Wir beraten

Einer für alle, alle für einen   

Robert Vorholt zur Lesung am 2. Sonntag im Jahreskreis (20.1.): 1 Kor 12,4–11, SKZ 51-52/2012

Die Christinnen und Christen in Korinth haben ihren Apostel nicht geschont. Immer wieder muss er sich auf den Weg in die Hafenmetropole machen. Wenn er selbst nicht kommen kann, schickt er einen Mitarbeiter. Oder er schreibt ein paar Zeilen, wie den Ersten Korintherbrief. Klärungsbedarf gibt es genug: Die Frage, ob christlicher Glaube und konkret gelebtes Leben zusammengehen, stellt sich je neu und je anders. Paulus versucht, Antworten zu geben. Aber das ist nicht leicht, schon gar nicht, wenn die Glaubenden untereinander zerstritten sind wie in Korinth, wo einige wenige meinen, rechtgläubiger und hoffnungsstärker als ihre Mitchristen zu sein. Nicht ohne Hochmut blicken sie auf die anderen herab und bilden angeblich elitäre Kreise. Paulus sieht das alles mit Befremden. «Prahlerei» und «Spaltung» sind ihm ein echter Graus. Also ruft er die Christen der von ihm gegründeten Gemeinde einmal mehr zur Raison. Nicht mit groben Worten, aber mit einer Argumentation, die es in sich hat. Natürlich könnte er die vermeintlich Superfrommen leichthin als Wichtigtuer abwatschen und mit erhobenem Zeigefinger den Grundsatz prinzipieller Gleichheit aller Glaubenden beschwören. Aber Paulus wäre nicht Paulus, würde er es sich so einfach machen. Seine Worte will er nicht nur in die Ohren der Menschen hineinsprechen, sondern in ihr Herz. Dazu setzt er auf die Karte der Intelligenz. Das aber bedeutet, dass er nicht den billigen Weg der Gleichmacherei wählt, sondern Unterschiede gelten lässt, indem er das Verbindende betont. Was alle Christinnen und Christen eint, ist die Tatsache ihrer gemeinsamen Berufung, die ihnen von Gott her zuteil wurde. Jetzt sind sie Kinder Gottes und als solche hineingenommen in die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Dieses Hineingenommen-Sein kann Paulus auch als ein Geschenk beschreiben, das sich in der Kraft des Geistes Gottes realisiert. Er sagt dann zum Beispiel, dass «die Liebe Gottes in die Herzen gegossen ist durch den Heiligen Geist», der den Glaubenden gegeben ist (Röm 5,5). Gar nichts anderes ist gemeint, wenn der Apostel den Korinthern schreibt, dass «ein Geist», «ein Herr», «ein Gott» «alles in allen wirkt» (1 Kor 12,4 ff.). Das ist das alle Vereinende: dass Gott Ja zu ihnen sagt. D as Gemeinsame ebnet aber das Besondere nicht ein, sondern öffnet Freiräume. Eigene, vielleicht sogar hervorragende Fähigkeiten und Begabungen sind hochwillkommen, es kommt nur darauf an, dass sie im guten Geist der richtigen Sache dienen. Paulus füllt diesen Gedanken, indem er die vielen unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten der Glaubenden theologisch unter dem Stichwort Charisma als Gabe Gottes bedenkt. In seinem Brief an die Römer resümiert er: «Wir haben unterschiedliche Charismen nach der Gnade, die uns gegeben ist» (Röm 12,6). Mit diesem einen Satz bündelt Paulus, was er in 1 Kor 12, 4–11 weit entfaltet: dass nämlich der eine Christ vielleicht über die Geistesgabe verfügt, von der Weisheit zu zeugen oder Glaubenserkenntnis zu vermitteln, die andere Christin das Charisma in sich trägt, Glaubenskraft auszustrahlen oder Kranke zu heilen. Die Charismen sind breit gestreut. Immer soll es darum gehen, anderen zu nützen (1 Kor 12,7), d. h. dem Auf- und Ausbau der Kirche zu dienen (1 Kor 14,12).

Paulus im jüdischen Kontext

Eines der Charismen, die Paulus ausdrücklich erwähnt, ist das der «prophetischen Rede» (1 Kor 4,10). Dem Apostel stehen, obgleich seine Zeit vielfältige Formen der Prophetie kannte (vgl. nur die verschiedenen bekannten und weniger bekannten Orakel der antiken Welt mit ihren Tempelpropheten), in erster Linie die Propheten des Alten Testaments vor Augen (vgl. Röm 1,2; 3,21; 11,3), die von der Bibel Israels bezeichnenderweise auch als «Geistträger» beschrieben werden (vgl. Hos 9,7; Zeph 3,4 LXX) und sogar in ekstatischer Konnotation begegnen können (1 Sam 10,5.10; 19, 20–24; Num 11,25.26 f.; 24,3 f.; Sach 13,4; Ez 3,14; 11,5; 37,1). Innerhalb der alttestamentlichen Texte stellt das hebräische Nomen «nâbî’» den Hauptbegriff für prophetische Gestalten dar. Es kann auf das Verb «nâbâ’» zurückgeführt werden, welches «verzücktes Rasen», «prophetisches Ergriffensein », «Reden in prophetischer Eingebung» oder «in verzückte Erregung geraten» meint Jörg Jeremias. So «dringt» beispielsweise «der Geist Gottes in Saul ein», sodass er «in verzückte Erregung gerät » und «zu einem anderen Menschen umgestürzt » wird» (1 Sam 10,6.9 f.). M odell gestanden hat aber vielleicht auch ein im hellenistischen Judentum vor allem durch Philo von Alexandrien vorgeprägtes (und wahrscheinlich durch die Mühlen paganer Vorstellungsmuster der Antike gegangenes) Prophetenverständnis. Philo erwähnt im Kontext der Prophetie abstrakte Begriffe wie Ekstase, Gottesschau und Manie (vgl. Her 264). Seiner Vorstellung nach bringt ein Prophet nichts Eigenes zum Ausdruck, sondern das, was ein anderer durch ihn als Medium spricht (Her 259). Letzteres liegt durchaus im paulinischen Vorstellungsrahmen, wenngleich die anti-enthusiastische Grundtendenz des Apostels, die hinter seiner Betonung von Vernunft und Selbstkontrolle steht, im Wesentlichen dominiert. Immerhin: Paulus, der nach 1 Kor 14,6 selbst über prophetisches Geschick verfügt, will wohl am ehesten sagen, dass sich der Sinn geistgewirkter prophetischer Rede nicht in der Fähigkeit zur optimistischen oder pessimistischen Zukunftsprognose erschöpfen darf. Vielmehr hat sie sich daran zu messen, ob und inwiefern es gelingt, allen Glaubenden den Willen Gottes zu erschliessen als den Weg, der zum Leben in Fülle führt, und also leidenschaftliches Sprachrohr jenes Gottes zu sein, der die Menschen liebt.

Heute mit Paulus im Gespräch

In Zeiten zunehmender Individualisierung und Pluralisierung das Gemeinsame und das Verbindende zu betonen, zählt sicher zu den grossen Erbstücken, die der Apostel Paulus uns Heutigen hinterlassen hat. Dabei geht es ihm an keiner Stelle um Uniformierung und Gleichmacherei. Stattdessen wirbt er um die Wahrnehmung und Förderung des einzelnen Menschen mit seinen Stärken und Fähigkeiten, allerdings nicht auf Kosten, sondern zu Gunsten und – mehr noch – zum Wohl der anderen. D as ist sicher ein Programm für moderne Gesellschaften und Staaten. Für Paulus ist es aber auch ein Grundrezept gelingenden Christ- und Kircheseins. «Der Weg der Kirche ist der Mensch», formulierte Papst Johannes Paul II. in seiner Antrittsenzyklika «Redemptoris Homini» (1979). Wie viel wäre gewonnen, wenn dieses Wort – in das Licht paulinischer Theologie getaucht – glaubende und hoffende Menschen weiterhin ermutigen könnte, sich mit neuem Elan hineinzubegeben in das Aufbauwerk der Gemeinschaft derer, die sich vom Gott der Liebe (vgl. 1 Joh 4,8) ansprechen und rufen und wie sie sind in Dienst nehmen lassen.