständlich ist. 
Ich möchte hier nur zwei Beiträge besonders herausheben: In seinem Beitrag 
«Opfert ein liebender Gott seinen Sohn?» (S. 85ff) stellt Werner H. Ritter die Frage, wie ein «Weihnachtschristentum» – so sieht er die heutige Religiosität – wohl mit christlichen Essentials wie Kreuz und Erlösung zurechtkomme. Da für ihn der Ausweg, die Opfer(tod)vorstellung des christlichen Glaubens einfach für passé zu erklären, nicht in Frage kommt, muss er nach heute angemessenen Ausdrucksformen suchen. Er tut dies, indem er – durchaus überraschend – moderne Opfermythen in Lebenswelt und Popularkultur aufspürt und – wie bereits 1995 der Praktische Theologe Hans-Martin Gutmann – zu dem Schluss kommt, dass der Opfermythos heute «einer der zwingendsten Mythen des Alltags» sei. Er arbeitet dann im folgenden in vorbildlicher Weise Missverständnisse auf, denen der Mythos-Begriff im populären Verständnis meist ausgeliefert ist: «unklares, unaufgeklärtes, naives Reden, das denkenden, aufgeklärten Menschen nicht mehr ansteht und ihrer unwürdig ist, ... überholt und antiquiert, unlogisch und unvernünftig.» Dem gegenüber hält er fest: «Der Mythos ist ... nicht alles – aber ohne Mythos ist in der Religion und im Leben alles nichts. Im Mythos geht es um das, worüber Menschen nicht exakt reden können, was sie aber gleichwohl nicht einfach schweigen lässt.» Oder um es mit Ludwig Wittgenstein zu sagen: «Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.» Auf diesem hermeneutischen Hintergrund geht es dann die Fragen zu den mythischen Be-Deutungen des Kreuzestodes Jesu und zu «Opfer und Leben» an. An ganz praktischen Beispielen aus der Geschichte zeigt er, dass sich die in der Artikelüberschrift gestellte Frage nicht einfach mit ja oder nein beantworten lässt, weil dies jeweils sehr verengende theologische Konsequenzen hätte, die diesem Lebensthema nicht angemessen wären. 
Ein anderer Beitrag trägt den provozierenden Titel «Warum man die Bibel nicht lesen muss» (S. 123ff). Natürlich möchte der Bayreuther Neutestamentler Joachim Kügler nicht ernsthaft vom Bibellesen abraten, im Gegenteil. Aber für ihn gibt es tatsächlich Gründe, die das Bibellesen erschweren: als «heiliger Text» will die Bibel nicht in erster Linie gelesen werden – das Kirchenlatein hat dies ja auch für die meisten lange genug verhindert -, sondern eben verehrt. Und als «kanonischer Text» dient die jeweilige Bibel – die Auseinandersetzung um die protestantische Anerkennung der Einheitsübersetzung hat dies erst unlängst wieder gezeigt – in erster Linie der Identität der Glaubensgemeinschaft, die sich darauf beruft und stellt damit – ob man das will oder nicht – die Machtfrage. «Die Sorge um die Auslegung der Bibel war (und ist) die Sorge um die Macht in Kirche und Welt» (133). Und das bedeutet, dass die Auslegung in die Hand von Experten gelegt wird, seien es die ExegetInnen an den Lehrstühlen oder das Lehramt der Kirche. Für das Bibellesen allerdings ist dies fatal: «Wenn der Textsinn vor allem mit der kirchlichen Lehrbildung – affirmativ oder kritisch – zusammenhängt, ich selbst aber mit dieser Lehrbildung nicht befasst bin, wozu muss ich mich dann überhaupt mit der Bibel auseinandersetzen?» (134) Abschliessend macht Kügler auf die positiven Chancen aufmerksam, die die – sonst meist beklagte – Individualisierung des Religiösen bieten könnte: Sie «stellt ... die, die zukünftig christlich glauben und leben wollen, vor die Aufgabe, ihr ChristIn-Sein selbstbewusst zu vertreten. Natürlich kann man sich auch weiterhin vom römischen Lehramt (oder von jemand anderem) sagen lassen, was das Wesen des Christlichen ist, aber auch diese Form des autoritätsbezogenen ChristIn-Seins ist heute und erst recht in Zukunft eine Sache der individuellen Entscheidung, die vertreten werden muss.» (135) Eine weitere Chance für das Bibellesen sieht der Autor auch dann, wenn mit den Erkenntnissen der rezeptionsästhetisch orientierten Exegese ernst gemacht wird, nämlich damit, dass der Prozess des Lesens selbst als Prozess der Sinnbildung von entscheidender Bedeutung ist, das (selber) Lesen also durch nichts (!) ersetzt werden kann. 
Für alle, denen die Bibel nicht «völlig egal» ist, finden sich in diesem Buch so viele spannende Anregungen zum Nachdenken, dass ich es nur wärmstens empfehlen kann. 

Dieter Bauer