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Loskauf vom Gesetz. Heute!   

Detlef Hecking zur Lesung am Hochfest der Gottesmutter Maria (1. Januar): Gal 4,4–7

 

In Gal 4,4–7 skizziert Paulus mit wenigen Worten eine grossartige Synthese christlichen Glaubens. Er spannt den Bogen von der «Fülle der Zeit» über die göttliche Sendung Jesu, seine ganz und gar menschlich-irdische Verwurzelung (V. 4) bis zum ebenfalls gottgesandten Geist, der nun in den Herzen der Galaterinnen und Galater «Abba, Vater!» ruft (V. 6). Diese werden dadurch zu Erben der Verheissungen Israels (V. 7; vgl. Gal 4,1–3). Sohn ist nicht nur der Eine, Christus – Söhne/Kinder Gottes sind durch die Taufe (vgl. Gal 3,26–28!) auch die Menschen in den galatischen Gemeinden. Von Wilhelm Bruners, einem meiner biblisch-theologischen Lehrer, habe ich den Satz gelernt: «Theologie ist Anthropologie» – was unter anderem bedeutet: (Gute) Theologie hat immer auch die Menschen im Blick. Was und wie wir über Gott denken, glauben, sprechen, hat Auswirkungen auf unser Menschenbild und darauf, wie wir mit Menschen sprechen und was wir ihnen zutrauen. In diesem Sinne ist Gal 4,4–7 ein Beispiel für hervorragende Theologie: Das paulinische Gottesbild steht in direkter Beziehung zum Leben, Glauben, Hoffen und Beten der Menschen, an die Paulus schreibt.

Gal im jüdischen Kontext

Weil wir es in Gal 4,4–7 mit einem so beeindruckenden Kerntext christlicher Theologie zu tun haben, übersehen wir jedoch leicht, dass das paulinische Glaubensbekenntnis aus jüdischer Perspektive massive Provokationen beinhaltet. So ist, um nur einen von mehreren heiklen Punkten zu nennen, das Ziel der Sendung Jesu nach Paulus nicht nur die Gottessohn-/ kindschaft für «uns», sondern zugleich, ja sogar zuerst der Loskauf derer, die «unter dem Gesetz» sind (V. 5). Damit sind jüdische Menschen gemeint, die in der Einhaltung der Tora zu Recht die Erfüllung des Bundes mit Gott und damit auch ihrer eigenen Gotteskindschaft sehen. Die Formulierung vom «Loskauf» erinnert aber an den Loskauf von Sklavinnen und Sklaven. Hat im Frühjudentum zur Zeit Jesu oder des Paulus wirklich jemand auf den «Loskauf vom Gesetz» gewartet, weil er/sie sich darunter versklavt gefühlt hat? Der liturgische Kontext der Lesung an Neujahr/Hochfest der Gottesmutter Maria setzt hier andere Akzente, indem er positive Bezüge zum Ersten Testament herstellt. Gal 4,4–7 wird in allen drei Lesejahren mit dem aaronitischen Segen (Num 6,22–27, 1. Lesung) sowie dem Evangelium von den Hirten an der Krippe und der Beschneidung Jesu verbunden (Lk 2,16–21). Damit gerät der überreiche Segen Gottes für Israel, vermittelt durch Tora und Tempel, genauso in den Blick wie messianische Traditionen von David, der als Schafhirte in Bethlehem zum König gesalbt wurde. Hinzu kommt die offizielle Hineinnahme Jesu in den Bund Gottes mit Israel, die ja in der Beschneidung symbolisch zum Ausdruck gebracht wird. Die 1. L esung und das Evangelium geben also den Notenschlüssel vor, der auch in der Interpretation von Gal beibehalten werden sollte, wenn es nicht zu Misstönen kommen soll. D ass Paulus, der Jude, bezüglich des Gesetzes so scharfe Töne anschlägt, heisst nicht, dass er die Tora als Ganzes oder die Gesetze im Einzelnen grundsätzlich negativ sehen würde. Seine Haltung zum Gesetz hat sich vielmehr durch seine Christuserfahrung vor Damaskus einerseits und konkrete Konflikte in Galatien andererseits verändert. Paulus, der toratreue Pharisäer (vgl. Phil 3,5 ff.), hielt Jesus bekanntlich zunächst für einen falschen Messias und seine Anhänger für fehlgeleitete Jüdinnen und Juden. Das änderte sich schlagartig, als es Gott, «der mich von meiner Mutter Leibe an ausgewählt und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte » (Gal 2,15 f.). Diese zutiefst existentielle Erfahrung brachte Paulus dazu, Jesus, den ja als Gekreuzigten nach den Massstäben der Tora nicht gerade viel zum Messias prädestinierte, in neuem Licht zu sehen – und damit auch die Tora: Wenn Jesus, wie Paulus vor Damaskus erfahren hatte, trotz seines schändlichen Todes bei Gott lebte, dann musste das auch ein neues Verständnis der Tora nach sich ziehen, insofern sie einer Anerkennung Jesu als Messias zu widersprechen schien. Paulus führte diese Erkenntnis letztlich zu einer neuen Art von jesus-messianischer Mission, die die heidenchristlichen Mitglieder seiner Gemeinden nicht auf die jüdischen «identity markers» (Beschneidung, Einhaltung der Speisegesetze und des Sabbats) verpflichtete. In den Gemeinden Galatiens spitzte sich der Konflikt um die Bedeutung der Tora und ihrer Gesetze jedoch zu: Judenchristliche Missionare forderten dort eine Rückkehr zur vollständigen Einhaltung der Tora. Damit sah Paulus nicht nur sein Lebenswerk gefährdet, sondern auch die Zuwendung Gottes zu den nichtjüdischen «Völkern», die er in seiner Vision als Kern seiner persönlichen Berufung erfahren hatte (vgl. dazu auch die Auslegungen zu Eph 3 und Apg 10 auf den folgenden Seiten). Die Schärfe der Auseinandersetzung um das Gesetz, die in Gal deutlicher zu Tage tritt als im Römerbrief, in dem Paulus teilweise ähnliche Themen anspricht, ist somit auch einem aktuellen Konflikt in Galatien geschuldet. Für Paulus ist dies jedoch ein zwar scharfer, aber ganz selbstverständlich «interner» Konflikt, bei dem es um unterschiedliche Ausrichtungen innerhalb des Judentums seiner Zeit ging, zu dem sich die jesus-messianischen Gemeinden noch zugehörig fühlten.

Heute mit Paulus im Gespräch

Die Auseinandersetzung um die Tora ist für das Verständnis der paulinischen Theologie und ihre Verwurzelung im Frühjudentum seiner Zeit höchst bedeutsam. Sie gehört deshalb zu den unverzichtbaren Bestandteilen von Predigt, Katechese und Bibelarbeit in einer mündigen Gemeinde. Doch zugleich ist eine Aktualisierung nötig, die die historischtheologische Perspektive auf Fragen hin öffnet, die für unser heutiges Leben relevanter sind. Um den Charakter der internen Auseinandersetzung zu wahren, den diese Fragen für Paulus im Galaterbrief haben, bieten sich als Aktualisierung Konflikte rund um Gesetzlichkeit und Kirchenrecht in unserer eigenen Kirche an. Was könnte es für unsere Glaubens- und Kirchengemeinschaft heute bedeuten, dass Gott seinen Sohn sandte, «damit er die loskaufte, die unter Gesetz waren, damit wir die Sohnschaft e mpfingen» ( Gal 4 ,5)? Evangeliumsgemässe Freiheit und der Geist, der in uns «Abba, Vater!» ruft, stehen auch heute bisweilen in Spannung zu Normen und Gesetzen, die an sich angemessen sind, konkretem Leben aber auch im Weg stehen können. Beispiele aus der Kirche in der Schweiz gibt es dafür zur Genüge.

 

Hinweise für Liturginnen und Liturgen: Ein Einführungstext zur Lesung sowie Hinweise für den Vortrag im Gottesdienst können beim Katholischen Bibelwerk Stuttgart unter https://www.bibelwerk.de/home/sonntagslesungen?show=all heruntergeladen werden. Paulus verwendet, den Gepflogenheiten seiner Zeit entsprechend, die grammatisch männlichen Formen «Sohn» und «Sohnschaft», in denen damals, ähnlich wie bei uns bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts, (etwas) selbstverständlicher auch Frauen «mitgemeint» waren. Gerade in den paulinischen Gemeinden hatten Frauen jedoch auch führende Rollen inne. Es ist deshalb nicht nur heutigem Sprachempfinden, sondern auch der damaligen und heutigen Gemeinderealität angemessen, von «Kindschaft», «Söhnen und Töchtern» zu sprechen und die Lesung im Gottesdienst auch so vorzutragen.